Identitätsfindung bei gestörtem Verhältnis zur Sprache

Es ist nötig, sich mit dem Wort "Identität" auseinanderzusetzen. Wir verstehen darunter die als "Selbst" erlebte innere Einheit einer Person. Identität ist die vollkommene Übereinstimmung mit dem Selbst in Fühlen, Denken, Wollen und Handeln.

Der moderne Mensch muß sich mit einer rastlos wandelnden Welt, mit einer gestörten Umwelt, einer kranken Natur, einer verunsicherten Mensch auseinandersetzen.

Es ist schwer, heute über SEIN selbst nachzudenken, SEIN selbst zu finden, zu seiner Identität zu kommen. Das heißt, sich selbst zu erkennen, mit sich selbst EINS zu werden. Unsere Wünsche, unser Fühlen, unser Können, unser Handeln sollen in Harmonie stehen mit unserem Innersten, unserem Selbst. Nur im Gleichgewicht unseres Selbst mit der Weit um uns sind wir glücklich.

Die Umwelt ist der Raum unseren Schicksals, unserer Gegebenheit. Wir müssen aus der Beziehung Umwelt und Innenwelt reifen zu einer Persönlichkeit. Aus Schicksal, Leid, Kampf und Selbsterkenntnis können wir eine Gesinnung und Haltung, eine Lebenseinstellung erwerben. Dies ist die Füllung unseres Lebensauftrages, sie trägt uns über Raum und Zeit.

Am Tempel Appolon in Delphi stand das Wort "DU BIST". Die Griechen erkannten dies als eine Mahnung des Gottes: "ERKENNE DICH SELBST!" Nur wer sich selbst erkennt, kann Gott erkennen, kann den Sinn des Lebens begreifen. Aus der Selbsterkenntnis können wir zu unserer inneren Einheit kommen, dem höchsten Ziel unseren Lebens. Nur so werden wir eine vollkommene innere Gleichheit und stimmen mit uns selbst überein.

Dann haben wir unsere IDENTITÄT gefunden.

Diese Lebensaufgabe hat jeder Mensch, hat jeder Gehörlose. Das Schicksal hat uns hart angefaßt, hat uns einen Sinn genommen, hat uns in Einsamkeit und Stille geworfen, hat uns von den Hörenden isoliert.

Taub sind wir auf die Welt gekommen, oder im Kindesalter ertaubt. Wir sind Fremde in der Gemeinschaft der Hörenden Wir stehen vor Mauern, wenn wir mit Hörenden sprechen wollen.

Stille ist, wenn brodelnde Stimmen um uns sind, wenn Kinder lachen, wenn Musik ertönt, oder die Stimme des Windes, der Vögel, das Rauschen des Wassers, das Dröhnen der Brandung - an taube Ohren stoßen. Mit diesem müssen wir fertig werden und wir können es auch.

Wir wissen, daß wir nicht hören und nicht mehr hören können. Mit dieser Kenntnis können wir leben. Aber mit einem müssen wir unser ganzes Leben lang immer wieder kämpfen und es seelisch verarbeiten: Den Sprach- und Kommunikationsschwierigkeiten. Diese belasten die zwischenmenschlichen Beziehung mit Normalhörenden jeden Tag. Die Tragweite dieser Behinderung erfassen die wenigsten Menschen.

Was es bedeutet, wenn taube Kleinkinder sich nicht verständlich machen können, wenn Eltern verzweifelt vor den "verhaltungsgestörten" Kindern stehen, wenn ein tauber Mensch im Kreis der Familie nur Wortbrocken mitbekommt, wenn Arbeitskollegen plaudern und der Gehörlose abseits steht, wenn er sich verständlich machen will und nicht verstanden wird. Wer hat darüber schon nachgedacht? Kaum ein Hörender.

Jeder Normalhörende weiß, was ein schönes Gespräch ist, was ein Gedankenaustausch, was ein gemeinsamer Gesang bedeuten kann. Sagte nicht schon Goethe: "Das Schönste, was ein Menschenherz beglückt, ist das Zwiegespräch!"

Der Normalhörende kann sich unterhalten, kann plaudern, kann sich aussprechen, kann zuhören. Er kann Gedanken und Gefühle anderer Menschen aufnehmen durch die Sprache Sprache ist die Brücke von Mensch zu Mensch. Der Gehörlose hat oft wenig Sprache, das gehörlose Kleinkind keine. Ein Gehörlosenseelsorger sagte einmal bei einer Predigt: "Das taube Kind hat nicht mehr vom Leben, als die Katze im Haus!" Da meinte er, daß das Kleinkind gestreichelt und gefüttert würde, aber sonst unverstanden vor seinen Eltern steht. Heute haben wir eine vorschulische Betreuung, es ist in dieser Sicht besser geworden.

