Der erste gehörlose Gehörlosenlehrer der Bundesrepublik wanderte für sein Referendariat aus
Olaf Tischmann will nach seiner Pioniertat in der Gebärdensprache unterrichten und den gehörlosen Kindern Selbstbewußtsein für das Leben in zwei Welten geben
Olaf Tischmann sagt an der Wohnungstür im hohen Diskant "Hallo", kann seine eigene Begrüßungsformel aber nicht hören. In der Schule hat der gehörlose Lehrer mit Erfolg die Lautsprache erlernt, so daß er vieles Hörenden mündlich mitteilen kann, ohne gleich alles aufschreiben zu müssen. Doch für diesen Nachmittag in Hamburg-St. Georg gesellt sich die Dolmetscherin Ulrike Walther zu uns. Sie wird aus der deutschen Gebärdensprache übersetzen, die Olaf Tischmann in atemberaubender Schnelligkeit mit seinen Händen formt. Olaf läßt die ausgestreckten kleinen Finger aneinanderstoßen, geht mit drei Fingern auf einer Hand und zeigt auf den Besucher. "Wie geht es dir?", übersetzt die Dolmetscherin Olafs Frage. Ein Nicken mit gleichzeitigem Lächeln kommt als Antwort vom Besucher. Es ist eine mimische Ungenauigkeit im Ausdruck, über die Olaf herzlich lacht. Aber immerhin braucht die Dolmetscherin dies nicht in die Gebärdensprache zu übertragen.
Vor einem Jahr hat er die Prüfungen an der Hamburger Universität bestanden. Jetzt ist Olaf Tischmann der erste gehörlose Sonderpädagoge der Bundesrepublik. Doch er wanderte für sein Referendariat aus &endash; nach Österreich. Seit einem Jahr unterichtet der Gehörlosenlehrer am Landesinstitut für Hörgeschädigtenbildung in Graz Sport, Deutsch und Mathematik in der Gebärdensprache, in der für Gehörlose natürlichen Sprache, mit der sich Rilkes Liebesgedichte ebenso aufsagen wie Einsteins Relativitätstheorie rechnen lassen. Dabei, so sagt Olaf, sei es nicht selbstverständlich, daß er die Gebärdensprache beherrscht. In der Schule wurde sie nicht unterrichtet und war verboten. Er lernte sie heimlich auf dem Schulhof, und immer wenn ein Erzieher in Sicht kam, hörten die Schüler schnellstens auf zu gebärden, da sie sonst Strafen zu erwarten hatten. Olaf erhebt drohend den Zeigefinger und läßt den Arm von oben nach unten schnellen. Beim Wort "Strafe" zucken kurz die Augenbrauen in die Stirnfalte.
Einmal, es war im Internat und Olaf war sieben Jahre alt, gebärdeten Olaf und seine zwei Zimmergenossen abends bei Zimmerlicht. Thomas mit den Locken, hieß der eine, Thomas mit der Tolle der andere. Sie erzählten sich die Geschichten des Tages. Eine Erzieherin bemerkte das und verwarnte die Jungs. Nach der dritten Verwarnung schraubte die Pädagogin kurzerhand die Glühbirne heraus, nahm sie mit und schloß die Zimmertür von außen ab. Bis am nächsten Morgen mußten die Kinder in der Dunkelheit allein bleiben. Dann kam die Erzieherin und verteilte vor den Augen anderer Internatskindern einen Lappen und einen Eimer, um die Notdurft öffentlich von den drei Jungs aufwischen zu lassen, die sie in ihrer Not auf dem Linoleumboden des Schlafzimmers hinterlassen hatten. "Das war das Allerschlimmste", sagt Olaf heute, "es war Drill wie beim Militär." Er bewegt mit der Hand das allgemeine OK-Zeichen hin und her, bildet mit dem Mund das Wortbild für "schlimm" und verzerrt das Gesicht vor Schmerz an die Erinnerung.
Auch auf der Kollegschule in Essen, wo Gehörlose bis heute einzig ihr Abitur in Deutschland machen können, war die Gebärdensprache verpönt. Viele Unterrichtsstunden waren vertan. Olaf sah die Mundbewegungen der Lehrer und verstand kaum ein Wort. Zwar beherrscht er das Lippenlesen ganz gut, doch zum Beispiel ist das "b" mit dem "m", mithin sind viele Worte zu verwechseln. So mußte er den Stoff an langen Nachmittagsstunden aus Büchern filtern, und ein Freund, ein wahrer Könner im Ablesen, erzählte Olaf im Nachhinein in Gebärdensprache vom Unterricht. In den Schulen wird so bis heute die Lautsprache gelehrt, die im Artikulationsunterricht den Kindern in mühsamen Einzelstunden beigebracht wird. Doch nur ein Drittel, geben selbst Anhänger dieser oralen Methode zu, erreichen ein lautsprachliches Niveau, das sie befähigt, sich verständlich auszudrücken. In neuester Zeit probieren zwei Klassen in Hamburg den zweisprachigen Unterricht. Die Kinder erfahren die Gebärden- und die Lautsprache als Erst- und Fremdsprache, und entgegen der Furcht der sogenannten Oralisten sind die Kinder, die jede Minute gebärden, auch bei der Artikulation von Lauten mit Begeisterung dabei und lernen darüber die Schriftsprache. "Das ist sehr gut", meint Olaf zu diesem bilingualen Projekt, "die gehörlosen Kinder werden keine Sprachkrüppel, weil sie mit der Gebärdensprache eine eigene Sprache haben." So müssen Gehörlose nicht mit Gewalt sprechen lernen. Mit Gebärden kommen sie besser zurecht.
