Vorwort des Schriftleiters
Liebe Leserin, lieber Leser,
Langjährige 'sbw'-Leserinnen und 'sbw'-Leser werden staunen, wenn sie heute nun die 50. 'sbw'-Ausgabe mit den letzten 33 Titelseiten des 'sbw' - von September 1990 bis Dezember 1998 verdichtet - auf der vorderen und hinteren Umschlagseite, noch mit rotem Überdruck "Selbstbewußt werden' feiert Jubiläum! Zum 50. Mal erscheinen Gedanken und Gefühle, Kritik und Forderungen" zusätzlich versehen, in Händen halten. Aus diesem Anlaß haben viele Seiten dieser Ausgabe einen "Jubelkranz" bekommen. Das Jubiläum muß mal gefeiert werden. Aber wie? Ich hatte eine Idee, eine Anzahl der ausgewählten Personen - es sind sowohl die 'sbw'-Pioniere als auch Persönlichkeiten aus verschiedenen Bereichen - um ein Grußwort zu bitten. Es hat einen großen Anklang gefunden. Der Höhepunkt aller Grußworte lautet: Es war eine bahnbrechende, geistige und soziale Loslösung aus der jahrhundertelangen Bevormundung und Abschnürung der "gut meinenden" Gesellschaft. Die Grußworte spiegeln hervorragend den 'sbw'-Lebenslauf und auch erschütternde Äußerungen. Nicht umsonst haben die anderthalb 'sbw'-Jahrzehnte auch verschiedene Wissenschaften mehr oder weniger befruchtet. Auch nicht umsonst war mein Aufruf "'Selbstbewußt werden' darf nicht sterben!" in 'sbw' 34/ 95 im Zusammenhang mit meiner Übernahme der 'sbw'-Schriftleitung im Januar 1995 gewesen. Jetzt überlasse ich Ihnen selbst das sicher bewegende Lesen der Jubiläums-Gratulationen.
50. Geburtstag der 'sbw'-Gründerin
Bereits im vergangenen Herbst hat Gertrud Mally das 50. Lebensjahr vollendet. Die 'sbw'-Schriftleitung wünscht dem Geburtstagskind nachträglich alles Gute, weiterhin viel Tatkraft und Gesundheit. Besonders viel Erfolg bei ihren neuen Gastvorlesungen vor den Studenten der Gehörlosenpädagogik an der Uni München. Noch vor nicht allzu langer Zeit wäre es wirklich undenkbar gewesen. Bravo Trudi!
Neue Staatliche Behinderten-Beauftragte
Im Videotext des Bayerischen Fernsehens war am 2.3.99 zu lesen: In München wurde heute die neue Staatliche Behinderten-Beauftragte der Staatsregierung in ihr Amt eingeführt. Die Entscheidung für die selbst behinderte Münchnerin Ina Stein fiel bereits im Dezember 98. Sie soll künftig auch an Kabinettssitzungen teilnehmen. Vorrangige Ziele von Frau Stein sind beispielsweise die Förderung der Gebärdensprache und die Durchsetzung des Diskriminierungsverbotes, das seit 1998 Bestandteil der Bayerischen Verfassung ist.
Die 'sbw'-Schriftleitung gratuliert Frau Stein zur Amtseinführung als Staatliche Behinderten-Beauftragte und erhofft von ihr wesentliche Impulse für die Gehörlosen- und Schwerhörigen-Pädagogik und das Gehörlosenwesen.
In der letzten 'sbw'-Ausgabe Nr. 49 war die letzte Meldung auf der letzten Seite zu lesen:
"Der Hessische Landtag beschließt einen Antrag zur Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache". Merke: Nur der Antrag ist beschlossen worden. Nicht die DGS ist anerkannt worden! Wann der wirkliche Anerkennungsprozeß eingeleitet wird, steht in den Sternen. Bis dahin ist noch viel, viel Arbeit bei den zuständigen Behörden zu bewältigen. Der erste Schritt ist aber vollzogen worden, was dem tüchtigen Landtagsabgeordneten Andreas Kammerbauer (schwerhörig und contergangeschädigt) hauptsächlich zu verdanken ist. Wie bereits bekannt ist, hat seine Partei Bündnis 90/Die Grünen bei der Hessenwahl im Februar einen herben Verlust erlitten, so daß Kammerbauer dann leider "raus" ist. Allerdings soll der Hessen-CDU-Sieger Koch angeblich für den DGS-Einsatz in den Schulen offen sein. Warten wir mal ab.
