Von Jens Heßmann
- Mit freundlicher
Genehmigung des Autors und der ZEICHEN-Redaktion,
aus DAS ZEICHEN, Nr. 52, S. 326 ff. -
Bringschulden
Eine "schöpferische Pause" nannte Karin Wempe das und huppelte fröhlich auf ihrem Gymnastikball herum. Sie erinnern sich, vorne im letzten Zeichen. Immerhin, links und rechts eine Grünpflanze neben dem Computer und dahinter der Blick ins Freie. Wenn ich hingegen den Blick über den Monitor hebe, begegnet mir eine Wand, die gerade mal durch ein paar Kinderzeichnungen aufgeheitert wird.
Kein Ball, keine Pflanze, den lieben Sonnenschein im Rücken und von wegen schöpferisch! Hätte ich mir vielleicht so gedacht, aber es ist das alte Lied: Nicht mal mehr fünf vor zwölf, eine unerbittliche Herausgeberin und jede Menge AbonnentInnen, die mit der Kündigung drohen. Es muß was her, Ideen können es kaum sein, was also dann?
Dabei gibt es jede Menge Bringschulden. Habe ich Ihnen z.B. jemals das schöne Raben-Bild von Wolfram Hell gezeigt? Haben Sie vielleicht vergessen, aber war versprochen. Und wahre Schätze blinzelten neulich schmollend ins grelle Tageslicht, als ich auf der Suche nach meinem Abizeugnis (das braucht man, sonst wird man weder Dr. noch Prof.) bislang ungeöffnete Umzugskisten durchwühlen mußte: Hochglanzbroschüren der Prof. Ernst Lehnhardt-Stiftung (hat Abi!), diverse Ansichtkarten mit Händen in allen Größen und Farben, eine Mitnehmkarte mit dem betörenden Spruch "Wir Frauen lieben mit unseren Ohren", ein Donald-Duck-Anstecker mit Fingeralphabetkärtchen (sicherlich passend zum DGZ-Artikel über "taubstumme" Bettlerinnen), Bild-Zeitungswerbung "Pille statt Hörgerät", eine Plastiktüte mit knallroter Hand, gestiftet von Elvira Vega Lechermann, ein Zettel, eigenhändig beim samstagabendlichen Zappen vollgekritzelt (z.B. RTL: Ein Brieftaube ist, wenn man ein taubstummes Mädchen in einen Umschlag steckt; wirklich lustig dagegen der Wetterbericht auf SAT1 mit einem zappelnden Dolmetscher im Hintergrund), eine Zeitungsmeldung über einen Vietnamesen, der 32 Jahre lang als taubstumm galt, anläßlich einer Fußoperation jedoch seine Umwelt mit den schönen Worten "Oh Mann, tut das weh" überraschte, Siegmund Freud über Taubstummheit und Hypnose (auf die dergestalt erwirkte "riesige Steigerung der Erregbarkeit von Sinneszentren" hat Ulrike Bergermann aufmerksam gemacht), Mazda-Werbung mit Schnipp-Hand, Zigaretten-Werbung mit Handzeichen (Danke, Regina!), Verkehrsbetriebe-Werbung mit genmanipulierten Händen, an denen sich zwölf Monate abzählen lassen, überhaupt jede Menge schöner Fundstücke von Beate Krausmann, Jubelposen beim Fußball etwa, ein nahostpolitischer "Dialog der Taubstummen", ein Wodkaflaschenhalsumhänger (jawohl!), ein Buchtip zum "Zeitalter des Hörsturzes" (wer’s braucht: Fax 0221/5580528), ein zweilagiges Armani-Stretch-Top, dessen Rundungen einen fantasievollen Kommentar an die Zeichensprache erinnerten ("In diesem Fall bedeutet das Signal etwas Weiches, Relaxtes und Feines. Etwa: Triff mich oben, in einer halben Stunde" – Yeah, wäre das nicht fein?), oder ein Klavierkonzert mit einem matten Dirigenten ("Den Haupteinwand gegen Radu Lupus Interpretation von Mozarts c-Moll-Klavierkonzert am Mittwoch in der Philharmonie hätte auch ein Gehörloser vorbringen können ... Lupu läßt den Bewegungsgeist Mozarts ... nur bis zum Ellenbogen an sich heran"). Der Briefumschlag ist mit einer passenden Dirigentenbriefmarke versehen, Beates Anregung sei an Frau Gehrkens weitergegeben: "Vielleicht sollte der DGB auch mal so’ne schicke Briefmarke beantragen?" Die Liste ist noch längst nicht komplett: Zum Thema "Hörsturz" hat mir vor schon einiger Zeit auch Esther Ingwers ein fröhliches Moin Moin geschickt (der gewiß passende Name für eine Hamburger Musikkneipe, wenn ich es recht verstehe: "Ask your lokal Ohrendoc" heißt es mitsamt Querschnitt durchs Ear und ziemlich English auf dem grünen Infoflieger), zudem eine bunte Ohrmassage-Karte (das braucht man am nächsten Morgen, bei Augenschmerzen ist das Ohrläppchen zu rubbeln!), von Gertrud Brause stammt mit Poststempel vom 15. Februar 1999 eine ganze dem "genialsten Werkzeug des Menschen schlechthin" gewidmete Seite aus der Rheinischen Post, Kathleen Milker war es, glaube ich, die mir einen längeren Artikel über gebärdende Affen aus der Naturzeitschrift Kosmos gab (Gorilla Kokos sensible Reaktion auf ein Erdbeben: "Verdammt verdammt Fußboden böse beißen. Schlimm Schlimm."), und Gitta Fehringer hat sich beim tonlosen MTV-Gucken gefragt, warum wohl die "Ärzte", Berliner Kultband, ihre jüngste CD-Sammlung mit der I-Love-You-Hand schmücken. Keine Ahnung, soll vermutlich "Drei Bier!" heißen. Vor ganz langer Zeit schon, ungefähr 1998 nämlich, hat mir Michaela Starke einen vor noch längerer Zeit, 1890 nämlich, veröffentlichten Aufsatz über "Taubstummenpoesie" gefaxt; Autor Leo Berg meint damit die moderne Literatur seiner Tage, die ihm gleichermaßen zwiespältig erscheint: "Auch die Taubstummensprache ist eine Kunst und sogar eine Wohlthat für diejenigen, so ihrer benötigt sind, aber eine entsetzliche Marter für die ganze übrige Welt." Einfach nicht hinschauen, möchte man den guten Herrn beruhigen, aber manchmal ist das gar nicht so leicht, z.B. im Spiegel 3/2000, in dem ein gehörloses Mädchen aus Nicaragua die Geschichte vom Elefanten Barbar erzählt (zu den aufmerksamen Spiegel-Leserinnen, die beim "linguistischen Urknall" an mich gedacht haben, gehörten noch einmal Elvira Vega Lechermann sowie Ela Wochnik). Ich-weiß-nicht-mehr-wer, im Zweifelsfall vermutlich Jochen Muhs, hat mich mit Zeitungsausschnitten über den Berliner Kulturmacher und Gehörlosenverbandschef Thomas Zander ("alles andere als stumm") versorgt, "gehörlose Musik" von Helmut Oehring wurde irgendwann mal im Berliner Prater synästhetisch dargeboten, japanische Wissenschaftler, die "Gehörlose mit aktivem Gehirn" untersuchen, und ein Musikprofessor, der sich bei einem Konzert der Smashing Pumpkins (von der Bild-Zeitung hübsch als "Baller-Kürbisse" übersetzt) einen Hörschaden zuzieht, sind mir selbst begegnet, der Spruch "Die Hand, die dem Intellekt folgt, kann Leistungen vollbringen", angeblich von Michelangelo und auf Magdeburger Plakatwänden zu lesen, hat Peter Schick zu denken gegeben, lustige Sprachspiele, von Sabine Goßner in der Süddeutschen aufgetan (die Schnecke ist zu vielem nütze, heißt es dort: "Mit Zuckerguss dient sie dem Menschen als Nahrung oder als Gehörschnecke zum Hören oder als Kopfschmuck für den weiblichen Menschen"), ein vergnügliches uigurisches Volksmärchen ("Die Stadt der tauben Ohren"), weitergegeben von Märchenleserin Kristina Mohos, eine Briefmarke, die mit weißen Händen auf rotem T-Shirt zu "Keine Gewalt gegen Kinder" mahnt, was von Gudrun Hillert einleuchtend zu "Freiheit der Hände, Freiheit für die Gebärdensprache" umgedeutet wird – es hört nicht auf, die Liste der undankbar vernachlässigten Zusender und meist –innen ist erschreckend lang, an all die anderen ungeöffneten Umzugskartons mag ich gar nicht denken. Übrigens Briefmarke: Gerade fällt mir Gertrud Brauses Brief noch einmal in die Hände, und auch der ist mit einem hübsch beziehungsreichen Postwertzeichen versehen: Kleine Kinderhand patscht in große Erwachsenenpranke, was mich schon 1999 an das "Internationale Jahr der Senioren" hätte gemahnen sollen. Ach je, wenigstens an meine Schwiegeroma hätte ich ja mal denken können.