Davon war zu Tischmanns Schulzeit noch keine Rede. Das Dogma der Lautsprachlichkeit, das in Deutschland vorherrschte und herrscht, traf ihn mit voller Wucht und warf ihn um einige Jahre zurück in der Persönlichkeitsentwicklung, da mit der lautsprachlichen Erziehung ein Wissensdefizit einhergeht. Doch wuchs in Olaf zu jener Zeit der Wunsch, Lehrer zu werden, aber es war noch eine scheu gedachte Idee. Als es an der Schule eine Stunde in Berufsorientierung gab, teilte Olaf dem Lehrer seinen Berufswunsch mit. "Ich möchte Sportlehrer werden", sagte Olaf zu ihm. Der Lehrer sagte, das sei sehr schwer und nichts für ihn. Olaf fragte, wieso es so schwierig sei, und der Lehrer sagte, Olaf sei ja gehörlos, das gäbe große Schwierigkeiten. Wieder gab sich der Junge nicht mit der Antwort zufrieden, da sagte der Lehrer endlich, was er wirklich dachte. Er sagte: "Hörende sind viel schlauer als Gehörlose." Olaf zeigt mit dem Zeigefinger auf das Ohr und nimmt den Finger weg, winkt dann mit der flachen Hand ab und läßt den Finger am Kopf hochschnellen.
Auf solche Behinderungen sei er oft gestoßen, sagt Olaf Tischmann heute. Das führe unter den Gehörlosen zu einer defizitären Ansicht von sich selbst, wie die Wissenschaftler sagen. "Emanzipation ist schwer möglich, aber unbedingt nötig", sagt Olaf Tischmann. Er habe sich durchbeißen müssen, immer wieder. Eine erste Stärkung in seiner Identität habe er vom jetzigen Präsidenten des deutschen Gehörlosenbundes erhalten, der damals ein Jura-Student war. Ulrich Hase munterte den jungen Olaf auf, nicht auf die Negativäußerungen zu hören. "Unter den Gehörlosen und den Hörenden gibt es gleich viel Dumme und gleich viel Kluge", sagte damals Hase zu Olaf, und für Olaf waren das Worte, die einen Klang von Freiheit hatten. Olaf sagt tonlos "Freiheit" und hält beide Hände offen nach unten, als ob er auf dem Klavier spielen wolle, läßt die Hände dann auf einmal nach oben zum Kopf hin schnellen.
An der Universität war auf einmal die Gebärdensprache gefragt, weil dort gehörlose Studenten wie Hörende behandelt werden. Olaf bekam vor sieben Jahren eine Dolmetscherin gestellt, die mit in die Vorlesungen und Seminare kam, für ihn die Reden übersetzte und Olafs Einwürfe und Referate verlautsprachlichte. Er hat die offenen Unterrichtsformen in den Erziehungswissenschaften schätzen gelernt und will in seinem Unterricht nicht immer frontal am Pult stehen. In der Gehörlosenpädadogik hörte er erstmals von der Identitätsbildung Gehörloser, und heute nimmt er sich vor, diese zu stärken. Die Pädagogik für geistig Behinderte lehrte ihn die Mehrfachbehinderungen von manchen Gehörlosen und die Wichtigkeit von Alltagsfertigkeiten, die sie benötigen, um einfachste Dinge wie das Anziehen zu bewältigen. In Sport schließlich machte Olaf sieben Fachausbildungen, lernte in der Sportmedizin die Anatomie des Körpers kennen, spielt den Rechtsaußen beim Basketball und schwimmt die hundert Meter in guter Schnelle. Seine Examensarbeit schrieb der Student über die nonverbale Kommunikation, eine weltweit bekannte Vorstufe der Gebärdensprache. Olaf Tischmann bereiste Südafrika und schrieb in seiner Examensarbeit einen Erfahrungsbericht über einen Studenten, der mit gehörlosen schwarzen Kindern in einer Mischfrom von Englisch und nonverbaler Kommunikation sprach, so daß "Rassenschranken" überwunden werden konnten.
