Presse-Echo
Selbst die Interessenverbände der Gehörlosen sind sich nicht einig

Wenn Sprachlosigkeit zum Politikum wird

Der traditionelle Streit zwischen den Verfechtern der Gebärden- und der Lautsprache ist noch immer nicht ausgestanden 
Von Michael Knopf

München - Als die Regisseurin Caroline Link im Dezember 1996 auf der Bühne stand, um für "Jenseits der Stille" den Bayerischen Filmpreis entgegenzunehmen, saß im Publikum auch Ministerpräsident Edmund Stoiber und wußte nicht so recht, was er vom unfeierlichen Gequengel der Frau da vorne zu halten hatte. Sie hoffe, sagte Frau Link, daß ihr FiIm die Gebärdensprache derart aufs Tapet und in die Medien bringe, daß sie "endlich anerkannt" werde.

Es mag Stoiber dabei ergangen sein wie fast jedem, der unbeleckt auf dieses Thema stößt: Inwiefern muß die Gebärdensprache noch anerkannt werden? Man sieht sie nicht nur im Film, sondern auch in der S-Bahn, und wie anders sollten sich Gehörlose verständigen, zumindest untereinander? Stoiber blieb dran - und dürfte nun wissen, daß das Selbstverständliche mitunter offenbar schwieriger zu akzeptieren ist als das Abwegige.

Das Problem ist, daß zwar unter den rund 80.000 Gehörlosen und 120.000 Schwerhörigen praktisch niemand die Gebärdensprache ablehnt - aber jene, die für Gehörlose sprechen, geteilter Meinung sind, und zwar in den abenteuerlichsten Koalitionen. Das EU-Parlament ist für die Anerkennung. Auch die deutsche Ministerpräsidentenkonferenz, aber nicht das Bundesland Hessen. In Bayern ist Stoiber dafür, aber sein Kultusminister Hans Zehetmair weniger; der Deutsche Gehörlosenbund will die Anerkennung. in seiner bayerischen Abteilung (= Landesverband Bayern der Gehörlosen e.V. Die 'sbw'-Schriftl.) hat der Vorstand Vorbehalte, weshalb ein Teil einen eigenen Interessenverband (=Bayerischer Interessenverband zur Anerkennung der Gebärdensprache. Die 'sbw'-Schriftl.) gegründet hat.

Zum Verständnis der Auseinandersetzung muß man um gut hundert Jahre zurückblenden: 1880, Mailand. Bis dahin hatte es keinen Streit darüber gegeben, daß die abermals hundert Jahre zuvor in Frankreich entwickelte Gebärdensprache, das Reden mit Händen, Lippen, Augen und Gesichtszügen eine vollständige und eigene Sprache sei. Doch dann setzte sich beim "Mailänder Kongreß" die sogenannte deutsche Methode durch, wonach das frühe Eintrichtern der "normalen" Lautsprache, so gut es bei Tauben geht, vorzuziehen sei.

Gegen die Gebärdensprache wurden großkalibrige Argumente vorgebracht: Um eine Affensprache handele es sich, und bei Frauen, die sie anwendeten, wackelten die Brüste. Heute gibt es in den Vereinigten Staaten eine Gehörlosenuniversität, an der ausschließlich "gebärdet" wird; in Frankreich, Schweden oder Griechenland ist die Gebärdensprache offiziell anerkannt - nur hierzulande scheint das Busen-Argument noch eine Rolle zu spielen.

Pädagogen müßten umlernen

Freilich sagt das so niemand: Es gebe sachliche Vorbehalte, und die seien natürlich nicht böse gemeint, heißt es. Da wird alles in einen Topf geworfen, Gehörlosigkeit, Schwerhörigkeit - obwohl zum Beispiel ein spät Ertaubter eine andere Einstellung zur Lautsprache hat als jemand, der nie in seinem Leben ein Wort hören konnte. Viele Pädagogen können selbst nicht gebärden - sie müßten umlernen und damit die bisherige Praxis in Frage stellen. Manche Eltern fürchten, ihre Kinder fielen aus der "normalen" Welt, wenn sie nicht möglichst schnell und gut sprechen lernten. Und gibt es da nicht auch technische Fortschritte, Implantate, die eventuell vorhandene Reste von Hörfähigkeit verstärken?

