Sehen statt Hören - 26.04.1998 - 904. Sendung


Nicaragua: Teil 1 - Die Geburt der Gebärdenssprache

Moderator Jürgen Stachlewitz:
Wir laden Sie heute ein, mit uns auf Entdeckungsreise zu gehen:
In ein Land in Mittelamerika. Unsere beiden Kollegen vom britischen GL-Programm See Hear und vom dänischen Dovefilm-Video waren letztes Jahr in Nicaragua und haben wie bei einer Expedition danach geforscht, wie GL leben und welche Entwicklungsstufen der Gehörlosengemeinschaft und der Gebärdensprache es dort gibt.
Es entstanden zwei Sendungen. Die erste zeigen wir heute.
Der Titel ist: "Die Geburt einer Gebärdensprache".
In vier Wochen sehen Sie den 2. Teil.
Es ist die englische Originalfassung mit deutschen Untertiteln.

Gehörlosen-Kultur
2 Moderatoren: Hallo, willkommen zur Spezialausgabe von See Hear! Ich bin Ramon WOOLFE.
Und ich bin Jan RYDICHER. Wir sind gl, mit Gebärdensprache aufgewachsen.
Meine Sprache ist Dänische Gebärdensprache. - Und meine die Britische.
Wir sind hier auf Entdeckungsreise. Wir haben verschiedene Sprachen und berichten über die Geburt einer neuen Sprache:
Der Nicaraguanischen Gebärdensprache!
"Die Geburt einer Gebärdensprache"
1. Teil
Ramon Woolfe: Hier an der Gehörlosenschule in Bluefields ist auch der Sitz des Nicaraguanischen Gebärdensprach-Projekts.
Die Leiter sind James und Judy Kegl-Shepard.
Judy KEGL-SHEPARD (gl): Unser Gebärdensprach-Projekt - wo soll ich da anfangen?
Vor 10 Jahren kam ich hierher, um die Gebärdensprache zu studieren.
Die Gebärdenzeichen unterschieden sich sehr von den meinen.
Aber eigentlich beginnt die Geschichte vor 15 Jahren, mit der Revolution.
Die Sandinistische Regierung hatte einen Grundsatz: Bildung für alle.
Das galt auch für Gehörlose. Sie kamen zusammen.
Vorher lebten sie in Isolation, benutzten kaum Gebärden.
Jetzt bekamen sie immer mehr soziale Kontakte untereinander.
Und es bildete sich eine Behelfssprache unter ihnen heraus.
Als kleinere Kinder in die Schule kamen, sahen sie dieses Pidgin und erwarben es als ihre Erstsprache.
Aber damit veränderte sie sich. Sie wurde zu einer vollwertigen Sprache.
Wir merkten: Wir wurden Zeugen bei der Geburt einer Gebärdensprache!
Das wollten wir dokumentieren und mit Film und Schrift festhalten.
Woolfe am Schneidetisch: Genau das wollen wir auch: Die Veränderungen auf Video festhalten.
Aber die Bluefields-Schule hat nur 25 Schüler und wenig Geld.
Sie ist nur 3 Monate im Jahr geöffnet.
Viele der Veränderungen, von denen Judy sprach, sind schon geschehen.
Um herauszufinden, wie die Lage vorher war, gingen wir auf Safari.
James SHEPARD-KEGL: In diesem Teil von Nicaragua ist Bluefields die einzige größere Ansiedlung. Von hier aus kann man nur per Boot kleine Orte erreichen, in denen Menschen wohnen.
Darunter müßten laut Statistik auch einige Gehörlose sein.
Wir haben sie besucht und wissen, daß es sie tatsächlich gibt.
Aber sie leben in völliger Isolation voneinander und haben so gut wie keinen Zugang zu irgendeiner Gebärdensprache.
1. TAG
Woolfe: Jetzt verstehe ich, wie sich Naturforscher fühlen, wenn sie überall nach seltenen Pflanzen oder Tieren suchen. Wir suchen gl Menschen!
Rydicher: James und Gary sind dort drüben auf der Suche nach Gehörlosen.
Wir nehmen diesen Weg und suchen auch.
James fragt (In Spanisch:)
Guten Tag, Senor. Ich komme von Los Popitos in Bluefields.
Wir sind eine Schule für Kinder, die nicht hören und nicht sprechen.
Kennen Sie solche Kinder hier in der Nähe?
Mann: Nein, hier gibt es niemand, der nicht hören kann.
Rydicher: Vielen Dank, Senor.
2. TAG
Woolfe: James sagte, daß hier flußaufwärts ein gehörloser Junge lebt.
Im Indianergebiet. Er hat noch nie einen anderen gl Menschen getroffen.
Er lebt in einer Bauernfamilie. Wie kommunizieren sie mit ihm?
Vielleicht mit eigenen Familiengebärden?
James: Hier muß es irgendwo sein. Ja, ich glaube, hier ist es.
Ihr wartet hier. Soweit ich weiß, lebt hier eine Familie mit einem gl Jungen oder Mädchen. Wir sollten nicht alle reingehen.
Ich gehe vor und kläre das. Bin gleich wieder zurück.
Ramon: So viele Hühner hier!
James zu Mädchen: Danke. Du kannst gerne gehen. Ist schon gut.
Jan: Jetzt sehen wir, wie sich zwei gl Jugendliche unterhalten.
Der ältere erklärt dem jüngeren die Gebärden für einige Farben.
Ramon: Vorhin versuchte er, seine ersten Gebärden zu lernen.
Jetzt möchte ihm James gern noch mehr Gebärden beibringen.
Jan: Ist dieser Junge ein gutes Beispiel für Benutzer von "Haus"-Gebärden?
James: Ja. Ein sehr gutes Beispiel für die Situation, wie wir sie in Managua vor der Revolution von 1979 vorgefunden haben.
Dieser junge Mann ist gänzlich isoliert von anderen GL aufgewachsen.
Er konnte etwas Englisch. Er verlor sein Gehör etwa mit 3 Jahren.
Er benutzt keine Standard-Gebärden, sondern ein Haus-Zeichensystem.
Seine sprachlichen Fähigkeiten sind sehr schwach ausgebildet.
Jan: Wie empfindet er sich selbst? Welche Identität hat er?
James: Was sein Bewußtsein von GL-Kultur betrifft, hat er keine Identität.
Er weiß, daß er gehörlos ist, und trifft auch manchmal Gehörlose.
Aber er kann sich nicht vorstellen, daß es eine blühende GL-Kultur in Managua, in Bluefields oder woanders gibt.
3. TAG