Das Traumland aber sind die Vereinigten Staaten. Dort gibt es ein landesweites Netzwerk von Gehörlosen, eine eigene Universität für sie und eine bilingual-bikulturelle Welt. "Diese Bi-Bi-Welt ist faszinierend", sagt Olaf Tischmann. "In manchen Cafés in Fremont in Kalifornien zum Beispiel spricht die eine Hälfte der Gäste in Lautsprache und die andere Hälfte in Gebärdensprache, weil dort viele Bewohner auf eine große Gehörlosenschule gehen. Es gibt Fitness-Center, in denen Hörende und Gehörlose gemeinsam trainieren, Sportplätze, auf denen Hörende und Gehörlose in derselben Mannschaft spielen." Der Leiter der Gehörlosenschule in Fremont ist selbst gehörlos, auch der Leiter der Gallaudet-Universität in Washington D.C. ist heute ein Gehörloser, nachdem die Studenten dafür protestiert und sich durchgesetzt hatten. "Das ist eine Emanzipation, die in Deutschland leider noch undenkbar ist. Dieses Land hier ist einfach rückständig für uns", sagt Olaf Tischmann. Er hält beide Daumen hoch, wobei der Daumen für Deutschland hinter den Daumen für die Vereinigten Staaten tritt.
Und so blieb der erste gehörlose Gehörlosenpädagoge der Bundesrepublik nicht in diesem Land. Weil er hier während seines Referendariats keinem bilingualen Projekt beigeordnet worden wäre, ging Olaf Tischmann für zwei Jahre nach Graz in eine zweisprachige Klasse. 23 Wochenstunden arbeitet er, 16 Stunden unterrichtet er allein, er fühlt sich wohl dort und vor allem akzeptiert.
Aber auch in der Schule in Graz, wo Olaf Tischmann das Konzept der Zweisprachigkeit umsetzen sollte, war aller Anfang schwer. Nicht alle Lehrer emfpingen ihn mit offenen Armen. So blieb Tischmann zuerst vorsichtig und zurückhaltend. Für viele Lehrer war es eine Überraschung, daß er erzählen konnte, oft laut und klar sprach. "Das konnten viele nicht glauben", sagt Olaf Tischmann. "Einmal gab ich Artikulationsunterricht, weil ein Lehrer ausgefallen war. Ich formte mit den Kindern Laute und Wörter. Da kam der Lehrer in die Klasse, der mir am skeptischsten gegenüberstand. Als er mich sah, wie ich sprach, sagte er: 'Sie können ja auch sprechen. Das gibt es doch nicht'."
Jetzt, nach einem Jahr an der Schule, hat sich die Aufregung gelegt. "Meine Kinder haben mächtig aufgeholt. Gebärdeten sie am Anfang noch passiv und unkoordiniert, reden sie jetzt selbstbewußt, klar und deutlich in der Gebärdensprache. Sie sind weiter als die anderen Klassen, in denen die Gebärdensprache, ihre Sprache nicht von einem gehörlosen Lehrer gepflegt wird."
Vielen Kindern war am Anfang nicht klar, daß es einen Unterschied gibt zwischen Hörenden und Gehörlosen. Olaf Tischmann sagte ihnen gleich in der ersten Stunden: Ihr seid gehörlos. Heute fragen die Kinder Besucher, die zahlreich in die Klasse kommen, zuallererst, ob sie hörend oder gehörlos sind. Sie nehmen dann den Fingerabdruck des Besuchers auf ein Blatt Papier &endash; Gehörlose auf die eine Seite, Hörende auf die andere. "Wir Gehörlose müssen uns klar sein, daß wir zuerst in einer eigenen Welt leben - dann ist es auch einfacher, sich in zwei Welten zu bewegen."
Nach der Zeit in Österreich, die ihm hierzulande als Referendariat anerkannt wird, will Olaf wiederkommen. Der Lehrer hofft, daß er dann nicht der einzige an deutschen Schulen sein wird, der in der Gebärdensprache unterrichtet. Aber ganz allein als tauber Akademiker in Hamburg ist er jetzt schon nicht. Vor drei Jahren absolvierte mit Angela Staab die erste Hamburger Gehörlose das Studium der Sozialpädagogik. Ihr folgten andere. Und vor zwei Jahren bestand der gehörlose Simon Kollien die Prüfung in Psychologie. Auch das ist ein Zeichen für die langsame, aber stetige Stärkung des Selbstbewußtseins der Gehörlosen in Deutschland. "Wir brauchen eben mehr Zeit", sagt Olaf Tischmann, "weil wir in einer Gesellschaft leben, in der die leisen Sprachen unter den lauten Sprachen nicht gleich gehört werden. Aber das ändert sich jetzt, zum Glück." Olaf hält die Daumenkuppe der einen Hand auf den Daumennagel der anderen Hand und reißt beide Daumen auseinander. Dabei schaut Olaf Tischmann so, als ob er das Ticket für die nächste Reise nach Kalifornien in der Tasche hätte.
Rafael R. Pilsczek, 1996