Sehen statt Hören - 11.05.1998 - 906. Sendung


"AM VORABEND DES 50. HOCHZEITSTAGES" - (Fernsehfassung eines Theaterstücks)
Kurz vor der Goldenen Hochzeit eines gehörlosen Ehepaares tauchen Schatten aus der Vergangenheit auf...

Moderator Jürgen Stachlewitz:
Guten Tag....
Bei uns gibt es heute eine Theatervorstellung zu sehen. Wir haben von einem Stück, das eigentlich 75 Minuten dauert, eine 25-minütige Fernsehfassung für "Sehen statt Hören" aufgenommen.
Ort der Handlung ist Berlin. Die Zeit: Das Jahr 1990. Zwei gehörlose Eheleute unterhalten sich einen Tag vor ihrer Goldenen Hochzeit über die bevorstehende Feier. Dabei erfahren wir viel über ihre Vergangenheit, auch über Tatsachen, über die die beiden in 50 Jahren Ehe noch niemals miteinander gesprochen haben! Sie hängen zusammen mit der Zwangs-Sterilisierung von Gehörlosen und der Judenverfolgung in der NS-Zeit.
Ich sage: Vorhang auf für dieses psychologisch interessante 2-Personen-Stück!

"Theaterstück 50. Hochzeitstag"
Am Vorabend des 50. Hochzeitstages
Werner: Ich hab's gewußt! Mit der Batterie stimmt was nicht.
Bis die aufgeladen ist, das dauert eine Stunde. Wir müssen warten!
Rosemarie: Ach, mein Mann! Immer machst du dieselben Fehler!
Werner: Na na na! Du bist auch ganz gut im Fehlermachen.
Letztes Mal hast du meine Geldbörse in die Waschmaschine geworfen!
Rosemarie: Ich konnte nichts dafür. Die neue Waschmaschine!
Wenn sie mal läuft, dann läßt sie sich nicht mehr öffnen.
Und du? Du trittst dir nie die Füße ab. Immer muß ich putzen.
Werner: Du merkst dir alles. Führst du ein Tagebuch über mich?
Rosemarie/Werner: Nein, ich habe alles in meinem Kopf. So so.
Rosemarie: Laß uns heute nicht streiten. Morgen ist unser 50. Hochzeitstag.
Viele Freunde werden uns besuchen. Hoffentlich kommt Hubert.
Und meine Freundin Greta habe ich auch eingeladen.
Werner: Was, Greta? Diese anstrengende Person!
Rosemarie: Na klar. Außerdem kommen die Kinder von deinem Bruder Helmut.
Süß, die beiden. Es ist, als wären sie meine eigenen Kinder.
Werner: Stimmt.
Rosemarie: Schade, daß ich nie schwanger war. Ich stelle mir vor, ich wäre schwanger gewesen. Dann hätte ich ein Kind zur Welt gebracht, das hätte Augen gehabt wie du und wäre so süß gewesen wie ich.
Schade, daß du sterilisiert bist.
Werner: Hör doch auf. Laß dieses Thema! Du hast Fritz und Eva.
Wenn die beiden Probleme haben, gehen sie immer zu dir.
Du bist wie eine Mutter für sie. Mein Bruder und seine Frau hören.
Sie können nicht gebärden. Darum kommen beide zu dir. Das ist schön!
Rosemarie: Ich verstehe nicht, warum du dich freiwillig hast sterilisieren lassen.
Werner: Hör auf! Mußt du immer wegen derselben Geschichte über mich klagen?
Du willst mir wohl nie glauben. Ich habe es satt!
Muß ich immer wieder sagen, daß ich damals jung und naiv war?
Ich durfte in die Hitlerjugend! Als wäre ich ein Soldat.
Ich war als Gehörloser den Hörenden gleichgestellt.
Dann ließen sich meine gehörlosen Freunde alle sterilisieren.
Deswegen habe ich mich schließlich auch gemeldet. Freiwillig!
Rosemarie: Ist ja gut. Ich wollte dir nicht wehtun. Möchtest du Kaffee?
Werner: Neee!
Rosemarie: Oh! Ich fühle mich gar nicht wohl. Ich schwitze und mir ist schlecht.
Mach bitte das Fenster auf. Mein Herz!