Das ist El Bluff, die Hafenstadt des Handelszentrums Bluefields. Der Orkan im Jahr 1988 hat hier große Verwüstungen angerichtet.
Die meisten Fischerboote sind zerstört. 80 % sind arbeitslos!
Einige hundert Menschen leben hier praktisch von nichts.

Das ist das Haus von Wanda Lee, einer Schülerin aus El Bluff, die bei uns mitmacht. Hier ist sie. Das ist ihre Namensgebärde.
Ist das dort deine Schwester? - Ja.
Und wer sind die anderen alle?
Das sind Brüder und Neffen und Nichten.

Ich habe Wanda gefragt, ob sie die gl Frau, die in dieser Straße wohnt, öfter sieht. Sie sagt, ja, manchmal. Sie sind befreundet, aber nicht eng.
Ich frage sie auch nach dem Namen dieser Frau. Den wußte sie nicht.

Ramon: Bisher haben wir nur Gehörlose mit geringen Gebärdenkenntnissen gesehen.
Sie treffen kaum andere GL. Nicht einmal, wenn sie Nachbarn sind.
Sie plaudern nicht miteinander. Haben sie kein Bedürfnis danach?
Vielleicht liegt es an der kleinen Dorfgemeinschaft, in der sie auch mit Hörenden ganz gut zurechtkommen.
Entwickelt sich G.-Sprache nur in der Gruppe? Wieviele GL müßten es sein?
4. TAG

Wir sind auf Corn Island gelandet, einer Ferieninsel in der Karibik.
Man sagte uns, daß auf dieser Insel zehn Gehörlose leben.
5 von ihnen sind Bluefields-Schüler, die anderen leben vereinzelt.
Sie kennen sich, aber sie treffen sich selten. Warum?