(Wirklich nur in Klammern der Hinweis auf eine Briefmarkenquerverbindung zwischen Gertrud Brause und Beate Krausmann, der sich in Form eines Cartoons auf der Rückseite besagter Seite aus der Rheinischen Post findet: "Wieso bedroht der Mann denn die Frau mit dem Stock? – Er droht nicht, er dirigiert! – Und wieso schreit sie dann so?" Schöner noch der Cartoon daneben: Eine Gruppe von Leuten steht im Park und betrachtet, den Körper leicht nach vorne gebeugt, einen Baum. Zwei Männer gehen vorbei: "Is’n das? – Irgendeine Neigungsgruppe!" Dann ist da noch einer mit Rudolf Scharping, aber jetzt ist es wirklich genug.)
Schön dumm, werden Sie jetzt denken: Weiß nicht, was er schreiben soll, aber rattert die ganzen netten Sachen in einer lieblosen Aufzählung mit unleserlichen Klammern gespickt herunter. Ja, ja, aber wo doch Samstag ist: Kein Scanner für Handwertzeichen, Plastiktüten und Zigarettenwerbung zur Hand und keine Post bis Montag, und dann ist zu spät – was soll man tun? Da bleibt nur eins, die Flucht nach vorn, und die führt für den modernen Menschen, paradox genug – ins Netz.
Ich weiß nicht, ob man irgendjemandem noch irgendetwas über das Internet erklären muß. Für alle, die noch immer mehr zappen als surfen (die anderen dürfen bis zur nächsten Zwischenüberschrift weiterscrollen): Das Internet ist die, wie man neidlos anerkennen darf, geniale Verknüpfung von Computern, die auf der ganzen Welt vor sich hin brummen und irgendwelche teils nützlichen, teils schaurigen, häufig aber auch nur belanglosen Informationen bereithalten. Den Uneingeweihten und, wie ich vielleicht zu Unrecht fürchte, erst recht die Uneingeweihte kann eine ganze Menge Jargon schrecken (Browser hat nichts mit Limonade zu tun, ein Server bekommt kein Trinkgeld, für einen Provider braucht man kein Englisch zu sprechen usw.), aber ist man einmal entsprechend ausgestattet, dann ist die ganze Sache einfacher als Rühreimachen, wie das Vorbild des Autors bezeugt. Im Grunde braucht man nur zu wissen, daß man sich das, was irgendein Computer irgendwo auf der Welt zur Ansicht bereithält, anschauen kann, indem man eine geeignete Adresse in den eigenen Computer eintippt. Und da solche Adressen hübsch sinnfällig und merkfähig aufgebaut sind, ist das Ganze simpler als Telefonieren. Die Bild-Zeitung erreicht man beispielsweise durch Eingabe der Adresse www.bild.de, wobei "www" für das Internet bzw. world wide web und "de" für Deutschland steht, und man kann sich leicht vorstellen, was sich hinter www.bundestag.de, www.aldi.de oder von mir aus www.beate-uhse.de verbirgt. Anders als beim Telefonieren – Versuchen Sie mal, die Telefonnummer von Aldi zu erraten! – kann also schon bloßes Herumprobieren zu beachtlichen Ergebnissen führen. Nehmen wir etwa an, Sie versuchten diese Kolumne im Netz anzusteuern und gäben www.schon-gehört.de ein. Einen Augenblick, ich mach das gleich mal. Richtig, Fehlermeldung, weil "ö" ist gar zu deutsch. Zweiter Versuch mit www.schon-gehoert.de. Lustigerweise gibt es da tatsächlich etwas zu sehen, aber hat nichts mit mir zu tun: Wir sehen (zur Zeit jedenfalls) die Skyline von Manhattan bei Nacht und erfahren, daß sich "diese Seite noch im Aufbau befindet". Mir wird angeboten, den "Webmaster zu kontaktieren", sprich, demjenigen, der hier aufbaut, eine elektronische Botschaft ("E-Mail") in das dafür vorgesehene Feld einzutippen. Das mache ich denn auch gleich und frage den