Staat will Gebärdensprache der Gehörlosen anerkennen


Ein lautloser Triumph
Als „Affensprache“ geschmäht – Bald Anspruch auf Dolmetscher
VON RAINER WORATSCHKA

NÜRNBERG – Die Gebärde ist eindeutig: Die Hände wandern zur Brust, umschließen das Herz und überreichen es dem Gegenüber. „Ich liebe dich!“ Kein Gehörloser würde das in der mühsam erlernten Lautsprache artikulieren, glaubt Dieter Haas, Direktor des Nürnberger Gehörlosenzentrums. Was er damit sagen will: Menschen, die nicht hören können, haben ihre ureigene Ausdrucksweise. Und weil die „wichtig ist für die Seele“, sollte sie auch in der Schule ihren Platz haben.

 Für einen Gehörlosen-Pädagogen ist das schon eine recht fortschrittliche Meinung. Vor 20 Jahren schlug man gehörlosen Schülern noch auf die Finger, wenn sie sich der „Affensprache“ bedienten. Das Lernziel hieß „lautsprachliche Kompetenz“. Die Kinder sollten sich mit aller Gewalt so verständigen können wie der Rest der Welt – obwohl sie sich mit ihren mühsam geformten Worten und unkontrollierbaren Lauten oft gerade erst ins gesellschaftliche Abseits stellten. Noch heute, so schätzt der Nürnberger Gehörlosenpfarrer Joachim Klenk, beherrschen 80 Prozent der Lehrer an Gehörlosenschulen nicht einmal das Hilfsmittel einer lautsprachbegleitenden Gebärde (LBG). Geschweige denn die deutsche Gebärdensprache (DGS). „Die kann vielleicht einer pro Schule.“

 Pflichtfach für Schüler

  Das soll anders werden. Nachdem das Europa-Parlament seinen Mitgliedsstaaten das Gebärden schon vor zehn Jahren als „gleichberechtigtes Kommunikationsmittel“ empfohlen hatte, wollen nun auch hiesige Politiker das lautlose Deutsch als Sprache anerkennen. Das bedeutet: DGS als Pflichtfach an den Gehörlosenschulen und in der Lehrerausbildung. Mehr Lernangebote auch für Hörende. Und vor allem: Jeder Gehörlose hätte Anspruch auf einen Dolmetscher.

 Bislang bekommen nur finanziell Schwache die Dolmetscher-Einsätze bezahlt. Wer mal schnell einen Rechtsanwalt konsultieren will, muß einen Antrag beim Sozialamt stellen – und oft wochenlang warten. Beim Arztbesuch dasselbe Problem: Die wenigsten Krankenkassen bezahlen einen Übersetzer. Lediglich im Beruf, bei Vorstellungsgespräch oder Weiterbildung, kommen Arbeitsamt und Bezirk anstandslos fürs Dolmetschen auf.

 Daß die deutschen Politiker das Problem so lange ignorierten, haben sich die Gehörlosen selber zuzuschreiben. Seit Jahren tobt in ihren Reihen ein erbitterter Streit. Skeptiker befürchten, mit einer eigener Sprache im volends ausgegrenzt und von Dolmetschern abhängig zu werden. Außerdem, so Wolfgang Müller vom Landesverband, drohe die Ausgrenzung all derer, die sich anders artikulierten: mit Lautsprache, lautsprachbegleitender Gebärde, Mimik, Fingeralphabet sowie regional sehr unterschiedlichen Ausdrucksweisen. Müller: „In der Anerkennung einer einzigen Kommunikationsform stecken Gefahren.“

 Die größte, so kontern DGS-Befürworter, sei die, daß sich nichts ändert. Durch die Beschränkung auf lautsprachlichen Unterricht bleiben viele der rund 80 000 Gehörlosen in Deutschland auf niedrigstem Bildungsniveau – sie kommen nicht über das Sprachvermögen eines Viertkläßlers hinaus. Experten vergleichen den Kampf der Gehörlosen um die Lautsprache mit dem Versuch, im Fernsehkurs bei abgeschaltetem Ton Chinesisch zu lernen. Manche Eltern erleben ihn als einziges Fiasko. Wolfgang Kriak zum Beispiel. Der hörende Nürnberger wußte seiner gehörlosen Tochter Judith nicht anders zu helfen als mit der verpönten Gebärdensprache. Heute ist er sich sicher: „Wenn ich mich nach den Fachleuten gerichtet hätte, wäre sie nicht halb so selbstsicher. Und sie hätte nicht ein Achtel ihres Wissens.“

 Die Versteifung auf die Lautsprache verstärke Frust und Hilflosigkeit, berichtet Rudi Sailer, Vizepräsident des Deutschen Gehörlosenbundes. Die meisten lernten weder richtig zu sprechen noch zu schreiben. „Mit Gebärden könnten wir viel mehr Kompetenz erreichen“. Natürlich, und darauf legt der Gehörlose in der dritten Generation Wert, müsse man „für die hörende Welt“ auch die Lautsprache lernen. Beides sollte nebeneinander stehen, das Ziel heißt Zweisprachigkeit.

 Gute Erfahrungen  

Wie gut das funktionieren kann, haben die Erfahrungen anderer Länder bewiesen. Dank der zweisprachigen Erziehung sei das Bildungsniveau der Gehörlosen in Amerika „um ein mehrfaches höher als in der Bundesrepublik“, behauptet der katholische Gehörlosen-Seelsorger Pater Amandus aus Frankfurt. Der gleichzeitige Erwerb von Laut- und Gebärdensprache dauere länger, sei aber letztlich erfolgreicher, bestätigt Iris Ricke. Die Pädagogin leitet den „Kinderpark“ der Nürnberger Gehörlosengemeinde. Bei dem bundesweit einmaligen Projekt lernen gehörlose Kinder und ihre Angehörigen spielerisch das Gebärden.

 Ein Vorstoß, der den Initiatoren vor einem halben Jahr noch manche Anfeindung bescherte. Mittlerweile hat sich der Wind gedreht. Im bayerischen Landtag drängten sämtliche Parteien auf die Anerkennung der Gebärdensprache, berichtet Hans Stenz, der Leiter der Hauptfürsorgestelle Mittelfrankens. „Mit erheblichen finanziellen Mitteln“ werde man dies „schon im nächsten Jahr konsequent angehen“.

 Für die Mehrheit der Gehörlosen ein Grund, die Fäuste zu ballen. Nicht weil sie zornig wären. Mit dem Handrücken nach unten bedeutet diese Geste „Hoffnung“. Die DGS-Gegner freilich geben sich vergrätzt – eine Phalanx aus konservativen Verbands-Funktionären und „hörenden Fachleuten“, die nicht zuletzt die Sorge um die eigene Zukunft umtreibt. Unter altgedienten Lehrern an Gehörlosenschulen machten sich „Riesenängste“ breit, sagt Pfarrer Klenk. Mit der Anerkennung des Gebärdens müßten sie umlernen, womöglich wieder für Jahre in eine Schülerrolle schlüpfen. „Für viele ist das eine Existenzfrage.“
© NÜRNBERGER NACHRICHTEN


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