Frage an Polizisten: Guten Tag! Wir suchen nach Gehörlosen, die hier auf der Insel wohnen.
Kennen Sie da jemand? - Ja, hier in der Nähe lebt ein gl Mädchen.
In der Nähe des Panorama-Hotels. Sie heißt Dorbie.
Ist sie die Tochter von Conny? Ja, das ist sie.
Und sie wohnt ganz in der Nähe? Ja, dort am Kanal beim Hotel.
O. K., vielen Dank. - Ich kenne noch mehr Leute hier. Bis später!
Ramon: Auch hier gebärden Gehörlose kaum und haben wenig Umgang miteinander.
Sie haben fast keine sozialen Kontakte und überhaupt keine Sprache.
Ihre hörenden Eltern sprechen kreolisches Englisch.
Können sie Lippenlesen? Wie verständigen sie sich in der Familie?
Ich hoffe, wir bekommen darauf jetzt gleich eine Antwort.
Guten Morgen! Wohnt hier Dorbie? Ja, in diesem Haus. Tante Connie!
Guten Morgen! Sind Sie Dorbie's Mama? Ja. - Schön, Sie zu treffen.
Guten Morgen! Wie geht es Dorbie? Gut.
Wie kommt sie in der Schule voran? Gut.
Welche Gebärden verwenden Sie mit Dorbie? Zeigen Sie uns einige?
Mutter: Sie benutzt Zeichen aus der Bluefields-Schule und jetzt wieder Zeichen, die sie vorher schon hatte.
Ramon: Können Sie uns ein Beispiel geben?
Mutter: Eine ihrer ersten Gebärden war diese, für "Brot".
Aber jetzt gebärdet sie "Brot" so.
Oder so, wenn es regnet. Das sind die "Bäume", wir werden "naß".
Wenn Dorbie etwas will - wie gebärdet sie das?
Wenn sie etwas will, bittet sie immer darum. Sie zeigt auf Essen.
Wenn sie Wasser möchte, gebärdet sie "Wasser".
Oder wenn sie Geld will, um Chips zu kaufen, dann so.
"Kuchen", "Ball", usw.
Wenn sie krank ist, wie gebärdet sie dann? - "Mama, Fieber".
Dann will sie "Pillen", oder einen Löffel für flüssige Medizin.
Wo war Dorbie vor der Bluefields-Schule? Und wie gefiel es ihr?
Mutter:
Sie war auf einer Baptistenschule. Wenn ich sie fragte, wie es ging, sagte sie: Die Lehrerin ist verrückt! Sie macht Töne mit dem Mund.
Aber ich verstehe nichts. Auch nicht, was sie an die Tafel schreibt.
Sie dachte, die muß verrückt sein, weil sie nichts verstehen konnte.
Jan: Wie fühlen Sie sich?
Mutter: Gott weiß, warum er sie taubstumm gemacht hat.
Ich bin froh, daß sie Fortschritte macht.
Sie ist normal. Nur, daß sie eben taubstumm ist.
Ramon: In Dänemark oder England fahren GL weit für eine kleine Unterhaltung.
Jan: Ja, über 100 km. So wichtig ist die Gebärdensprache für sie.
Ramon: Sie wollen plaudern. Aber die 10 Gehörlosen hier in Corn Island treffen sich kaum und gebärden nicht.
Jan: Vielleicht, weil es hier fünf verschiedene Sprachen gibt.
U. a. Spanisch, Englisch und Kreolisch. Gehörlose denken, es geht schon, weil hier sowieso jeder viele Gesten benutzt.
Ramon: Ja. Sie fühlen sich nicht isoliert, brauchen keine GL-Gemeinschaft, weil hier alle gleich sind. Das könnte sein.
Kapitän: Hallo! Was willst du?
Fährt das Boot auf Hummerfang? - Ja.
Ist das dort dein Schulfreund?
Ja. Von der GL-Schule in Bluefields.
Ramon am Schneidetisch: Von den 10 GL auf Corn Island haben sich einige gut integriert.
Wir sahen gerade, wie sich ein GL (links) mit einem Hörenden unterhält.
Der Gehörlose, Stennett, hat in Bluefields viele Gebärden gelernt.
Was passiert, wenn er ein gehörloses Mädchen trifft?
Stennett u. Mädchen: Ist dein Vater hier? Nein. Er ist in Managua.
Wann kommt er zurück? Ich möchte ihn sprechen, wenn er da ist.
Okay, wenn er da ist.
Ramon: Die beiden haben Kommunikationsprobleme. Woher kommt das?
Stennett lernte an der Bluefields-Schule mehr Gebärden als sie.
Als wir mit dem Mädchen sprachen, konnten wir uns gut verständigen.
Mädchen gebärdet: Getötet. - Getötet? Und dein Vater? Zurück nach Managua.
Nach Managua. Jetzt bist nur noch du hier? - Ja, nur ich.
Ramon mit Mädchen
Es ist interessant, daß Stennett und sie vorher Schwierigkeiten hatten.
Aber auf uns kann sie sich einstellen, obwohl wir anders gebärden.
Ich dachte, ich würde sie nie verstehen. Aber ich kriegte mit, daß ihre Mutter getötet wurde und ihr Vater nach Managua zurückging.
Sie muß hier alles machen: Putzen, Kochen. Dort hinten ist ihr Sohn.
Das war eine interessante Situation.
James: Im Gespräch mit euch lebte sie ein wenig auf. Ich vermute, das tat sie, weil ihr eure Gebärden umgestellt habt auf ihr Sprach-Verständnis.
Darauf hat sie reagiert.
Stennetts Gebärden waren noch vor Monaten ähnlich wie die ihren.
Aber jetzt geht er zur Schule. Seine Sprache verändert sich.
Sein Wortschatz wird formeller, schon nach einem Monat Schule.
Er kann noch nicht von der neuen Sprache, die er gerade lernt, etwas in das Heimgebärden-System übertragen, das er vorher benutzte.
So verstand sie ihn schwerer als vielleicht einen Monat vorher.
Jan zu Mädchen: Wir sind alle gleich: Du, ich, Ramon, Terry, wir sind alle gehörlos.
Ramon am Schneidetisch Es ist faszinierend und kompliziert. So vieles kann die Geburt und die Entwicklung einer neuen Sprache beeinflussen.
In der nächsten Folge kommen wir in die Hauptstadt Managua.
Dort leben mehr Gehörlose zusammen. Eine Gemeinschaft ist entstanden.
Und wir sehen Beispiele, wie die neue Gebärdensprache von nicaraguanischen gehörlosen Kindern angewandt wird.
Schauen Sie wieder rein! Tschüß!
Deutsche Untertitel: Gerhard Schatzdorfer

Stachlewitz: Bei uns sehen Sie in 4 Wochen den 2. Teil dieser Dokumentation.
Sie zeigt, wie gut und schnell sich die Nicarag. Gebärdensprache innerhalb von wenigen Jahren entwickeln konnte - vor allem, weil sie an den Schulen gefördert wurde.


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