| Mit Händen und Füßen dabei
In einer Frankfurter 
        Grundschule wird der Unterricht gebärdet 
 Die Friedrich-List-Schule 
        in Frankfurt-Nied macht in einem Modellprojekt für gehörlose Kinder von 
        sich reden: Für vier Schüler der Grundschule wird der Unterricht in die 
        Gebärdensprache übersetzt. Engagierte Linguistkstudenten, selbst gehörlos, 
        sorgen im Schichtdienst für die "Übersetzung".
Frankfurt am Main (oia) Pause in der Friedrich-List-Schule in Frankfurt-Nied. 
        Auf dem Schulhof laufen, springen, spielen Kinder laut kreischend, kichernd 
        und schreiend oder stehen in kleinen Gruppen und reden, manchmal alle 
        gleichzeitig.Für Manuela Vanek aus der 3b und ihren Bruder Peter, für Björn Pfeiffer 
        und Luis Latuske aus der 1a ist dieser Platz genauso ruhig wie der Rest 
        der Welt: Sie sind gehörlos. Für sie wird der Unterricht in ihre Muttersprache 
        übersetzt, in die Deutsche Gebärdensprache, DGS.
 "Die hörenden Kinder sind fasziniert von den Gebärden und lernen begeistert 
        mit" , erzählt die Klassenlehrerin der 1a und Konrektorin der Schule, 
        Ursula Avery. Sie hat das Projekt in ihrer Schule initiiert. Über ihren 
        Sohn, der als Gehörlosenseelsorger in Limburg arbeitet, bekam sie Kontakt 
        zu Frankfurter Gehörlosen, zum engagierten PAX-Team um Pater Amadeus und 
        die Frankfurter Linguistik-Professorin Helen Leuninger. Seit Jahren kämpfen 
        die Frankfurter dafür, dass die Gebärdensprache als vollwertige Sprache, 
        der Lautsprache als ebenbürtige Sprache in der Gesellschaft anerkannt 
        wird. "Die Gebärdensprache ist die einzige den Gehörlosen angemessene 
        Sprache. Wer sie ihnen verweigert oder nicht zugänglich macht, verwehrt 
        ihnen den Weg zur eigenen Identität", lautet ihre Position. Als die Mutter von Manuela eine Möglichkeit suchte, um ihre Tochter auf 
        einer Regelschule zu integrieren, setze sich Ursula Avery für ihre Aufnahme 
        in Nied ein. Engagierte Linguistik-Studenten, selbst gehörlos, dolmetschen 
        den Unterricht im Schichtdienst. "Mit so großem Erfolg, dass wir uns jetzt 
        entschlossen haben drei weitere gehörlose Kinder, die mit der Gebärdensprache 
        als Muttersprache aufgewachsen sind, aufzunehmen und unser Modellprojekt 
        einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen", erzählt Avery stolz.
 Die Dolmetscherin Elke Menges, die hier mit anderen arbeitet, wurde selbst 
        auf einer Schwerhörigen- und Gehörlosenschule unterrichtet, die Gebärdensprache 
        war an ihrer Schule noch offiziell verboten. Ihre Sprache klingt wie ein 
        starker seltsamer Dialekt, die Stimme hat wenig Melodie. Sie spricht zwar 
        flüssig in der Lautsprache, erzählt aber lieber in ihrer Muttersprache, 
        DGS. Wenn Sie mit den Händen spricht, werden blitzschnelle Sätze in die 
        Luft geformt. "Ich freue mich für die Kinder hier", sagt sie, " sie haben 
        bessere Bildungschancen als ich sie hatte, weil sie in ihrer Sprache unterrichtet 
        werden." Um Ihren Söhnen diesen Weg zu ermöglichen, sind die Familien 
        Pfeiffer und Latuske sogar aus Süddeutschland nach Frankfurt umgezogen.
 
 Im Friedberger C-I-Zentrum (CI steht für Cochlear Implantat" - eine Elektrode, 
        die bei Gehörlosen ins Ohr transplantiert wird und dadurch Höreindrücke 
        vermittelt) steht der Pädagoge Prof. Gottfried Diller dem Projekt der 
        Freidrich-List-Schule jedoch eher kopfschüttelnd gegenüber. "Von unseren 
        implantierten Kindern werden 10 bis 12 im Jahr in die Regelschule aufgenommen, 
        das meldet überhaupt niemand mehr." Für ihn, selbst hörender Sohn von 
        gehörlosen Eltern, ist der Frankfurter Weg ein Weg in die Isolation. Er 
        weiß um die Diskriminierung von gebärdenden Gehörlosen in der Gesellschaft, 
        um die Schwierigkeiten sich gebärdend eine Ausbildung, einen Beruf, ein 
        normales Leben zu erobern. Für Diller besteht der einzige Weg aus der 
        Isolation im Implantat. "Es bestehet ein Grundrecht darauf zu hören und 
        den Kindern soviel Hören zu ermöglichen, wie es eben nur geht. Und wenn 
        ich jetzt erlebe, dass ich mit ehemaligen Schülern telefonieren kann, 
        dann ist das für mich die größte Bestätigung. Einen parallelen Unterricht 
        in Gebärden -und Lautsprache lehnt er ab: Sie können nicht gleichzeitig 
        Klavier spielen und Skifahren lernen.
 
 Für Eltern ist es besonders schwer, innerhalb der Diskussion unter Experten 
        herauszufinden, was für sie und ihr Kind die richtige Entscheidung ist. 
        Implantieren oder nicht, Gebärdensprache- ja oder nein. Sicher ist: Die 
        Fortschritte in der Medizintechnik haben dafür gesorgt, dass eine frühzeitige 
        Versorgung mit Hörhilfen wie dem Cochlear Implantat gehörlosen Kindern 
        die Möglichkeit eröffnet, sich in der Welt der Hörenden unauffällig zu 
        bewegen - auch wenn ihr Hörvermögen nicht dem eines Normalhörenden entspricht. 
        Sicher ist auch, dass für Gehörlose, die kein ausreichendes Hörvermögen 
        haben, um Lautsprache zu analysieren, die Gebärdensprache die einzige 
        Möglichkeit bleibt, sich differenziert auszudrücken. Die Frankfurter Gebärdensprachforscher 
        konnten darüber hinaus zeigen, dass Gehörlose sehr viel schneller auch 
        die Lautsprache erlernen, wenn sie Gebärden als Muttersprache erlernen 
        durften.
 Das Modellprojekt an der Friedrich-List-Schule in Frankfurt-Nied funktioniert 
        nur, weil Manuela und seit August 2000 auch Peter, Björn und Luis ihr 
        Sprachsystem in Gebärdensprache vollentfaltet haben und ihr Wortschatz 
        daher mit dem der hörenden Kinder vergleichbar ist. "Wir wollen gehörlosen 
        Kindern, die das nicht können, keine falschen Hoffnungen machen", betont 
        Avery. Es gibt nicht viele gehörlose Kinder, die für- und damit rechtzeitig 
        Gebärden lernen. Die DGS wird in den Augen vieler Pädagogen, Ärzte und 
        Eltern immer noch als defizitäre Sprachkrücke abgelehnt. Bis zur Vorurteilsfreien 
        Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache - und vor allem der gebärdenden 
        Gehörlosen - bleibt es ein Langer Weg. Hilde Weeg
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