Wichtiger Bahnbrecher für die Zukunft der bilingualen Schulerziehung ist der Kinderpark in Nürnberg. Inzwischen ist die Berühmtheit des Kinderparks nicht nur auf Mittelfranken beschränkt sondern hat sich sogar auf Baden-Württemberg ausgedehnt. Nicht nur viele Eltern sind daran interessiert sondern sogar von Heilbronn kommt eine Mutter mit ihrem Kind zum Kinderpark gefahren. Es ist der gehörlosen Pädagogin und Leiterin Frau Iris Ricke aufgrund ihrer qualifizierten Arbeit zu verdanken.
Ganz schlimmen Unfug treibt die Bundesgemeinschaft der Eltern und Freunde hörgeschädigter Kinder mit ihrem Positionspapier zur Gebärdensprache in der Zeitschrift "Spektrum Hören" 12/98. Um diesen Verein handelt es sich vorwiegend um Eltern der schwerhörigen Kinder. Ihr Vorsitzende ist Schwerhörigenlehrerin Frau Hartmann, die immer noch nichts von der hohen Qualität der Kommunikation mittels der Deutschen Gebärdensprache kapiert hat oder ihr offensichtlich trotzig keine Bedeutung beimessen will. Nicht umsonst wurde sie als Schriftleiterin der Vierteljahreszeitschrift "hörgeschädigte kinder" vom Herausgeber, der Deutschen Gesellschaft zur Förderung der Gehörlosen und Schwerhörigen, vor Jahren wegen ihrer engstirnigen Redaktionsarbeit "gefeuert". Gegen das Positionspapier der Bundesgemeinschaft haben die Gebärdensprachforschung Frankfurt/Main, der Landesverband der Gehörlosen Hessen, der Ortsbund Frankfurt/Main und die Kath. Gehörlosenseelsorge PAX mit einem langen und umfangreichen Schreiben Argumente geliefert. Hier kurze Wiedergabe: "Die DGS-Forschung und Lehre (Frau Prof. Leuninger, Uni Frankfurt) hat uns erst ermöglicht, was bis heute das oberste Gebot der Hörgeschädigtenpädagogik ist: Integration. Wir sind der Sprachwissenschaft zu großem Dank verpflichtet, denn die Linguisten (Sprachwissenschaftler) haben uns mit der Erforschung unserer (Gebärden-) Sprache Kommunikation, Selbstbewußtsein und Würde gegeben. Vielleicht regen Sie unsere Gedanken zu Ihrem Positionspapier dazu an, Ihre Position zu überdenken und uns als Gesprächspartner, nicht als Unmündige zu sehen. Neben vieler Kritik vermissen wir bei Ihren Ausführungen vor allem eines: Das Gespräch mit erwachsenen Hörgeschädigten, mit Menschen, die nicht mehr bereit sind, über sich bestimmen zu lassen. 'Die Sprache ist das Haus des Seins'."
Der Vorstand der Bundesgemeinschaft hat immer noch nicht begriffen, daß die Grammatik der DGS unmöglich mit der der deutschen Lautsprache vergleichbar sein kann. Die DGS kann doch niemals mit dem Maßstab einer Lautsprache gemessen werden, genauso wie z. B. die chinesische Sprache. Außerdem wird Gehörlosigkeit medizinisch und nicht sozio-kulturell definiert. Ist der Vorstand immer noch weder lernfähig noch lernwillig? Was für ein Bockmist!
Im SPIEGEL 3/1999 ist der Artikel "Grammatik der Gesten" zu lesen. Die Autorin Maria Wisnet aus Friedberg hat in HÖRPÄD 1/99 dazu Stellung genommen und den Beschluß des Hessischen Landtags vom 10.12.98 kommentiert. So weit, so gut. Nur ihr letzter Absatz hat mich stutzig gemacht:
"Die Aussage der Schülerin im Landtag: 'Mit wem sollen meine Hände nach der Schule reden?' macht deutlich, daß es nicht im Sinne der hörgeschädigten Kinder ein 'Sowohl als auch' sondern 'Zuerst' und 'Dann' geben muß, was aufgrund der neurophysiologischen, medizinischen und pädagogischen Erkenntnisse bedeutet, daß zuerst die Lautsprache und dann Gebärden angeboten werden."
