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"Die Teilnahme Gehörloser an der Informationsgesellschaft" ist das Thema dieses Euro-Workshops. Und offensichtlich ist es gelungen, die kompetentesten Referenten aus ganz Europa einzuladen. Es sprengt jedoch das Fassungsvermögen, an zwei vollen Konferenztagen insgesamt 30 Referenten zu hören bzw. zu sehen – wobei das Hören ausnahmslos in englischer Sprache stattfand. Der Versuch, zwischendurch einfach einmal auszuweichen, erwies sich als nicht realisierbar – die Referate waren schlicht zu interessant und zu wichtig. Für diesen Bericht läßt es sich jedoch nicht vermeiden, daß lediglich Tendenzen aufgezeigt und einzelne Beispiele herausgepickt werden.
Wen verwundert es noch, daß Gehörlose aus allen europäischen Ländern die Anerkennung ihrer Gebärdensprachen fordern, daß sie an den Fortschritten der Informationsgesellschaft nicht nur als Konsumenten, sondern aktiv teilnehmen wollen, daß sie mehr Mittel für Forschungsprojekte im Bereich der Gebärdensprachforschung fordern usw. ? Aber wer weiß schon, daß es eigenständige Gebärdensprachen im flämischen Belgien und im wallonischen Belgien gibt? Und wie kommt es, daß ausgerechnet kleine und exotische Länder wie z.B. Island verblüffende und oftmals richtungweisende Projekte vorweisen können?
Bleiben wir bei Island. Da gibt es doch tatsächlich ein Zentrum für die Kommunikation Gehörloser. Und die Leiterin dieses Instituts hat einen Sohn, dessen Freund programmieren kann. Und schon wird ein Programm für Gehörlose entwickelt, von dem sich andere Softwarehersteller eine Scheibe abschneiden sollten. Es handelt sich um ein Programm, in dem Gebärdensequenzen und Text einander zugeordnet werden. Nun ist das noch nichts Besonderes. Das machen schließlich alle Gebärdenlexika auf der ganzen Welt. Nur ist dieser isländische "Gebärdenschmied" rundum flexibel und offen für alle Veränderungen. Die Menüs lassen sich in jede andere Sprache von Laien übersetzen. Was aber viel wichtiger ist: Es gibt einen Editor und einen Player. In den Editor kann man beliebig Filme oder Bilder und Texte eingeben, die man dann miteinander verknüpft. Nicht vorgefertigtes Konsumgut, sondern die Anregung zu eigener Kreativität! Lehrer oder Eltern können ganz nach Bedarf eigene Lernsequenzen zusammenstellen. Und Kinder selbst können ihre kombinierten Lautsprach- und Gebärdengeschichten entwickeln. Eine ausgesprochen vorbildliche Lernsoftware, die dort im entlegenen Island entwickelt worden ist.
In Finnland wird ein Institut zur Entwicklung multimedialer Projekte von einem Gehörlosen geleitet. Das Motto der Finnen "Warte nicht, bis andere etwas für Dich tun!" wird dort mit "Sisu", der sprichwörtlichen finnischen Zähigkeit und Durchhaltekraft, in die Tat umgesetzt. Gebärdenbücher, Videos, CD-ROMs werden erstellt, Studenten ausgebildet und Projekte anvisiert, von denen andere noch nicht zu träumen wagen: eine "European Deaf University" etwa oder eine "Virtual Schoool". Daß das Bedürfnis nach Telelernen bei Finnen, die im hohen Norden weit entfernt von der nächsten Schule leben, besonders stark ist, leuchtet ein. Aber ist das nicht ein grundsätzliches Problem aller Gehörlosen? Sicherlich sollte man diese Impulse auf europäischer Ebene aufnehmen und versuchen zu realisieren.
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Gesprochene Sprache in Text umwandeln, dazu sind Texterkennungsprogramme hilfreich. Die gibt es mittlerweile allerorten zu kaufen und nehmen die mühselige Arbeit des Maschineschreibens ab. Ein italienisches Projekt zielt darauf ab, diese Technologie für Hörgeschädigte nutzbar zu machen. Der Redner spricht, und automatisch wird das Gesprochene als Untertitel auf eine Leinwand projiziert. Wenn es denn wirklich funktioniert, eine großartige Idee. Hätte der hörende Referent in seinem Papier nur nicht geschrieben, daß dadurch Gebärden überflüssig würden. Das war zwar nicht so abwertend gemeint, wie es aussieht, zog aber verständlicherweise den Unmut der gehörlosen Teilnehmer auf sich. Hintergrund dieser Äußerung ist die Tatsache, daß der Sohn des Referenten integriert beschult wird, wie inzwischen wohl die Mehrheit der gehörlosen Kinder in Italien.