Netzmeister, welche unerhörten Neuigkeiten an dieser Stelle nach Abschluß der Aufbauphase zu erwarten sind. Eine vorläufige Antwort kommt prompt, da automatisch: "Dankeschön! Vielen Dank für Ihre Nachricht! Sie hören von uns." Mit Hören ist in diesem Fall fraglos eine gehörlosentaugliche Botschaft an meine dem Webmaster mitgeteilte E-Mail-Adresse gemeint. Sie dürfen gespannt sein. Doch zurück zum Rührei: Wenn man einmal irgendwo angekommen ist, wird die Sache noch viel einfacher, weil die allermeisten Internetseiten vorsehen, daß man durch bloßes Draufklicken auf dafür vorgesehene Schriftzüge, Symbole oder Bilder (sogenannten "Links", ist nicht das Gegenteil von "rechts", sondern Englisch für "Verbindung") auf weiteren Seiten desselben Computers oder auch irgendwo anders in der Welt landet. Und jenes Herumgeklicke von Computer zu Computer heißt dann eben Surfen. Bezahlt wird nach vertickerter Zeit, das kostet nicht die Welt, aber während ich noch ausrechne, was mich diese Ausgabe kostet, dürfen Sie sich ein wenig erholen. Ende des Internetgrundkurses, Teil I, und Pause.
Wie ermüdend die bloße technische Belehrung sein kann, weiß ich aus eigener Erfahrung recht gut und will Ihnen deshalb zwischendrin nun doch das von Kristina Mohos mitgeteilte Märchen berichten. In einer Stadt, "deren Bewohner samt und sonders taub waren", gehen einem Bauer drei Ziegen verloren. Er fragt einen anderen Bauern, der gerade sein Feld pflügt: "Ich besaß drei Ziegen, sie gingen mir verloren. Hast du sie vielleicht gesehen?" Der Angesprochene gerät in Aufregung: "Was willst du von mir? Dieses Feld – es reicht bis zu jenem Bewässerungsgraben – gehört mir! Ich habe es von meinem Vater geerbt!" Vor Erregung fuchtelt der Bauer bei diesen Worten mit den Armen herum und zeigt immer wieder nach dem Bewässerungsgraben. Der erste Bauer begibt sich daraufhin zu dem Graben und findet dort tatsächlich seine drei Ziegen, die einfach aus dem Stall gelaufen waren. Dem mitdenkenden Leser verrate ich kein Geheimnis, wenn ich an dieser Stelle erläutere, was die Geschichte voraussetzt: Verblendet durch jahrelanges oralistisches Training, beharren die gehörlosen Bewohner dieser Stadt, deren gebärdensprachliches Repertoire sich in bloßen deiktischen Zeigegesten erschöpft, auf der für sie gänzlich unzugänglichen lautsprachlichen Kommunikation. Wie im wirklichen Leben bleibt dies auch hier nicht folgenlos: Eine der drei Ziegen lahmt, der Bauer will sie dem anderen zum Dank, daß er ihm den Weg gewiesen hat, schenken. Der glaubt, er werde für das Lahmen der Ziege verantwortlich gemacht. Der erste wiederum meint, der andere verlange alle drei Ziegen zum Dank, sie streiten hin und her und prügeln sich schließlich. Ein Reiter kommt vorbei, jeder Bauer erzählt seine Geschichte, der Reiter glaubt, man wolle ihm sein Pferd rauben, alle drei prügeln sich und landen vor dem Richter. Der Richter hört sich ihre Geschichten an, glaubt, alle drei hätten einen neuen Mond gesehen, geht nach Hause und ordnet ein Fest an. Seine Frau meint, er wolle ihr ein neues Seidenkleid schenken, und schlägt der Tochter vor, gemeinsam einkaufen zu gehen. Die Tochter freut sich über ihre vermeintlich bevorstehende Hochzeit und fällt einer Sklavin um den Hals. Jene ist tief gerührt und dankt dafür, daß ihr nach vierzig Jahren Dienst die Freiheit geschenkt wird. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann sprechen sie noch heute.