Au Backe! Es handelt sich um eine perfekte Verdummung der unbedarften Leser. Erstens ist von "Gebärden" und nicht von "Deutscher Gebärdensprache" geschrieben, was mich überzeugt, daß die Autorin sie arrogant und diffamierend vorenthält, und zweitens die kindliche, lebensunerfahrene Aussage dieser Schülerin ist eklatant als Vorzeigeobjekt in das Scheinwerferlicht gestellt worden, das einer Augenwischerei zum Nutzen gereichen soll.
"Land in Sicht" scheint das neue Positionspapier des BDH (Berufsverband Deutscher Hörgeschädigtenpädagogen, früher noch bis ca. 1992 Bund Deutscher Taubstummenlehrer) laut HÖRPÄD 1/99 nicht ganz zu sein. Es handelt sich um sieben Seiten, die hier natürlich nicht wiedergegeben werden können. In der Präambel (= Einleitung) ist nur von "Gebärden" und nicht von "Deutscher Gebärdensprache" die Rede. Ihr letzter Absatz lautet:
"Ziel der Förderung, Erziehung und Bildung ist die spätere selbstbestimmte Teilnahme hörgeschädigter Menschen am gesellschaftlichen und beruflichen Leben." 'sbw' meint dazu: Bitte nicht mehr schmalspurig wie bisher! Bitte der allerwichtigsten Identitätsbildung die aufrichtige und beruflich unegoistische Aufmerksamkeit schenken!
Das Positionspapier enthält vorsichtige Ansätze wie "Entwicklung eines Lehrplanes für das neu einzurichtende Fach 'Hörgeschädigtenkunde'" (neuartige, befremdliche Bezeichnung!), "Entwicklung eines Lehrplanes für den Einsatz unterschiedlicher (was ist das?) Gebärdensysteme", "Hörgeschädigtenstudenten müssen Kompetenzen u.a. im Bereich 'Einsatz von Gebärden' erwerben" und "Darüber hinausgehende Gebärdenkompetenz muß in einem eigenen Studienfach erworben werden". Aber es vermeidet wieder im offiziellen Ton die Erwähnung der 'Deutschen Gebärdensprache'. Offensichtlich aus hörbehindertenpädagogischer Feigheit!
Der BDH nennt unter "'Hörgeschädigtenkunde" wie folgt:
Hörgeschädigte Schülerinnen und Schüler haben zusätzlich zu ihrem Förderbedarf im Bereich des Hörens und der sprachlichen Entwicklung einen besonderen Informationsbedarf für die Auseinandersetzung mit speziellen Inhalten, die die Hörschädigung und das Leben Hörgeschädigter betreffen.
Hierzu ist es unbedingt notwendig, ein entsprechendes Fach einzurichten bzw. fachübergreifend ein ausreichendes Zeitkontingent (= Anteil) zur Verfügung zu stellen. Nur so ist gewährleistet, daß den Schülerinnen und Schülern Raum für hörgeschädigtenrelevante Fragen gegeben wird.
Hörgeschädigtenkunde soll sich u.a. befassen mit:
der eigenen Hörschädigung den Hörschädigungen anderer technischen Entwicklungen sozialen Beziehungeng
verschiedenen Kommunikationsmöglichkeiteng
Vorurteilen zwischen Hörgeschädigten und Guthörenden Hörgeschädigten in der Geschichte Möglichkeiten in der Berufsausbildung Hörgeschädigten in Vereinen und Verbändeng
Integration Hörgeschädigter in der Gesellschaft sozialen Hilfen und Rechtsbestimmungen usw.Hörgeschädigtenkunde soll zu einer realistischen Einschätzung der eigenen Person führen und zur Identitätsfindung beitragen.
Weiter führt der BDH u.a. aus:
Durch neuere Erkenntnisse und Möglichkeiten in der Medizin, Fortschritte in der Technik und der Pädagogik entspricht die Ausbildung der Gehörlosen- und Schwerhörigenlehrer nicht mehr den Anforderungen. Sie muß grundlegend erweitert und verändert werden.
Eine bedeutsame Frage ist, ob die Gehörlosenkultur im "Original" in den Klassen weiter gegeben und aus hörender Sicht nicht niveaulos sondern kulturell anspruchsvoll vermittelt werden kann. Da kommen nur die gehörlosen Lehrer selbst dafür am besten in Frage! Und wer ist überhaupt in der Lage, das neue Fach zu konzeptualisieren? Sonst wäre das BDH-Positionspapier außer ein paar guten Ansätzen ein frommer Wunsch!