Wer der Meinung ist, gebärdende Gehörlose isolierten sich von der sprechenden Mehrheit und verfügten nur über unvollständige Kommunikationsmöglichkeiten, ist vorwiegend auf Integration um jeden Preis aus - ohne zu berücksichtigen, daß genau dieser Drill von den Betroffenen als Vergewaltigung empfunden wird. Niemals können die "Tauben" hören, was sie reden, und wenn sie mühsam von den Lippen ablesen, verstehen sie auch nur etwa 30 Prozent. Das ist zwar die einzige Möglichkeit, ohne Dolmetscher in der Welt der Hörenden mitzuhalten, und deshalb durchaus wichtig - aber es ist als "Fremdsprache" kein Ersatz für eine wirklich eigene Muttersprache", die Gebärdensprache eben. Es ist schwierig, die Skeptiker zu einer Stellungnahme zu bewegen - der Landesverband Bayern der Gehörlosen war dazu trotz mehrmaliger Bitten nicht in der Lage. Über ihn ist nur zu erfahren, was Ulrich Hase sagt, der Präsident des Deutschen Gehörlosenbundes: "Die Basis ist anderer Auffassung als die Spitze." Zumindest jener Teil, der den "Bayerischen Interessenverband zur Anerkennung der Gebärdensprache" gegründet hat. "Es ist erstaunlich", schreibt dessen Vorstandsmitglied Rupert Kuglmeier, daß lautsprachlich kompetente Vertreter des Landesverbandes die Vielseitigkeit und Leistungsfähigkeit der Gebärdensprache in Frage stellen, obwohl sie selbst in ihr kommunizieren." Der Verband sei gespalten in Befürworter der Anerkennung ohne gesetzliche Grundlage und Befürworter der gesetzlichen Anerkennung.
Haarspalterei?
Was gesetzliche Anerkennung hieße, ist einem Brief Stoibers an seine Minister zu entnehmen: Unterricht in Lautsprache und Gebärdensprache an den Gehörlosenschulen; Gebärdensprache als Pflichtfach beim Studium der Gehörlosenpädagogik; Anerkennung des Berufs "Gebärdensprachen-Dolmetscher"; Nachdenken über die Frage, ob Gehörlosen nicht häufiger ein Dolmetscher finanziert werden müßte, was im Gegensatz zu den anderen Punkten mit Kosten verbunden wäre. Auch Stoiber weiß, daß er vom bayerischen Landesverband in dieser Sache keine Unterstützung erwarten darf, und möchte deshalb lieber den Bundesverband in die weiteren Verhandlungen eingebunden sehen.

Im Hause des Kultusministers Zehetmair hingegen hat der Landesverband eine starke Lobby (= Interessengemeinschaft Die 'sbw'-Schriftl.) - der für Ausbildungsfragen zuständige Mann könnte also möglicherweise auf die Anerkennung ohne gesetzliche Grundlage" setzen. Im Grunde auf den Status quo. Es spielte dann keine große Rolle, daß das Europäische Parlament schon 1988 die Anerkennung der Gebärdensprache gefordert und die deutschen Ministerpräsidenten im März dieses Jahres "befürwortet" hat, diese Entschließung umzusetzen.

Stoiber einig mit Grünen

Diesem Beschluß wiederum war ein einstimmiges Votum der Arbeits- und Sozialminister der Länder vorangegangen, Hessen also inbegriffen. Trotzdem kam in Wiesbaden eine interministerielle Arbeitsgruppe unter Federführung des SPD-geführten Sozialministeriums zum Ergebnis, der Einsatz der Gebärdensprache in der Schule sei abzulehnen "da hierdurch nicht die deutsche Schriftsprache erlerrt werden kann". Die hessischen Grünen hingegen verweisen auf die Koalitionsvereinbarung, nach der die Landesregierung sich für die Anerkennung der Gebärdensprache als eigenständige Sprache einsetzen wird und versuchen mit Hilfe eines Antidiskriminierungsgesetzes, der Vereinbarung Taten folgen zu lassen. Stoiber in München, die Grünen in Wiesbaden: eine ungewöhnliche Interessengemeinschaft.

"Wer die Gebärdensprache kann", sagt Ulrich Hase, "wird auch besser in Laut- und Schriftsprache sein, denn es gibt ja ohne Gebärdensprache keine kommunikativen Mittel, um die Sprache zu lernen."

Vielmehr ist es derzeit so, daß wegen des dominierenden Artikulationstrainings die Inhalte zu kurz kommen, weshalb viele Gehörlose die Schule trotz aller Intelligenz mit einem mäßigen Bildungsniveau verlassen. Der "Erwerb von Weltwissen", sagt Klaus Günther, Professor für Gehörlosenpädagogik in Hamburg, funktioniere mit Gebärdensprache in ganz anderer Form. Günther betreut einen Schulversuch: "bilingualer" Unterricht, Gebärdensprache plus Lautsprache, also genau das, was nach einer Anerkennung Standard würde. Die Kommunikation sei altersgemäß, die Schüler entwickelten sich besser als Vergleichsgruppen. Natürlich wurde auch in Hamburg das Ende der Erziehung Gehörloser prophezeit - empirische Belege fanden sich freilich nicht.

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