Werner: Hast du heute früh deine Tabletten nicht genommen?
Rosemarie: Die Tabletten? Das habe ich vergessen.
Werner: Siehst du! Immer und immer wieder muß ich es dir sagen.
Rosemarie/Werner: Paß bitte auf! Es geht um dein Herz. Ja, ja.
Du darfst es nie wieder vergessen! Ja, ich weiß.
Ich muß immer für alles sorgen, muß saubermachen. Alles nur für dich.
Du kannst auch mal für mich sorgen und mich an die Tabletten erinnern.
Werner: Gut, das mache ich.
Rosemarie: Wenn ich tot wäre...!
Rosemarie/Werner: Aber nein! Wenn ich tot wäre...
Was soll das heißen? Wenn ich tot wäre: Was dann?
Wer sorgt für dich? Wer kocht für dich? Wer wäscht für dich?
Darum mache ich mir Sorgen um dich.
Werner: Ich mache mir auch Sorgen. Wenn ich zuerst tot wäre...
Was hast du? Komisch, wie du gebärdest.
Was gibt es da zu lachen?
Komisch, wie du "tot" gebärdest.
Das macht man heute nicht mehr. Heute gebärdet man so: "Tot".
Ach was. Du machst andere Gebärden. Die sind von der jüdischen Schule!
Vorhin las ich den Brief von Fritz und bin erschrocken.
Er will eine jüdische Universität besuchen! Warum eine jüdische und nicht eine normale deutsche Universität? Das wäre doch besser!
Rosemarie: Ja - aber das habe ich Fritz empfohlen, daß er diese jüdische Universität besuchen soll!
Werner: Was? Du selbst hast es ihm empfohlen? Warum hast du mir das verheimlicht?
Hast du kein Vertrauen zu mir? Doch, das habe ich.
Aber ich bin nicht sicher, ob du dich wirklich geändert hast oder ob du noch denkst wie Hitler? Ach, nein!!
Wieso denn? Das ist doch Quatsch! Das war damals!
Das ist alles vorbei. Hitler habe ich längst auf den Müll geworfen!
Rosemarie: Na hoffentlich!
Werner: Du weißt doch, wie das früher war! Hitler hat mich so beeinflußt, das war wie eine Gehirnwäsche! Das ging durch und durch!
Für mich gab es keinen anderen als Hitler.
Und es gab kein anderes Land als Deutschland!
Und es hieß: Alle Juden sind schlecht, böse und gemein!
Rosemarie: Und ich?
Werner: Ich meine doch nicht dich. Du bist eine gute Frau.
Und du hast es mir zu verdanken, daß sie dich nicht erwischt haben.
Wenn ich dir nicht meinen Namen gegeben hätte - wer weiß!?
Rosemarie: Du widersprichst dir. Erst: Juden sind "schlecht, böse und gemein".
Dann: Ich bin eine "gute Frau". Ich bin doch jüdischer Abstammung.
Ich war froh, daß du zu mir gehalten hast.
Aber andererseits schimpfst du immer noch auf die Juden.
Werner: Laß das jetzt. Ich liebe dich doch!
Ich liebte dich so sehr, daß ich vergaß, daß du etwas jüdisch bist.
Du hattest Glück, daß du nur zu einem Viertel jüdisch bist.
Als Halbjüdin hätten sie dich bestimmt verfolgt.
Wichtig ist nur, daß ich dich liebe. Das macht alles andere vergessen.
Rosemarie: Ja. Entschuldige!
Werner: Sag mal - wie viele Leute kommen morgen zur Feier?
Rosemarie: Oh, ich hatte sie schon gezählt. Ich glaube, 44 sind eingeladen.
Für so viele Leute müssen wir noch viel vorbereiten und viel einkaufen.
Mir graut schon vor dem Schlangestehen!
Werner: Vor dem Schlangestehen? Hast du denn vergessen: Es gibt keine DDR mehr!
Die Mauer ist vor einem Jahr gefallen!
Rosemarie: Ach ja. Mein Gedächtnis läßt nach. Ich werde eben langsam alt.
Werner: Wir werden beide alt. Hauptsache, wir können noch laufen und einkaufen.
Wieviel Toilettenpapier hast du gekauft?
Rosemarie: Ach so, ja. Vier Rollen hab ich gekauft.