Man kann sich nun gut vorstellen, wie so ein ahnungsloser und vermutlich selbst ziemlich schwerhöriger uigurischer Großvater beim Erzählen der Geschichte vor sich hin gekichert hat – was aber ist uigurisch und wo sollen wir die sagenhafte Stadt der Tauben suchen? Nun, wir sind damit bei Teil 2 unseres Grundkurses angelangt: Informationen im Internet suchen. Bloßes Eintippen, etwa von www.uigurisch.de, hilft in diesem Fall nicht weiter, wir brauchen eine sogenannte Suchmaschine, das ist auch wieder nur eine bestimmte Seite, hinter der jedoch ein Computer steckt, der für uns das Internet absucht. Es gibt eine große Zahl von Suchmaschinen, www.web.de ist eine, die ich mir merken kann. Das eingegeben, finden wir uns auf einer Seite wieder, die ein Feld anbietet, in das wir unser Suchwort "uigurisch" tippen dürfen. Ein Klick auf "Suchen" und nach wenigen Sekunden präsentiert uns die Suchmaschine das Ergebnis ihrer Recherche: 58 deutschsprachige Webseiten, auf denen das Wort "uigurisch" vorkommt. Schon die Namen der Webseiten geben einen gewissen Eindruck davon, was uns erwartet: Um die Kurden und Kurdistan geht es da, um eine Sammlung uigurisch-chinesischer Texte, um Turksprachen, Mongolen und Turfanforschung, ein Informationszentrum Ostturkistan gibt es, die Turkologie der Uni Frankfurt bietet sich an, chinesische Politik hat etwas damit zu tun, "leichte Wanderungen im Tien Shan, Xinjiang und im Karakorum" klingen beschaulich, das Fundergebnis "Uiguren in Xinjiang/Ostturkestan - Massenverhaftungen und Hinrichtungen" läßt dagegen nichts Gutes erwarten und "Eva Maria Neuper" ist ein wenig überraschend. Ich entscheide mich für "Die Uiguren und ihr Land Ostturkestan", klicke drauf und lande auf einer Seite (www.enfal.de/uigur.htm) mit einem langen Text von Ömer Kanat, dem, wie zu lesen ist, Präsidenten des Weltkongresses der Uigurischen Jugend und Generalsekretär der Ostturkischen Union in Europa e.V. Kanat erklärt es uns:
"Die Uiguren sind ein altes Turkvolk. Sie leben in Ostturkestan - dem autonomen Gebiet Xinjiang in der Volksrepublik China. Das Heimatland der Uiguren - Ostturkestan - liegt im Herzen Asiens. Im Nordwesten grenzt es an Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan, im Nordosten an die Mongolische Volksrepublik, im Süden und Südwesten an Afghanistan, Pakistan, Indien und Tibet und im Osten an China."
Lesen wir weiter, dann erfahren wir etwas über eine reiche eigenständige kulturelle Tradition der Uiguren, die brutale Unterdrückungspolitik der Chinesen und den Widerstandskampf des uigurischen Volkes, und dürfen schließlich dem Internet und Kristina Mohos dafür danken, daß sie uns ein wenig schlauer gemacht haben.
