"Auf keinen Fall lasse ich meinem Kind ein CI einsetzen!" Diesen Satz höre ich immer wieder von ehemaligen gehörlosen Schülern und Schülerinnen. Und diesen Satz bekommen auch die HNO-Ärzte zu hören, die ihnen immer wieder zum CI raten. Und sie in die Rolle von Rabeneltern drängen, die ihren Kindern die Zukunft verbauen, da sie ihnen den Weg in die Welt der Hörenden und damit Bildungschancen verstellen. Eltern, die sich GEGEN das CI entscheiden, geraten unter massiven Rechtfertigungsdruck.
"CI-Befürworter ins KZ!" Solche und ähnliche Sprüche kann man in Diskussionsforen Gehörloser gelegentlich lesen. Für Hörende nicht nur geschmacklos und überzogen, sondern vor allem unverständlich. Wenn es denn eine Möglichkeit gibt, das traurige Schicksal der Taubheit zu überwinden, warum wehren sich Gehörlose dann so vehement dagegen?
Die Gründe sind vielfältig. Zum einen empfinden Gehörlose ihr Los nicht als bemitleidenswert. "Gehörlosigkeit ist keine Behinderung, sondern eine Andersartigkeit, wie z.B. rote Haare." Dieser Satz eines gehörlosen Freundes hat auch mich anfangs verblüfft. Aber er trifft genau ins Schwarze. Gehörlose empfinden sich als sprachliche und kulturelle Minderheit, und sie verlangen die Anerkennung ihrer Sprache, ähnlich wie andere Minderheiten in Deutschland, etwa die Sorben und die Dänen. Wenngleich diese Sprache sich von anderen Sprachen unterscheidet, da sie eine visuelle Sprache ist, hat sie ein ähnliches Schicksal erlitten wie die Sprachen vieler Minderheiten: Sie wurde verboten und unterdrückt: 1880 auf einem internationalen Kongress der Taubstummenlehrer in Mailand. Was zur Folge hatte, dass Artikulations- und Absehübungen den Vorrang bekamen vor der Wissensvermittlung. Taubstumme Lehrer ereilte damit ein Berufsverbot, und letztlich wurden bildungsmäßige Erwartungshaltungen der "Fachleute" derart herabgesenkt, dass man es bis vor kurzem schlichtweg für unmöglich hielt, dass Gehörlose akademische Berufe erlernen könnten. Diese Einstellung ist auch heute noch tief verwurzelt. Nicht verwunderlich, dass ich von einer der Organisatorinnen des Integrare-Kongresses in Minden hörte, sie habe noch nie einen gebärdenden gehörlosen Akademiker gesehen. Welch Wunder, dass Eltern dann solchen falschen Aussagen von "Forschern" glauben schenken:
"Gebärden sind ikonisch, primitiv und verhindern den Lautspracherwerb!" Letzteres ist ein Aberglauben, der von den "Forschern" nie wissenschaftlich belegt werden konnte. Belegt ist allerdings, dass gehörlose Kinder gehörloser Eltern sich überdurchschnittlich gut entwickeln - da ihre Gehörlosigkeit von ihren Eltern von Anfang an akzeptiert wird und vor allem, da sie von Anfang an kommunizieren können, in der Gebärdensprache. Nun sind zwar die meisten Eltern gehörloser Kinder hörend, aber was liegt näher, als den Spracherwerbsprozess der gehörlosen Familien nachzuvollziehen. Darauf basieren bilinguale Modelle - die sehr wohl erfolgreich sind! Und selbstverständlich ist auch die integrierte Beschulung gehörloser Kinder möglich, mit Gebärdensprachdolmetschern nämlich.