Aber es liegt eine tiefe Wahrheit darin: Wo die Sprache fehlt, ist der Mensch allein und die Seele wund.

Der gehörlose Mensch hat in der Schule Sprache mühsam gelernt, sie bleibt unvollkommen. Jeder Laut, jedes Wort wurde mühsam beigebracht, oft in einer Art die für Lehrer wie Kind eine Qual war.

Zeitlebens wirkt diese qualvolle Sprachanbahnung im Unbewußtsein nach. Es kann sich zeigen in einer Abneigung des gesprochenen Wortes, in einem gestörten Verhältnis zur Schrif tsprache. Eine Auszubildende sagte einmal zu mir: "Ich bin taub, ich kann nichts dafür. Ich kann deshalb nicht gut sprechen. Darum auch nicht gut schreiben. Warum verlangst Du immer wieder soviel Aufsatz zu machen? Du bist grausam, ich kann doch nichts dafür, daß ich schlecht schreibe!"

Dieses gehörlose Mädchen war lebensfroh, glücklich und zufrieden mit seinem Schicksal. Die Sprachbehinderung machte ihr keine Sorgen, sie konnte ja nichts dafür, wie sie sagte.

Was bei diesem Mädchen bewundernswert ist.- Es war frei von Komplexen, frei von Minderwertigkeitsgefühlen, frei vom Schuldgefühl, eine unvollkommene Sprache zu besitzen.

Ehrlich hat sie ihre Schwäche zugegeben, hat erkannt, daß sie die Sprache der Normalhörenden nie vollkommen beherrschen wird. Damit hat sie ihre Identität gefunden, ihr inneres Gleichgewicht und das für ihr Leben so wichtige Selbstwertgefühl. Das gestörte Verhältnis zur Sprache war für sie nicht wichtig. Sie hatte ja ihre gehörlosen Freunde, mit denen sie mit Gebärdenunterstützung sprechen konnte -ohne das Bleigewicht der Taubheit zu spüren.

Man kann ruhig sagen, daß alle Gehörlosen die gleiche Lebenseinstellung haben, auch solche, welche sich sprachlich so gebildet haben, daß sie im Vollbesitz der Umgangssprache sind.

Eine Früherziehung, eine gute Schule, ein hilfreiches Elternhaus können viel helfen, besser zu sprechen und zu schreiben. Das Manko der Taubheit aber bleibt. Alle Gehörlosen, auch die gut sprechen und perfekt vom Munde ablesen, den stoßen bei der Kommunikation mit Normalhörenden immer wieder auf Schwierigkeiten.

Wie werden die Gehörlosen damit fertig, wenn sie eine Sprache haben, die normalerweise nicht genügt? Frühertaubte machen sich darüber wenig Gedanken, sie sind mit der Taubheit aufgewachsen, für sie ist das nie gehörte, gesprochene Wort wesensfremd. So bleiben die Wechselbeziehungen zwischen Hörenden und Gehörlosen auf das Wesentliche beschränkt. Sie ist für beide Seiten unvollkommen. Das gilt für alle Gehörlose ohne Ausnahme.

Der Gehörlose weiß dies und nimmt es als ein unabwendbares Übel an. Es ist selten, daß wir Gehörlose darunter leiden, vorausgesetzt, wir haben gesellschaftlichen Umgang mit anderen Gehörlosen. Hier benützen wir unsere eigene Sprache. Die sichtbaren Gebärden, mit denen wir uns seelisch verbunden fühlen. Seelische Schwierigkeiten haben meist nur die Spätertaubten und die oral erzogenen Gehörlosen, welche keinen Umgang mit anderen Gehörlosen haben. Für die Spätertaubten ist die Umstellung vom Hörenden zum Gehörlosen eine seelische Belastung, an der sie viele Jahre tragen. Sie wollen sich nie eingestehen, ein Gehörloser zu sein. Es dauert Jahre, bis sie sich damit abgefunden haben.

Woher haben nun die normalen Gehörlosen, welche sprachliche Schwierigkeiten haben, diese ausgeglichene seelische Haltung? Wie haben sie zu ihrer Identität gefunden, zu der Übereinstimmung mit sich selbst, mit ihrem Schicksal und ihrem Leben?