Sehr verehrte BDH-Vorsitzende Frau Hartmann-Börner, bestehen Sie immer noch heute auf Ihrer Aussage in einer etwa 1994 ausgestrahlten
Fernsehsendung "Sehen statt hören", daß "95% der gehörlosen Kinder hörende Eltern haben und demnach oral erzogen und beschult werden müssen"?In meinem Vortrag anläßlich der Anhörung "Chancen und Grenzen des Cochlear-Implanats" am 30.1.99 (siehe den kompletten Referatstext in dieser Ausgabe) habe ich u.a. erwähnt, daß der Artikel "Blauer Enzian" in der Fachzeitschrift HÖRPÄD 4/98 mir gar nicht gefallen hat. Zu meiner großen Überraschung las ich später die harsche Antwort des kritisierten Dr. Jann aus Frankenthal, der inzwischen die Professur an der Universität in St. Petersburg bekommen hat. Seine Reaktion möchte ich der 'sbw'-Leserschaft zitieren:
Bundesweites Echo?
Vorbemerkung der HÖRPÄD-Redaktion:
In HÖRPAD 2/98 veröffentlichten wir einen Artikel von Dr. Peter Jann "Zur Notwendigkeit eines neuen Pragmatismus: Spracherwerb bei Gehörlosen nach dem Heidelberger Bundeskongreß 1997". Auf diesen Artikel erwiderten Christiane Hartmann-Börner, Prof. Dr. Ursula Horsch und Prof. Dr. Gottfried Diller mit dem Beitrag "Der Blaue Enzian und der Heidelberger Bundeskongreß 1997" in HORPAD 4/98. Dieser Beitrag löste bei mehreren Lesern zum Teil heftige Kritik aus, die sich in Briefen an die Redaktion äußerte. Wir möchten heute an dieser Stelle Dr. Jann Raum für eine direkte Erwiderung geben. i.A. Manfred Breitinger
"Ich möchte einige Gründe nennen, warum ich eine direkte Erwiderung nicht abgeben werde:
1. Der Beitrag "Der Blaue Enzian und der Bundeskongreß 1997" ist von den Autoren als Antwort auf meinen Artikel "Zur Notwendigkeit eines neuen Pragmatismus (= auf praktisches Handeln gerichtet, sachbezogen): Spracherwerb bei Gehörlosen nach d. Heidelberger Bundeskongreß 1997" verfaßt. In diesem Artikel habe ich eine kurze historische Entwicklungsgeschichte und eine wissenschaftlich-kritische Sicht des hörgerichteten Spracherwerbs verfaßt. In dem Beitrag "Der Blaue Enzian ...", der reine Polemik ist, ist kein rationales Argument gegen meine kritische Darstellung des hörgerichteten Spracherwerbs zu entdecken, auf das eine sachliche Erwiderung möglich wäre. Um im gleichen Stil wie die drei Autoren zu antworten, müßte ich ebenfalls zu den Mitteln der Polemik greifen, was nicht meine Sache ist und wozu mir meine Zeit zu schade ist. Außerdem wäre eine polemisch geführte Fortsetzung der Diskussion mit Sicherheit schädlich.
2. In der Tat hat der Beitrag "Der blaue Enzian ..." zu einem bundesweiten Echo geführt, wie ich an zahlreichen mündlichen Stellungnahmen am Pfalzinstitut in Frankenthal und an schriftlichen Zusendungen feststellen konnte. Diese Reaktionen sprechen für sich selbst, so daß auch im Punkt Resonanz von meiner Seite und aus meiner Sicht kein Handlungsbedarf besteht. Es besteht die Möglichkeit, daß sich dieser Beitrag verbandsschädigend auswirkt. Ich sehe es nicht als meine Aufgabe, von der Fachwelt selbst erkannte "Fehlverhaltensweisen" in einem eigenen Beitrag nochmals darzustellen. Ich finde diese Vorgänge im Sinne unseres Berufsverbandes mehr als bedauerlich und hoffe, daß der Beitrag der Professoren Diller u. Horsch und der Bundesvorsitzenden Frau Hartmann-Börner nicht auch noch zu Abbestellungen der HÖRPÄD führen wird." Dr. Peter Jann
So tief getroffen war Dr. Jann.
Gerhard Wolf (gl), Schriftleiter