Hilfe, ich habe einen Herzinfarkt! Wo bleibt der Krankenwagen?
Der Notruf ist für Gehörlose und Schwerhörige in Europa und Amerika gleichermaßen ein leidiges Thema - wenn wir überhaupt eingeschränkten Zugang haben, dann nur durch veraltete Methoden wie Schreibtelefon und Fax. Hörende können innerhalb von Sekunden eine Antwort erwarten, wenn sie 112 wählen. Wir dagegen müssen nach wie vor wertvolle Zeit damit vertändeln, ein verstaubtes Faxgerät hervorzukramen und dann hoffen und beten, dass die 112-Leitstelle mit unserem Anruf überhaupt klar kommt. Ganz davon zu schweigen, dass Schreibtelefone und Faxgeräte nicht auf digitalen Telefonnetzen funktionieren. Also mal hoffen, dass es mit dem Herzinfarkt doch nicht so schlimm ist?
Stellt euch vor, es steht uns eine Revolution ins Haus, und keiner weist darauf hin.
Denn nicht weniger verbirgt sich hinter lapidaren Meldungen wie zum Beispiel dieser hier: "Einheitliche europäische Notruf-Nummer für alle BürgerInnen". Das Revolutionäre für Gehörlose und Schwerhörige liegt nämlich nicht so sehr in einer einheitlichen Nummer, sondern darin, dass man im zukünftigen Notruf per Video, Audio und Text kommunizieren kann - sogar gleichzeitig (siehe das Video unten).
Das Ganze nennt sich "Gesamtgesprächsdienste" - die etwas unhandliche offizielle Übersetzung des englischen Begriffes "Total Conversation" (totales Gespräch, nicht mit der gescheiterten Erziehungsmethode "Total Communication" zu verwechseln).
Total Conversation im Notruf bedeutet: Jedermann bekommt eine direkte Verbindung zur Notruf-Leitstelle und kann seine bevorzugte Kommunikationsmethode benutzen, wie zum Beispiel Text, Lautsprache oder Gebärdensprache. Oder auch Kombinationen - der Anrufer spricht und bekommt Antworten als Text. Oder liest Antworten in Verbindung mit Video und Audio von den Lippen ab. Oder tippt und bekommt Antworten in Gebärdensprache per Dolmetschereinblendung zurück. Und so weiter.
Apropos Dolmetschereinblendung: Ein weiterer Grundbaustein des neuen Notrufes ist, dass man Gespräche mit mehreren Teilnehmern führen kann. Wie im Bild oben und im Demonstrationsvideo unten zu sehen ist, sind drei Teilnehmer im Notruf: die gebärdende Anruferin, der hörende Abnehmer in der Notruf-Leitstelle, und ein Gebärdensprachdolmetscher.
Für die Barrierefreiheit ist das natürlich optimal: Die Leitstelle kann sich per Video selbst ein Bild davon machen, wie man dem Anrufer am besten hilft, und die Kommunikation ist ebenfalls sicher gestellt. Und wenn es dann mal mit dem Dolmetscher nicht auf Anhieb klappt, kann der gehörlose Anrufer immer noch direkt mit der Leitstelle per Text o.ä. kommunizieren. Alles das geht ohne Zeitverlust auf Bildtelefonen, Handys, Tablets, Computern und anderen Kommunikationsgeräten.
v.l.n.r: Arnoud van Wijk (gl, Niederlande), Dr. Christian Vogler (gl, Gallaudet), Paula Tucker (hd, Gallaudet) und Norman Williams (gl, Gallaudet) stellen Total Conversation auf einer Ausstellung in Washington D.C. zum Notruf vor. Jawohl, das ist ein Schreibtelefon im Hintergrund - die Einbindung von Schreibtelefonen in den modernen Notruf ist für Leute, die keinen Zugang zum Internet haben.
Klingt alles noch wie Zukunftsmusik? Jein. Das kommt der Realität immer näher, dank einer beispiellosen internationalen Kooperation. Die Firma Omnitor aus Schweden hat dem Konzept der "Total Conversation" zum Durchbruch verholfen - es wird von EENA (der europäischen Notruforganisation), NENA (der amerikanischen Notruforganisation), und 3GPP (der internationalen Organisation für mobile Telekommunikation) zwingend in Standards festgeschrieben. In Europa gibt es ein Projekt namens REACH 112, das den barrierefreien Notruf auf Grundlage dieser Standards getestet hat.
Zeitgleich gibt es in den USA ein neues Gesetz, das unter anderem auch ein Komitee zum barrierefreien Notruf errichtet. Die Telekommunikationsbehörde dort ist verpflichtet, deren Empfehlungen zu berücksichtigen. In diesem Komitee sind gehörlose und hörende Vertreter aus den USA und Europa, darunter auch ich selber. In den USA wird von allen Seiten jetzt mit Hochdruck an der Umsetzung des neuen Notrufes gearbeitet, und die dadurch erforderliche Angleichung der Standards für Barrierefreiheit in der mobilen Telekommunikation wird sicher auch Europa zugute kommen.
Wie lange wird das Ganze nun also noch dauern? Die Technik ist fast vollständig bereit, und wo es noch Lücken gibt, arbeitet unter anderem meine Forschungsgruppe an Gallaudet daran (siehe rechts). In den USA gehen wir davon aus, dass die ersten Einrichtungen in 4-5 Jahren bereit sein werden, dass die landesweite Anpassung aber mindestens 10-15 Jahre dauern wird. In Europa wurde der Standard erst dieses Jahr verabschiedet, was den Zeitplan dementsprechend nach hinten verschieben könnte. Vieles hängt auch davon ab, wie die Umstellung finanziert wird - sicher ein lohnendes Ziel für politische Arbeit in Deutschland.
Und in der Zwischenzeit? Da tut sich einiges zum Notruf per SMS, aber das ist ein Thema für einen eigenen Artikel.
- REACH 112 - Konferenzbesuch von Wolfgang Bachmann (DGB)
- REACH 112 - REsponding to All Citizens who need Help
- Emergency Access Advisory Committee (EAAC)
- Emergency Access Advisory Committee Report and Recommendations
Notruf in REACH 112 per Total Conversation: Demonstrationsvideo (mit deutschen Untertiteln)