Werner: Was? 4 Rollen! Ist das nicht verschwenderisch?
Rosemarie: Warum? Überleg mal: Wenn 44 Gäste kommen, brauchen wir 4 Rollen!
Werner: Das finde ich übertrieben!
Rosemarie: Es müssen 4 sein. Besser wären 5.
Werner: 4 oder 5 Rollen - so eine Verschwendung! Das ist zuviel!
Rosemarie: Nein! Ich schlage vor: 3 Rollen für die Gäste, eine extra für dich.
Dann mußt du dich nicht aufregen. Du verbrauchst selbst am meisten!
Werner: Eine Rolle nur für mich? Warum?
Rosemarie: Weil du so oft zur Toilette rennst, daß das Papier schnell alle wird!
Werner: Das ist nicht wahr. Du kochst immer so einen Fraß für mich.
Das muß ich alles in mich hineinessen. Darum renne ich so oft.
Rosemarie: Ach was. Es bleibt bei 4 Rollen und damit fertig.
Werner: Nein! 3 oder 2 Rollen, das wäre viel billiger!
Rosemarie: Es ist kaum zu glauben, daß wir morgen 50 Jahre verheiratet sind.
50 Jahre haben wir Freud und Leid miteinander geteilt.
Nie waren wir getrennt.
Ich erinnere mich an meine erste Liebe. Aber das war nicht Werner.
Es war ein jüdischer Junge. Wir gingen in dieselbe Schule.
Wir neckten uns gern. So lernten wir uns kennen und verliebten uns.
Dann ergriff Hitler in Deutschland die Macht.
Als ich einmal die Familie meines Freundes besuchen wollte, war die Tür verschlossen. Ich klopfte fest, aber niemand öffnete.
Eine Nachbarin bedeutete mir, ich solle verschwinden.
Die Familie sei von der SS abgeholt worden.
Ich ging schnell weg. Wer hatte die Familie wohl verraten?
Mit ihr verschwand für mich auch unser Lachen, unsere Späße, alles.
Dann lernte ich Werner kennen. Er war schon lange hinter mir her.
Aber ich hatte es nicht bemerkt.
Ich verliebte mich in ihn. Wir heirateten. So ging das bis heute.
Ich frage mich oft: Soll ich ihm von meiner ersten Liebe erzählen?
Oder ist es besser, ich schweige?
Immer wenn ich es ihm sagen wollte, hielt mich etwas davor zurück.
Soll ich es ihm noch erzählen oder nicht? Ich weiß es nicht.
Nun ist es wohl doch besser, ich sage nichts.
Rosemarie/Werner Wie konnte ich das nur vergessen! Was denn?
Rosemarie: Ich habe vergessen, Eis zu kaufen. Eis mit heißen Kirschen.
Das essen doch Fritz und Eva so gern.
Werner: Dann kaufe es doch, wenn sich die beiden so darüber freuen.
Wir hatten früher nicht so viel Freude wie die Kinder heute.
Kommt mein Bruder Helmut morgen bestimmt?
Rosemarie: Ja, er hat es mir geschrieben. Auch, daß Fritz und Eva kommen.
Unglaublich! Vor 2 Jahren ist Fritz geflohen. Jetzt das Wiedersehen.
Und Eva! Sie wollte damals nicht fliehen.
Immer machte sie bei den Montagsdemos mit.
Werner: Das hat sie mir auch erzählt. Jeden Montag nahm sie daran teil.
Obwohl sie noch so ein junges Mädchen war!
Rosemarie: Ja. Sie war in einer Gruppe bei diesen Demos. Montag für Montag.
Als wir damals bei Helmut waren, hatten wir alle Angst um sie.
Das Gerücht ging um, es könnte Blutvergießen geben.
Sie dachte nicht, daß der Kommunismus zusammenbrechen würde.
Plötzlich brach er doch zusammen! Honecker trat zurück. Ganz ohne Blutvergießen. Gottseidank!
Werner: Ja, aber denk doch, was Fritz passiert ist...
Rosemarie: Denk jetzt nicht daran. Wichtig ist: Fritz geht es gut, Eva auch.
Denk nicht so viel an Fritz.
Werner: Wir durften im Ausreiseantrag nie schreiben, daß wir zu Fritz wollten.