Vermutlich möchten Sie jetzt noch gern wissen, was Eva Maria Neuper mit uigurisch zu tun hat. Ein Mausklick bringt uns zu einem Gemälde (1997, Acryl auf Leinwand), auf dem 8 Buchstaben aus 8 Schriftsystemen das Wort "getrennt" bilden. Uigurisch steuert das erste N bei, und künstlerisch sollen hier über sprachliche Grenzen hinweg neue Perspektiven interkulturellen Denkens eröffnet werden. Sollte Ihnen das nach Betrachten der hier beigegebenen Abbildung unklar bleiben, dann schauen Sie sich die schönen Webseiten selbst an (www.t0.or.at/~eneuper) oder schicken Sie unter eneuper@t0.or.at ein E-Mail an die österreichische ("at" für Austria) Künstlerin. 1998 hat Frau Neuper übrigens ein Schriftzeichenbild mit dem Titel HORIZONTE (Estrangelo, Mexikanisch, Altägyptisch, 2x Mongolisch, Lateinisches Z, Mandäisch, Mayreb und Gudzaratisch) für eine Aktion "Kunst hilft Behinderten" gestiftet. Manchmal ist die Welt so vernetzt, daß es kaum zu glauben ist. Ende des Grundkurses.
Eva Maria Neuper, GETRENNT mit Uigurisch etwas rechts oberhalb von der Bildmitte
GehoerlosNachdem sich die einen von den anderen, die – Strafe muß sein! – ein Märchen verpaßt haben und immer noch nicht wissen, was uigurisch ist, nicht länger einschüchtern lassen und keiner mehr glaubt, daß man 10 Semester Informatik studiert haben müsse, um freihändig im Internet zu surfen – nun also kann es losgehen. Wir bleiben bei www.web.de und geben ein naheliegendes Suchwort wie "gehoerlos" ein. Der erste Versuch ist ernüchternd: Eine einzige kümmerliche Verbindung wird angezeigt und die führt ausgerechnet – zum Deutschen Schwerhörigenbund (www.schwerhoerigkeit.de).
Klicken aufs Ohr geleitet durch instruktive, wenn auch schnörkellose Seiten, die über Hörgeräte, CIs und Absehkurse informieren – aber wollten wir das? Zurück bei www.web.de stellen wir fest, daß sich die Suche von "im Verzeichnis" auf "dt. Websites" erweitern läßt, was für dasselbe Suchwort einen sprunghaften Anstieg auf 360 Fundstellen bewirkt. Die nochmalige Erweiterung auf "weltweit" ergibt 414 Funde. Wir probieren es spaßeshalber noch einmal in umgekehrter Reihenfolge für das Suchwort "deaf": Die weltweite Suche wirft beeindruckende 307.225 Seitenhinweise ab, aber auch im deutschen Internet finden sich immerhin noch 2.575 Verweise, während die Verzeichnissuche allein zu den "Deaf-Biker-Seiten" (www.deaf-biker.de) führt, die dann wiederum zu den Drachen in Bremen (www.deaf-dragon.de), den Pittbulls in Osnabrück (www.pitbull98.de) und den "Deaf Biker Friends Sauerland" weiterleiten. Ich gebe zu, "Gehörlose Motorradfreunde Sauerland" klänge ziemlich uncool. Auf geht’s, jede Menge Bikertreffen diesen Sommer mit Attraktionen für Körper ("Tattoo"), Seele ("Jubiläumsbier") und Auge ("Strip-Show"). "Come, see and do with!" – Wir wünschen eine "schrott&bullenfreie An- und Abfahrt".
