Pssst, Candy will auch alles hören


Ein schwerhöriges Mädchen lernt seit einem Jahr
an einer ganz normalen Grundschule bei Görlitz

wpe1.jpg (10369 Byte) Von Anja Hecking
Ganz leise huscht eine Maus vorbei . . ." So beginnt die Geschichte. Die Mädchen und Jungen in der ersten Klasse der Friedersdorfer Grundschule sollen sie erzählen. Die Lehrerin spricht laut und deutlich. Sie bemüht sich um kurze Sätze und klare Anweisungen. Daß Bettina Kaiser einen winzigen Sender mit einem Mikrofon trägt, sieht man gar nicht. Den Empfänger hat Candy im Ohr.
Nur so kann das siebenjährige Mädchen hören, was ihre Lehrerin und die Klassenkameraden sagen. Candy ist schwerhörig. Martina und Joachim Stelzmann aus Friedersdorf wollten ihre Tochter nicht auf eine Schule für schwerhörige Kinder nach Dresden schicken. Das hätte Internatsbesuch und damit Trennung von Familie und Freunden aus dem Dorf bedeutet. "Candy ist doch ein ganz normales Kind. Und in der Schule muß sie sich wie im Leben später behaupten lernen", begründen die Eltern.

Teppiche am Boden und Filz auf den Tischen

Als die Einschulung im vergangenen Jahr näher rückte, wandten sie sich an die Schulleiterin in ihrem Heimatort. Rosita Wolf teilte die Ansicht, daß mit dem Wechsel nach Dresden auf Candy und ihre Eltern eine große Belastung zugekommen wäre. Auch wenn das Mädchen in einer Sonderschule anders gefördert werden könnte. Da laut Verfassung und Schulgesetz Kinder bis zu einem gewissen Behinderungsgrad an der Regelschule lernen dürfen, beantragte die Schulleiterin finanzielle Förderung. Der Friedersdorfer Bürgermeister sagte die Unterstützung der Gemeinde zu.
Der Raum für die 27 Erstkläßler mußte eine geeignete Akustik haben. Ausgerechnet ein relativ kleines Zimmer in dem alten Schulhaus gleich neben der Kirche kam dafür in Frage. Eine Teilung der Klasse lehnte das Schulamt vorerst ab. So kommt es, daß im Domizil der ersten Klasse gar keine Schränke stehen. Auch sonst lernen die Noch-Erstkläßler in einem besonderen Raum. Auf den alten Holzdielen liegt Teppichboden, an den Fenstern hängen dicke Übergardinen. Filzauflagen auf den meisten Schulbänken schlucken Geräusche.
"Wenn wir nicht so laut sind, kann Candy uns viel besser hören", erklärt Ricardo. Martin weiß, daß man die Fibel und das Mathematikbuch auch ganz leise aufschlagen kann. Marita überlegt: "Manchmal müssen wir einfach lauter zu Candy reden." Und Mario macht klar, daß das Hörgerät kaputtgehen kann, wenn man Candy ärgert. Sie kann sich inzwischen ganz gut allein wehren, beteuert Bettina Kaiser, die Klassenleiterin. In ihrer ersten Klasse gehe es genauso aufregend und alltäglich zu wie in jeder anderen Klasse auch.

Zwei Förderstunden und Rat von Therapeuten

Ganz leise läuft der Polylux. Katz und Maus sind an der Wand zu sehen. "Mit einem großen Satz springt die Katze der Maus hinterher . . ." Bettina Kaiser malt mit ihren Händen einen großen Bogen durch die Luft. Sie erklärt: "Für Candy ist es schwierig, viele Informationen auf einmal aufzunehmen. Sie muß sich besonders konzentrieren und aufmerksam sein, beim Zuhören auf den Mund schauen." Deshalb übt die Klassenlehrerin mit ihr in zwei Förderstunden pro Woche. Sie selbst holt sich immer wieder Rat und neue Kenntnisse von Sprachtherapeuten und Pädagogen der Sprachheilschule.
So geht in einer Woche auch für Candy und ihre Mitschüler das erste Schuljahr zu Ende. Ab September lernen sie in zwei getrennten Klassen weiter. Candy behält ihre Klassenlehrerin gemeinsam mit höchstens 14 weiteren Mädchen und Jungen. Wenn sie auch manchmal Schwierigkeiten habe, im Unterricht mitzukommen, so möchte sie trotzdem nicht mit ausschließlich schwerhörigen Kindern lernen. Auf die Frage, ob sie schon weiß, was sie einmal werden möchte, nickt sie sofort: "Lehrerin!"
Sächsische Zeitung Lokales


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