Eine Lehrerin aus Italien begründete den Ursprung ihres Projekts sinnigerweise damit, daß aufgrund der integrierten Beschulung der gehörlosen Kinder der Bildungsstand so niedrig sei, daß sie sich genötigt sah, ein besonderes multimediales Lehrwerk für den Englischunterricht zu entwickeln. Not macht halt erfinderisch, und wenn es Kommunikations- und Bildungsnotstand gehörloser Kinder sind! Entstanden ist ein Lehrwerk, das auf der italienischen Gebärdensprache basiert (irgendwo müssen die integriert beschulten Kinder sie also doch wohl lernen) und als Zweitsprache Englisch vermittelt. In Filmsequenzen geht es um Themenbereiche, die von Landeskunde in bezug auf Großbritannien und - ganz gezielt! – der Deaf World handeln. Gehörlose Jugendliche, deren Kenntnisse in der italienischen Lautsprache nicht ausreichen, lernen also über die Gebärdensprache Englisch. Eine großartige Idee dieser italienischen Lehrerin, und mit Sicherheit ein Werk, das zu Recht mit Mitteln der EU unterstützt wird. Sie selbst wirft aber natürlich auch die Frage auf, warum nicht bereits beim Erwerb der italienischen Sprache auf der Gebärdensprache aufgebaut wurde.
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Für die Schweden keine Frage. Die Tatsache, daß es in dem kleinen Land Schweden überproportional viele gehörlose Akademiker gibt, wird ganz klar mit der bilingualen Erziehung begründet. Wichtige Voraussetzung ist natürlich der frühzeitige Einsatz der Gebärdensprache als Primärsprache, also schon im Kleinkindalter, sobald die Gehörlosigkeit diagnostiziert ist. Die hörenden Eltern werden natürlich intensiv auf die neue Situation vorbereitet und in der Gebärdensprache unterrichtet. Auf die Frage: "Was, wenn die Eltern sich weigern?" reagiert die Referentin nur mit Erstaunen. Mit dieser Frage hat sie nicht gerechnet. Das kommt einfach nicht vor.
Konsequent auch die Forderung eines finnischen Referenten, nicht mehr die Begriffe "Sonderschule" und "Sonderpädagogik" zu benutzen. Sicherlich gebe es auch unter den Gehörlosen Kinder, die der Sonderpädagogik bedürften – wie unter den Hörenden auch. Allgemein solle man aber lieber den Begriff "Gebärdensprachschule" benutzen.
Deutschland war mit drei ReferentInnen vertreten. Ute Fröhlich stellte als BHSA-Vertreterin die Studiensituation gehörloser StudentInnen in Deutschland dar, Michaela Klamann berichtete über ein Pilotprojekt zum Einsatz von Bildtelefonen und Bernd Rehling stellte die deutsche deaf site Taubenschlag (http://www.taubenschlag.de) und das Projekt NILI (http://www.taubenschlag.de/nili) als Impuls für Bildungsangebote im Internet vor. (Diese drei Referate lassen sich vom Workshop-Server, s.u., abrufen.)
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Eine Minderheit, zu deren Merkmalen es gehört, daß sie weit verstreut lebt, kann aus einem engen Zusammenhalt per Konferenz, Workshop, aber auch per email und Internet, nur profitieren. Es ging durchaus nicht nur um das Wiederkäuen altbekannter Parolen, sondern konkret um Überlegungen, wie man die gemeinsamen Ziele denn erreichen könne. Es gibt zwar die European Union of the Deaf, die aber lebt nur von den Beiträgen und der Mitarbeit der Mitglieder. Ein Appell also an alle Verbände, die EUD tatkräftig zu unterstützen. Und noch etwas kann als Resultat dieser Tagung festgehalten werden: Menschen, aber auch Institutionen, die glaubten, mit ihren Ideen oder Projekten allein auf weiter Flur zu stehen, stellen plötzlich fest, daß andernorts in der gleichen Richtung gearbeitet wird. Man tauscht Gedanken und Erfahrungen aus und kommt sich näher. Bleibt zu hoffen, daß diese Kooperation fortgesetzt wird. Was angesichts der Teilnahme an der Informationsgesellschaft – die zumindest für die Teilnehmer des Workshops in vollem Umfang zutrifft – kein Problem sein dürfte. Man darf also gespannt sein, ob dieses ganz und gar reale Seminar sich auf der virtuellen Ebene fortsetzen wird, ob kleine nationale Projekte durch das Zusammenwachsen auf internationaler Ebene an Durchschlagskraft gewinnen und ob Träume verwirklicht werden.
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Eine ganz konkrete Folgeerscheinung des Workshops ist die Einrichtung einer mailing-list. Die Teilnehmer diskutieren Themen wie teleteaching und neuerdings auch die Vorbereitung einer "European Deaf University" (geschrieben wird in Englisch). Es gibt spezielle Seiten mit von den Teilnehmern beigesteuerten Lesezeichen, und in einem Archiv kann man alle mails der Gruppe nachlesen. Wer teilnehmen möchte, kann sich bei http://www.onelist.com einschreiben und anschließend Mitglied bei EUDmail werden. Und wer vorab eine mail an die Gruppe schreiben möchte, schickt sie an EUDmail@onelist.com.
Das Klagenfurter Workshop-Team hat eine spezielle Website für das Workshop erstellt: http://www.uni-klu.ac.at/groups/spw/gs/eu-workshop/ . Dort findet man auch Teilnehmer- und Referentenlisten und eine Auswahl von Referaten. Und wenn man schon gerade durch Österreich surft, sollte man die Maulwurfshügel des Gehörlosenservers Klagenfurt gleich mit besuchen: http://deaf.uni-klu.ac.at/deaf/index.shtml . Sieht so aus, als dürfe man nicht nur vom Workshop, sondern auch von Klagenfurt noch einige zukunftsweisende Impulse erwarten.