Ein typisches Frauenbuch? Das zumindest meinte meine Frau auf den ersten Blick, als ich Claire Winters "Die Schwestern von Sherwood" auspackte. Ja, sieht auch ganz danach aus, mit Efeuranken, lila Blüten, handgeschriebenem Brief und einem alten englischen Herrenhaus in der wunderschönen Landschaft Südenglands auf dem Umschlag. Und dann noch eine Lovestory in der englischen High Society - klingt alles nach Rosamunde Pilcher. Ist es aber nicht, und auch wenn es gewisse Ähnlichkeiten gibt, gibt es doch gravierende Unterschiede. Zum einen spielt der Roman nicht nur im England des 19. Jahrhunderts, sondern auch im Berlin nach dem zweiten Weltkrieg, und zum anderen hat die Autorin sich in eine für die meisten Leser völlig unbekannte Welt hineinbegeben, in die Welt der Gehörlosen.
Eine der beiden Romanheldinnen, Amalia, erkrankt in früher Kindheit an Scharlach und ertaubt. Die Taubheit ist der rote Faden, der sich durch das ganze Buch hindurchzieht. Die Autorin hat sich in die Sprache und Kultur der Gehörlosen hineingelesen und auch persönlich hineinbegeben, indem sie Gebärdenkurse besuchte und Kontakt zu Gehörlosen aufnahm. Bemerkenswert, wie tief sie in diese Welt eingetaucht ist! Sie lässt ihre LeserInnen nachempfinden, wie es ist, wenn man nichts hören kann. Sie zeigt aber auch auf, was man statt dessen gewinnt!
Obwohl Amalia erst im Alter von 6 Jahren spätertaubt, verlernt
sie das Sprechen. Ihr Artikulationslehrer (so dargestellt, wie ihn
viele Gehörlose in Erinnerung haben: gewalttätig, mit Mundgeruch
usw.) ist eher zum Abgewöhnen. Amalia weigert sich strikt, Sprechen
zu lernen. Statt dessen lernt sie die Gebärdensprache, und nachdem
sie mit einer jüdischen Bankiersfamilie nach Berlin ausgewandert
ist, wird sie die Gouvernante des tauben Sohns der Familie. Ein
krasser Gegensatz: Amalias eigene Mutter hatte die Taubheit der
Tochter nur als Makel empfunden und letztlich abgelehnt, Frau
Finkenstein dagegen stopft sich Wachs in die Ohren, um zu fühlen,
wie es für ihren Sohn sein muss. Und sie stellt eine taube
Gouvernante ein, die voller Empathie ist für ihren Sohn. Ein
Plädoyer für taube Lehrer!
Um noch einmal auf das "Oralismus-Ekel" zurückzukommen: Mr Beans
verplempert nicht nur die Zeit mit letztlich nutzlosen
Artikulationsübungen, er versucht auch, sich an Amalia zu vergehen,
und als er sie in London wiedertrifft, will er sie vergewaltigen.
Einen Journalisten, der ihm auf die Schliche gekommen ist, stößt er
von den Klippen ins Meer und wird letztlich wegen Diebstahls
entlassen. Bei allem Widerwillen gegen Oralisten - das ist wohl
doch ein wenig zu dick aufgetragen.
Melindas Mutter wuchs im Haus der englischen Bankiersfamilie
Finkenstein in Berlin auf. Sie wurde zusammen mit den anderen
Kindern, die für sie wie Geschwister waren, von einem englischen
Hauslehrer unterrichtet. In der Familie Finkenstein wurde nur
Englisch gesprochen. Ihre Mutter, Amalia, hat mir ihrem Zögling
Jacob natürlich gebärdet, wie überhaupt die ganze Familie
Finkenstein die Gebärdensprache erlernt hat. Melindas Mutter muss
also zwangsläufig auch die Gebärdensprache erlernt haben - sie ist
dreisprachig aufgewachsen! - aber sie hat Gebärden in der
Öffentlichkeit gemieden und sich offensichtlich ihrer tauben Mutter
geschämt. Auch die CODA-Problematik kommt also in diesem Buch zur
Sprache.
Wer gerne ausgiebige und gefühlvolle Beschreibungen von
Landschaften und Personen liest, ist mit den "Schwestern" gut
bedient. Die bekommt er bzw. sie "satt": fast 600 Seiten! Durch die
Irrungen und Wirrungen von Lovestories in Devon und Berlin und die
damit verbundenen Beziehungsgeflechte - immerhin geht es um vier
Generationen - muss man sich schon hindurchhangeln. Aber so ganz
nebenbei bekommen "Ahnungslose" so einiges mit, was Hörgeschädigte
betrifft. Das kann man schon in Foren wie
buechertreff.de verfolgen, wo LeserInnen verwundert über ihre
Einblicke in die deaf world berichten und mit der Autorin darüber
diskutieren. Und um die anfangs gestellte Frage nach dem
"Frauenbuch" zu beantworten: Ja, aber eines mit Tiefgang. Der
Schreibstil ist unverkennbar der einer Frau für Frauen. Was aber
nicht bedeutet, dass es NUR für Frauen geeignet sei. Sowohl die
historischen Hintergründe als auch die Einblicke in die Welt der
Tauben - genau genommen eher überwiegend der Spätertaubten - sind
für Männer nicht weniger interessant als für Frauen. Und wer es
gerne weniger romantisch hat, kann die "Schwestern" auch als eBook
für den kindle bekommen - und "männlich-zielstrebig" ;-) mit Hilfe
der Suchfunktion von einer wichtigen Textstelle zur nächsten
weiterhüpfen. ;-)
Fazit: Ein Buch, in dem Frauen schmökern und schwelgen können, das
ansonsten aber auch sehr sachliche Hintergründe aufzeigt.
Betroffene, also selbst Hörgeschädigte, werden den historischen
Roman aus ihrer Welt mögen, "ahnungslose" Hörende werden an vielen
Stellen aus dem Staunen nicht herauskommen.
Kaufen/bestellen können Sie das Buch im Buchhandel oder hier, eine Leseprobe finden Sie hier.
Trailer zum Roman: Claire Winter - »Die Schwestern von Sherwood« (historischer Roman)