Intensivkurs in Gebärdensprache


Wer nicht hören kann, muß genau hinsehen

WEINSTADT. Uta Scholze formt mit ihrem Mund ein Wort, ohne es auszusprechen. Sie übt mit 14 Teilnehmern, die zum großen Teil gehörlos oder hochgradig schwerhörig sind, wie man von den Lippen abliest. ¸¸Oben'', verstehen die einen, andere meinen Ober, Oper, Omen, Oma oder Opa am Mundbild der Referentin erkannt zu haben. Nur 30 Prozent des Gesagten lasse sich vom Mund ¸¸absehen'', der Rest müsse aus dem Zusammenhang erschlossen werden. Ein schwieriges Unterfangen, das gelernt und geübt werden muß.

 In Weinstadt hat nun der Förderkreis zur Integration für Schwerhörige und Ertaubte (Fische) Gelegenheit dazu gegeben. In vier Tagen brachte Scholze den 14 Teilnehmern bei, worauf beim Ablesen von den Lippen geachtet werden muß. Nun soll der Kurs mit regelmäßigen Treffen fortgesetzt werden. Als ¸¸Gehirnjogging'' bezeichnet sie die Kunst zu verstehen, ob ¸¸Butter'' oder ¸¸Mutter'' gesagt worden ist - das Mundbild ist nämlich völlig identisch. ¸¸Dabei spielt auch die Hörtaktik eine große Rolle'', sagt die Bielefelder Pädagogin, die selbst ertaubt ist. Auch die Lichtverhältnisse seien wichtig. Ebenso das Selbstbewußtsein, das nötig ist, dem Gegenüber zu signalisieren, daß man ihn nicht verstanden hat.

 Das Selbstbewußtsein hat Mary lange Zeit gefehlt. Seit der Geburt ihres Sohnes ist sie schwerhörig. ¸¸Ich habe mich immer mehr abgekapselt'', erzählt sie. Zehn Jahre habe es gedauert, bis sie zu ihrer Hörschwäche habe stehen können. Grete ist einer der ertaubten Menschen, die von den Errungenschaften moderner Technik profitieren. Die 72jährige hat sich vor drei Jahren das sogenannte Cochlear-Implantat einsetzen lassen: Direkt in ihre Ohrnerven wurden Elektroden eingepflanzt, die die Verbindung zum Gehörgang herstellen. Der Nerv wird mit Strom gereizt und ermöglicht dadurch eine Geräuschwahrnehmung. ¸¸Das Hören mit dem Implantat muß neu gelernt werden'', sagt Grete, die sich immer noch nicht so ganz an den Knopf im Kopf gewöhnt hat. Zu laut und zu schrill seien die Töne, die ihr die Sensoren und Empfänger liefern.

 Nach langer Gehörlosigkeit habe das Gehirn verlernt, Geräuschsignale zuzuordnen, erklärt Herbert Matysiak, der Vorsitzende der Fische. Deshalb reichten auch modernste technische Hilfen nicht aus, um Ertaubten das Gehör vollständig zurückzugeben. Immer noch müsse von den Lippen abgelesen und mit begleitenden Gebärden das Gesprochene gedeutet werden.

 Die deutsche Gebärdensprache, die sich nur auf Gesten stützt, hat laut Matysiak eine eigene Kultur entstehen lassen. Gehörlose grenzten sich damit oft selber aus. Deshalb müsse das, was die Ertaubten noch an Sprachvermögen besitzen, gefördert werden. ¸¸Nur so ist eine wirkliche Integration möglich'', sagt der Experte. Lautbegleitende Gesten ergänzen die Sprache und werden darum im Intensivkurs ebenfalls geübt. Herbert Matysiak freut es deshalb besonders, wenn auch Angehörige an den Kursen teilnehmen. ¸¸Denn nur dann kann man wirklich nachvollziehen, was es bedeutet, wenn man auf Gebärden und das Ablesen vom Mund angewiesen ist.''
© 1998 Stuttgarter Zeitung, Germany


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