Jeder Erzieher weiß, daß es die Sprache ist, die für die geistige, emotionale und soziale Persönlichkeitsentwicklung relevant (bedeutsam) ist. Doch auch wir haben eine Sprache, die uns in der Persönlichkeitsentwicklung hilft, weil diese eine flüssige und mühelose, beglückende Kommunikation ermöglicht. Die Gebärdensprache ist eine wissenschaftlich anerkannte vollwertige Sprache, welche problemlos Gespräche möglich macht. Solche Gespräche können genau so wie es Goethe sagte, "Köstlich" sein und das Herz eines Gehörlosen erfreuen.

Durch diese Möglichkeit der Kommunikation fühlen sich die Gehörlosen mit den Gebärden seelisch verbunden. Wie Prof. PRILLWITZ sagt, ziehen die Gehörlosen aus der Gebärdensprache einen Teil ihrer Identität daraus.

So wird es verständlich, daß auch Gehörlose mit einem gestörten Verhältnis zur Sprache sehr glücklich sein können, ihre Taubheit akzeptieren als ein Schicksal, für das sie nichts können. Die Kraft zum Leben und zum MENSCHSEIN nehmen sie aus der Sprache, die sie sehen können und lieben: Ihre GEBÄRDENSPRACHE.

So finden sie unbewußt die Übereinstimmung mit sich selbst, so finden sie ihre IDENTITÄT.

INTERGRATION DER GEHÖRLOSEN UND INTERGRATION HÖRENDER

Vor vielen Jahren klagte ein Gehörlosenseelsorger: "Wenn ich mit den Gehörlosen spreche, stehe ich vor einer Mauer. Was mache ich denn nur falsch?" Da der Mann neu in seinem Beruf war, sagte ich ihm: "Für alle Menschen ist die Sprache die Brücke zum Anderen, also auch zu den Gehörlosen. Sie müssen lernen ihre Sprache, die Gebärden, zu benützen." Mit wenigen Gebärden bekam er schon Kontakt und viele Gehörlose als Freunde. So einfach war das.

Ein Vater klagte genauso, je älter sein Sohn wurde, desto weniger Kontakt hatte er mit dem gehörlosen Kind. Er staunte, daß der Sohn so flüssig, lebhaft und froh mit seinen Freunden plauderte, aber mit ihm nur bruchstückhafte Konversation führte. Der Sohn konnte als Gehörloser nicht schnell sprechen und das Absehen war ermüdend. Der Vater klagte: "Warum haben die Lehrer gesagt, ich soll keine Gebärden lernen!" Jetzt habe ich das Gefühl, daß mein Sohn entgleitet. Hätte er doch Gebärden gelernt!

Daß die Gehörlosen in der Welt der Hörenden integriert werden müssen, das verstehen alle. Daß aber auch die Normalhörenden, welche Kontakt mit Gehörlosen haben, etwas tun müssen, das war bisher nicht selbstverständlich. Das ist eine Ungerechtigkeit.

Auch Normalhörende müssen die Eigenart der Gehörlosen und ihre Sprache anerkennen und versuchen, sich zu integrieren. Das bedeutet, sie müssen lernen, deutlich zu sprechen und sich Gebärden aneignen. Wenn ein Hörender so den Gehörlosen entgegenkommt, der wird bestimmt sehr glücklich werden, wenn sein Kind, oder Verwandte oder Kollege darauf spontan reagiert, mit Freude und Aufgeschlossenheit.

Besonders die Eltern sollen so früh wie möglich Gebärden lernen, damit ist der Kontakt zum tauben Kind gegeben. Eine römische Psychologin hat festgestellt, daß ein Kleinkind von einem halben Jahr nicht nur auf Laute, sondern genauso auf Gebärden reagiert! Wenn das alle Eltern wissen und auch nur wenige Gebärden lernen, haben sie die Brücke zu ihrem Kind gefunden. Durch die lautsprachbegleitende Gebärde haben die Eltern eine qualitative und quantitative Verständigungsmöglichkeit, welche positive Auswirkungen auf die Gesamtentwicklung des tauben Kindes hat. Ein gutes Beispiel, das bei Gehörlosen allgemein bekannt ist, sind die bessere Entwicklung gehörloser Kinder bei gehörlosen Eltern. Hier war von Anfang an eine gute Kommunikation gegeben. Leider ist es oft so, daß sich die Eltern ihres tauben Kindes bewußt oder auch unbewußt schämen und mit Gewalt versuchen, aus dem Kind einen Hörenden zu machen. Eine solche Integration mit Gewalt muß fehlschlagen, weil eine Taubheit eine Behinderung ist, bei der auch eine beste Sprache und ein bestes Absehen vom Mund nie ein Gehör ersetzen können.

Gottfried Weileder,

mit 7 Jahren ertaubt, Prackenbach/Bayer.Wald