Rosemarie: Ja. Nur wir Alten durften in den Westen. Den Jungen war es verboten.
Unmenschlich war das!
Werner: Dann schrieb Fritz, daß er kommt. Am Bahnhof Friedrichstraße standen wir voller Vorfreude und warteten auf ihn.
Dann sahen wir Fritz näherkommen. Sein Gesicht war ernst und still.
Er war doch immer so ein lustiger Mensch! Was war mit ihm?
Zu meinem Schrecken sah ich: Er hinkte! Warum verschwieg er das?
Ich begreife es bis heute nicht!
Rosemarie: Aber Werner! Nicht aufregen! Fritz ist gesund. Das ist es, was zählt. Nicht das mit dem Bein.
Werner: Wie kann man nur auf Menschen schießen? Diese verdammte Mauer!!
Wieviele waren es, die man da erschossen hat? Wieviele?
So etwas darf man nicht zulassen. Das ist unmenschlich.
Nie wieder darf es so eine Mauer geben!
Ja, die Mauer war unmenschlich. Jetzt komm!
Rosemarie: Ja, die Mauer war unmenschlich. Jetzt komm!
Werner: Ich verstehe das nicht.
Rosemarie: Denk einfach daran, daß Fritz noch lebt und daß es ihm gut geht.
Das mit dem Bein ist kein großes Problem.
Er hat eine neue Wohnung und Arbeit bekommen, und neue Freunde.
Für mich ist es immer noch so, als wären Fritz und Eva meine Kinder.
Schön ist das!
Weißt du noch, wie dreckig Fritz immer war, wenn er uns besuchte?
Ich mußte ihm immer neue Sachen anziehen. Du hast mir geholfen.
Und die beiden haben wir gerne verwöhnt.
Mit Eis.
Mit Eis und heißer Kirschsoße. Stimmt.
Mit Eis....
sie schläft ein
Werner: Ja ja, jetzt bin ich ein alter Mann.
Und du, Rosemarie, bist eine alte Frau.
Morgen sind wir schon 50 Jahre verheiratet!
Schade, daß die Zeit so schnell vergeht.
Wie sehr wünschte sie sich ein Kind, in all den Jahren. Sie klagte oft.
Trage ich Schuld, weil ich mich freiwillig sterilisieren ließ?
Die Nazis hatten mir eingeredet, daß das richtig wäre.
Ich war verblendet und folgte den Kameraden, die sterilisiert waren.
Ich ließ es freiwillig machen. Trage ich deshalb Schuld?
Ich war auch eifersüchtig auf diesen jüdischen Jungen, der immer mit dir, Rosemarie, zusammen war.
Ich wollte, daß er verschwindet. Deshalb habe ich ihn verraten.
Die SS kam und verschleppte ihn, auf Nimmerwiedersehen.
Damit habe ich meiner Rosemarie das Leben gerettet!
Die Nazis sagten immer: Juden sind schlecht, böse und gemein.
Deswegen hatte ich Angst um Rosemarie. Sie war 1/4-jüdisch!
Ich sah, was für ein gutes Mädchen sie war, so warmherzig und offen.
Wenn ich ihr nicht geholfen hätte, hätte sie den jüdischen Jungen geheiratet und wäre auch von der SS deportiert worden!
Ich habe ihr das Leben gerettet! Trifft mich Schuld?
Dieser Gedanke beschäftigt mich immer wieder.
Manchmal frage ich mich: Denkt sie noch oft an diesen jüdischen Jungen?
Sie sollte ihn doch vergessen?
Ja, wir sind nun 50 Jahre verheiratet.
Sie war immer fröhlich, niemals traurig. Oder täusche ich mich?
Wir streiten ab und zu. Aber das ist ganz normal bei Eheleuten.
Manchmal kommt mir der Gedanke: Hatte Rosemarie jemals den Verdacht, daß ich der Verräter gewesen sein könnte?
Wie wäre es, wenn wir einfach mal nach Amerika reisen würden?
Rosemarie: Nach Amerika? Nein, das ist zu weit.
Das andere Klima, das andere Essen. Das schaffe ich nicht, mit dem Herz.
Werner: Ach wo! Mit Tabletten geht das schon. Komm mit!
So viele Freunde waren schon auf Reisen. Nur wir noch nicht.
Rosemarie: Ich würde gern, aber ich schaffe es nicht mehr.
