Neues Buch: "Augenmenschen" von Johanna Krapf
Sie setzte einen Teddybären an ihren Platz am Tisch und
verliess das Haus kommentarlos. Als die Mutter später nachfragte,
antwortete Barbara: "Spielt es denn eine Rolle, wer auf meinem
Stuhl sitzt: ich oder ein Teddy? Ich werde ja ohnehin nicht ins
Gespräch einbezogen und kann nicht wirklich etwas dazu
beitragen."
"Natürlich gebärdete auch sie fliessend als Kind", sagt
Patrick, "heute jedoch, da sie sich mehrheitlich unter Hörenden
bewegt, hat sie sozusagen einen
›Lautsprach-Akzent‹."
Sie hat ihren Eltern verziehen und kann heute über die
schwierigen Kindheitsjahre reden und lachen. "Ja", sagt sie,
"das waren noch Zeiten." Sie ist zufrieden mit ihrem Leben und
ihren Aufgaben, ist beschenkt mit vielen Interessen und einer
wundervollen Familie. Ganz besonders liebt sie ihre Rolle als
Grossmutter. Sie geniesst es, mit den Enkelkindern zu spielen und
ihnen nach Herzenslust Märchen zu erzählen. Mit ihnen darf sie so
sprechen, wie ihr der Schnabel und vor allem die Hände gewachsen
sind!
• Die Jugendliche, die sich ausgeschlossen fühlt in der
eigenen Familie, da sie nicht mehr versteht als ihr Teddy,
• der Ingenieur und Taxiunternehmer, der aus einer gehörlosen
Familie stammt und feststellt, dass seine Schwester ein wenig die
Gebärdensprache verlernt hat und mit
›Lautsprach-Akzent‹ gebärdet,
• die Frau, die als Großmutter endlich mit ihren Enkelkindern
nach Herzenslust gebärden darf
- drei Beispiele, die wohl viele Gehörlose voll nachempfinden
können. Es sind Zitate aus dem Buch "Augenmenschen" von
Johanna Krapf. Die Autorin lässt 9 Gehörlose/Hörgeschädigte und
eine Dolmetscherin mit gehörlosen Eltern zu Wort und zu Gebärde
kommen. Dass die Autorin selbst hörend ist, spielt deshalb keine
Rolle. Was sie auswählt und die Art ihrer Darstellung bezeugen, wie
tief sie in Sprache, Lebens- und Gefühlswelt der deafies
eingetaucht ist. Die "Augenmenschen" sind eine bunte Mischung von
Lebenserfahrungen, von Jung und Alt, aus aller Welt,
verschiedenster Berufe und Bildungsgrade. Aber es gibt auch eine
Vielzahl sachlicher Informationen, von Gebärdensprache über orale
und bilinguale Erziehung, Mailänder Kongress, Gehörlosenkultur,
Diskriminierung bis hin zum CI. Ein "TAUBEN-rundum-SCHLAG" :-)
gewissermaßen, bei dem kleine Wissenshäppchen in anschauliche und
anrührende Lebensgeschichten verpackt sind. Wer als Hörender etwas
über das Leben und die Welt der Nicht- und Wenigerhörenden erfahren
möchte, wird die "Augenmenschen" mit Begeisterung lesen. Wer eher
zufällig an das Buch gerät, wird erstaunt feststellen, wie spannend
sich solch ein informatives Buch liest. Und wer als deafie selbst
betroffen ist, wird sich in vielen Schilderungen und Berichten
selber wiedererkennen. Ein Buch, das man so schnell nicht wieder
aus der Hand legt und das sicher zu den Standardwerken im
Hörgeschädigtenbereich avancieren wird.
Die "Augenmenschen" werden am 26. Februar in Zürich präsentiert.
Richtig, es ist ein schweizerisches Buch, und es ist oft die Rede
von der DSGS, der Deutschschweizer Gebärdensprache. Auch wenn die
Gebärdensprachen unterschiedlich sind - Probleme, Kultur, Identität
und Lebenserfahrungen von deafies sind länderübergreifend. Sie sind
wohl die einzige weltweite und grenzenlose Gemeinschaft. Insofern
wird das Buch auch eine länderübergreifende Leserschaft finden,
zumindest im deutschsprachigen Raum.
Übrigens auch sehenswert: der Froschkönig, in
DSGS erzählt von Pauline, die auch in den "Augenmenschen"
vorgestellt wird.