Ärgerlich und geradezu unverschämt sind gegenteilige Behauptungen der im MT zitierten "Forscher". Die waren übrigens lange vor den so bejubelten technischen und medizinischen Fortschritten Gebärden-Hasser. Die Gehörlosigkeit nur als Defizit sehen, sie beseitigen wollen, das ist eine typische Haltung der hörenden Mehrheit. Und wer will es Gehörlosen übel nehmen, wenn sie sich an die ältere Generation erinnern, die im "3. Reich" noch sterilisiert wurde, wenn erbliche Taubheit vorlag. So genau hat man es mit letzterem allerdings nicht genommen, und außerdem wurden damit die Führungskräfte der Gehörlosengemeinschaft ausgeschaltet. Ein traumatisches Erlebnis für die gesamte Bevölkerungsgruppe, das sich noch Jahrzehnte nach dem Ende des Naziterrors in Kontaktanzeigen mit Attributen wie "gutsprechend, erbgesund" dokumentierte. In Vernichtungslager sind Gehörlose auch gekommen, und zwar dann, wenn sie zusätzliche Behinderungen hatten. Aber was sind zusätzliche Behinderungen? Wer schon einmal Gehörlose in der Psychiatrie erlebt hat, deren "Verrücktsein" offensichtlich darauf beruht, dass sie kommunikative Probleme (in der Lautsprache!) und daraus resultierende Aggressionen hatten, kann sich vorstellen, wie bei den Nazis selektiert wurde. Und dann kommen da Leute wie van Uden und prägen Begriffe wie "Dyspraxie". Was nichts weiter bedeutet, als dass die Begabung für das Sprechenlernen nicht ausreichend vorhanden ist. Auch so kann man stigmatisieren, selektieren und Behinderte kreieren. Wer schon einmal hochbegabte Gehörlose kennengelernt hat, die zufälligerwiese aber nicht oral begabt sind und deshalb als lernbehindert eingestuft wurden, kann den Hass Gehörloser auf die im MT zitierten "Forscher" nachempfinden - und vielleicht auch den Ruf nach dem KZ als REaktion auf erlittene Qualen und Ungerechtigkeiten.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, hier unser Credo: Unter Gehörlosen wie unter Normalhörenden gibt es die unterschiedlichsten Begabungen. Deshalb: Jedem nach seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten. Flexibilität und Toleranz sind dabei oberstes Gebot, und bornierte Einseitigkeit lehnen wir ab. Auch technische und medizinische Fortschritte sind zu begrüßen. Sie sollten aber keinesfalls zu einer Zwangsveranstaltung ausarten. Fehlbewertungen müssen vermieden werden. Es kann nicht angehen, dass selbstverständlich Zigtausende von den Krankenkassen für CI-Operationen gezahlt werden, für Hörgeräte von den Betroffenen aber Tausende zugezahlt werden müssen. Es sollte mit offenen Karten gespielt werden. Selbstverständlich gibt es verblüffende Erfolge sowohl bei den CIs als auch in der hörgerichteten Erziehung. Allerdings kennen wir auch viele Misserfolge, und darüber werden keine Statistiken veröffentlicht. Und wenn man von den seelisch und bildungsmäßig deformierten Hörgeschädigten als Resultat der herkömmlichen oralen Erziehung ausgeht, könnte es auch bei der modernen Variante ein nicht unerheblicher Anteil sein.
Last but not least: Dem rigiden und engstirnigen "entweder oder" setzen wir ein entschiedenes "sowohl als auch" entgegen. Eine große Anzahl der CI-Träger bleibt weiterhin hochgradig hörgeschädigt. Ihnen muss als zusätzliches Kommunikationsmittel die Gebärdensprache zur Verfügung stehen. Dann haben sie die Chance, ein Zuhause in der Gehörlosengemeinschaft zu finden, können locker und entspannt - eben unbehindert! - kommunizieren und können zudem mit Hilfe von Gebärdensprachdolmetschern eine beliebige, auch akademische, Ausbildung machen. Dafür zeugen u.a. einige Mitglieder aus unserem Team, die sowohl die Lautsprache als auch die Gebärdensprache perfekt beherrschen. Für weitere Kongresse von Integrare und ähnlicher Organisationen bieten wir daher zur Erweiterung der Perspektiven unsere Mitarbeit an - zum Wohle der betroffenen Kinder und ihrer Eltern.
Bernd Rehling
Team www.taubenschlag.de