Wir anderen, die wir zu Fuß durchs Netz surfen, gehen derweil noch einmal zu den vielversprechenden 360 Fundstellen für "gehörlos" auf deutschen Internetseiten zurück. Die erste Fundstelle ist gleich ein wenig kompliziert und gehört zu den Dingen, die man sich von deutlich jüngeren Menschen erklären lassen sollte. www.ocram.de/forum/index.html bietet ein "Ersatzforum für Notfall-Gehoerlos.de"; auf die Gefahr hin, mich zu blamieren, versuche ich mich mal an einer Deutung: Chatten ist die Internetvariante des guten alten Plauderns, ein Austausch von Botschaften also, im Prinzip so etwas wie E-Mail, nur daß hier öffentlich (daher: "Forum") geplaudert wird. Weil jeder mitlesen kann, legen sich die chattenden Teilnehmer meist coole Pseudonyme ("deine Nickname") zu und heißen DeafFLY, Sadeaf, Cafegirl, GLLars, Britney Spears oder auch Manfred Kaltenhauser. Macher Marco erklärt den Sinn des Ersatzforums (22:39:40 26/7/99): "Hallo, wir haben hier schnell eingerichtet, damit viele Gehörlose bei gl.de bei über 2-3 Tage Ausfall nicht leiden müssen !!!! Ich hoffe, daß ihr hier auch gefällt. Dies ist ja nur ein Notfall-Forum gedacht ;-)" Tatsächlich scheint Marco recht zu haben: Bei www.gehoerlos.de tut sich gegenwärtig jedenfalls nichts. Aber das Ersatzforum ist seinerseits offenbar auch schon wieder total out. Auf der Suche nach aktuelleren Szenegründen landen wir über http://deafcafe.istcool.de beim Deaf-C@fe ("The crazy forum on the World!!!"). Die freundliche Aufforderung, mich anzumelden ("You are anonymous, please register"), ignoriere ich und schau mal, was es heute Nacht an Neuigkeiten gegeben hat. Um 00:05 Uhr etwa macht sich Killer Hannibal_Lecter (registriert seit 17 Tagen, bisher 43 Beiträge) ernsthafte Sorgen um die Jugend von heute: "Schon heute sind 11jährige kriminell und schlagen/bedrohen anderen Jugendliche.... Wie kommt es zur dieser Kriminälitat??? Wegen Videos oder Filme....?????" MONSTER#41 Moses (166 x in 18 Tagen) antwortet fünf Minuten später nicht unplausibel: "Klar wegen dich Hannibal Lecter! Menschenfresser!!!!!!!!!!!!!! Folge werden in Deutschland die Jugendliche die Interesse an Kriminalität. Für mich ist nicht ängstlich." Wiederum vier Minuten später stimmt Banani Banani (seit 36 Tagen mit 203 Nachrichten dabei) zu, schimpft auf die schlechte Erziehung der Eltern und schließt versöhnlich: "Ich hoffe, die Kinders und Jugendlichens Verhatlen werden besser." Überhaupt ist Banani ein ganz Lieber, der auf eine Anfrage von Gisela (78 "postings" in 66 Tagen: "Ist Muttertag eine gute und sinnvolle Sache oder soll man es abschaffen????") bekennt, seiner Mami einen Gutschein für ein Buch schenken zu wollen ("Ich mache vielleicht morgen schöne Frühstück für meine Familie"). Extrema BlackPhantom (85/10) gesteht seine Begeisterung für Lego ("Wenn ich Zeit habe, baue ich daraus was tolles, sodaß meine Frau davon beeindruckt ist"), Homeboy (251/17) findet, es sei Zeit für ein RTL-Gehörlosen-Big-Brother, Mercedes (134/13) möchte wissen, welcher Gehörlose die 100-Meter in unter 12 Sekunden schafft, LemonTrees (228/48) Beitrag führt zu einer engagierten Diskussion über Bewerbungen ("Ich selbst habe ca. 30-40 Bewerbung gemacht, aber trotzdem erfolglos......Scheisswelt von Hörende....... würde gerne die Gehör von Hörende kaputtmachen und dann sehen, wie sie sich verhalten..."), "Wohin ins Urlaub?" fragt Glasauge (68/22), Butterfett (306/55) ist ein Ferkel und Tweetyfly hat es nicht nur auf beeindruckende 663 Beiträge in knapp sieben Wochen gebracht, sondern auch die mit 45 Reaktionen längste Diskussion über die ewig aktuelle Frage "Bayern oder Bayer" angestoßen.
Soviel in Kürze zu Fundstelle 1 von 360, und in dem Tempo dürfte ich bis Weihnachten ungefähr bei Fundstelle 217 angekommen sein. Darüber freut sich der Provider, nicht jedoch die geschätzte Herausgeberin dieser Zeitschrift, und es bedarf im folgenden einiger krasser Abkürzungen. Die zweite Fundstelle dürfen wir Menschen mit ausgeprägt christlich-evangelikaler Orientierung überlassen (www.cgg.deaf.ch). Die dritte (www.b-movie.de) ist ein wenig rätselhaft, bis wir auf einen monatlichen Kinotreff für Gehörlose, Schwerhörige und Hörende stoßen.