Werner: Junge Leute haben das Leben noch vor sich. Und wir?
Sind wir schon so alt, daß wir immer in diesen 4 Wänden hocken müssen?
Nein! Wir müssen mal raus hier und eine Reise machen!
Rosemarie: Tut mir leid, ich kann nicht mehr. Aber morgen ist unser Hochzeitstag.
Ich weiß noch nicht, was ich dir schenken soll. Was möchtest du?
Werner: Ich weiß nicht. Ich weiß auch noch nicht, was ich dir schenken soll.
Rosemarie: Davon habe ich eben geträumt. Ich wünsche mir, daß wir noch einmal miteinander tanzen, so wie bei unserer ersten Begegnung!
Werner: Ich erinnere mich. Willst du wirklich bloß tanzen? Ist das alles?
Rosemarie: Ja. Komm, wir probieren es! Na gut.
Es geht immer besser!
Werner: Sehr gut! Wir haben es noch nicht vergessen. Stimmt!
Und was soll ich dir morgen schenken?
Mein Wunsch ist: Sag bitte noch einmal, so schön wie damals, zu mir "Ich liebe dich!" Das möchte ich zu gerne sehen!
Rosemarie: Du wünschst dir wirklich, daß ich das noch einmal sage? - Ja, bitte!
Also gut. ICH - LIEBE - DICH !
Werner: Ja! Genauso war es gewesen, damals beim erstenmal!
Oh, eine Stunde ist schon um. Die Batterie ist jetzt voll.
Ich muß den Fotoapparat holen. Machst du dich bitte fertig?
So, jetzt noch den Lippenstift. Ja.
Rosemarie: Gut. Fertig?
(drückt auf den Auslöser, setzt sich zu ihr - Apparat blitzt)
Am Vorabend des 50. Hochzeitstages
Ein Stück von Volkmar Jaeger,
Dina Tabbert,
Thomas Zander,
(IFKG)
Darsteller:
Dina Tabbert,
Thomas Zander
gesprochen von:
Sabine Goßner,
Stefan Goßner
Regie Gerhard Schatzdorfer

PRÄSENTATOR: Ich möchte Ihnen noch ein wenig über den geschichtlichen Hintergrund dieses Theaterstücks erzählen.
Die Nationalsozialisten haben im Juli 1933, also schon kurz nach ihrer Machtübernahme, das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" erlassen. Dieses Gesetz hatte schreckliche Folgen für Behinderte, besonders auch für gehörlose Menschen. Ungefähr 20.000 Gehörlose sind damals zwangsweise sterilisiert worden. Es war eine furchtbare Operation, die man mit der heutigen Sterilisation nicht vergleichen kann.
Etwa 3 % der Betroffenen haben diesen Eingriff nicht überlebt. Die anderen konnten nicht nur keine Kinder bekommen, sondern mußten oft auch ihr ganzes Leben lang an den Spätfolgen leiden.
Nach 1945 hat es noch 35 Jahre gedauert, bis der Staat anerkannt hat, daß diesen Gehörlosen durch den Hitler-Staat Unrecht angetan worden war.
Im Jahr 1980 hat der damalige Finanzminister Matthöfer Mittel dafür bereitgestellt, daß jeder Betroffene eine Entschädigung in Höhe von DM 5.000 erhält. Etwa 2.000 Gehörlose haben seither eine solche Zahlung bekommen.
Es ist vor allem einem Mann, dem GL-Lehrer Horst Biesold aus Bremen, zu verdanken, daß dieses Unrecht aufgedeckt und eine Wiedergutmachung durchgesetzt wurde. Sein größtes Verdienst ist, daß er den Gehörlosen geholfen hat, aus ihrem Schweigen herauszukommen.
Bis 1980 war dieses Thema ein Tabu-Thema: Keiner wollte darüber reden, aus Angst oder aus Scham oder weil sich manche vielleicht immer noch "erbkrank" und minderwertig fühlten. Das hat sich geändert, als öffentlich bekannt wurde, was damals geschehen war, auch durch eine "Sehen statt Hören"-Sendung im Januar 1981, die viel Beachtung fand.
Für uns wird es weiterhin wichtig bleiben, daß die Vergangenheit nicht verschwiegen und nicht vergessen wird.


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