Nummer
4 (www.kestner.de)
gibt mir Gelegenheit, endlich einmal auf Karin Kestners schöne CD-ROM "Tommys
Gebärdenwelt" hinzuweisen: Tommy Zander ("alles anderes als stumm"
eben) zeigt hier viele nützliche Gebärden, das Ganze ist hübsch kindgerecht
gestaltet und kostet rund einhundert weniger kindgerechte deutsche Mark, von
denen Frau Kestner allerdings bestimmt nicht viel übrig behält (bestellbar am
genannten Ort).
In Zeitnot geraten, lasse ich die Systematik hinter mir und surfe direkt zu einer der großen Sammelstätten und Weggabelungen im deutschen Gehörlosennetz: www.taubenschlag.de, initiiert von Bernd Rehling, wenn ich das recht sehe, und inzwischen von einem größeren Team von Hörenden, Schwerhörigen und Gehörlosen betrieben.
Mit dem Namen ihrer Site geht es den Machern vermutlich wie mir: Wenn man sich mal auf etwas festgelegt hat, wird man es schwer wieder los. Ziemlich bemüht liest sich das dann:
"Taubenschlag - Ein Zuhause für die Tauben. Sie gehen hinein und fliegen weit weg, aber sie kommen immer wieder. Das Wort Taube hat zwei Bedeutungen: 1. der Vogel - die Taube, 2. die Gehörlose(n), die tauben Menschen. Tauben lieben den Frieden. Sowohl die Vögel als auch die Gehörlosen. Wenn sie aber unterdrückt werden, dann könnten die Gehörlosen auch mal zum Tauben-Schlag ausholen."
Au, Backe, das gibt Zahnschmerzen, und klingt so, als käme die RTL-Brieftaube gelegentlich auch mal vorbeigeflattert. Immerhin, die Militanz bleibt sanft konjunktivisch abgefedert, und das mit den friedlichen Tauben würde gewiß auch Banani Bananis Mutti bestätigen. Doch sei es drum, macht gar nichts, eine riesige Fund- und Stöberstube haben die Taubenschläger da ins Netz gestellt, die sich in vielerlei Himmelsrichtungen verzweigt und zum Ausgangspunkt für so manche Reise in die weite Internetwelt werden kann. Solch bildreiches Lob läßt den "Arsch mit Ohren" dieses eine Mal hoffentlich noch an mir vorübergehen (www.taubenschlag.de/kultur/amo). Im übrigen bin ich mir gerade selbst begegnet und stelle fest, daß ich "Taubenschlag" bei anderer Gelegenheit noch als Eindeutschung von "Deaf Power" habe durchgehen lassen. Ziemlich hintersinnig manchmal, dieser Heßmann.
Es wäre nun schön, das Abbrechende noch irgendwie zu runden. Wie wäre es mit folgendem Taubenschlag-Witz:
Erster alter
Mann: "Mein neues Hörgerät hat $3000 gekostet."
Zweiter alter Mann: "Wow!"
Erster alter Mann: "Ich weiß, aber es ist eines der besten, die es gibt."
Zweiter alter Mann: "Was für eins ist es denn?"
Erster alter Mann: "Halb fünf."
Nein? Sie fühlten sich nicht an Uigurien erinnert? Na schön. Doch kann ich diese frühlingssanfte Kolumne nicht mit der trostreichen Aussicht auf mindestens 355 weitere Webseiten beschließen, ohne auf zumindest eine weitere Seite hinzuweisen: Das Zeichen gibt es online unter
www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/startseite/zeichen.start.html – bisher allerdings nur im mäßig interessanten Überblick. Doch das wird sich nach diesem öffentlichen Hinweis sicherlich auch bald ändern. Wir fordern: Neuer Gymnastikball für Karin! Bis zum nächsten Mal in dieser oder jener Welt ...