Hilfe für taube Kinder

Liebe Eltern,

was über die Spracherziehung hörgeschädigter Kinder in den verschiedenen Tageszeitungen, Fachzeitschriften (z. B. "Hörgeschädigten-Pädagogik" und "Hörgeschädigte Kinder"), Fachbüchern und Schulzeitungen steht, was ich beim Elternseminar mit hörgeschädigten Kindern in Königsdorf im letzten Sommer erlebt und was ich im Kindergarten beobachtet und gesehen habe, kann ich mit Bedauern nicht wortlos hinnehmen. Die Enttäuschungen über die vielversprochenen Fortschritte der Spracherziehungsmethode in der Gehörlosenschule und ebenso über die schwerbehinderte oder lückenhafte und unwahre Kommunikation zwischen tauben Kinder und Eltern sowie Lehrern bedrücken mich sehr.

Immer wieder werden die Vorurteile der Gebärdensprache neu hervor gekehrt. Die am Anfang noch ahnungslosen und leider nicht genügend informierten Eltern werden von den rückständigen und nicht gebärdenbeherrschenden Lehrern (was für eine mangelhafte Berufausbildung!) überzeugt, die Gebärdensprache würde die Lautsprachentwicklung beeinträchtigen. Liebe Eltern, glauben Sie an diesen unklaren Beweis? Nach meiner groben Schätzung können 90% der Gehörlosen, die von Geburt an taub sind, dank der bisherigen Oralmethode die Schriftsprache nur schlecht beherrschen und der große Teil davon bedauerlicherweise sogar nur mangelhaft. Die übrigen 10% können schon zurecht kommen, aber noch nicht perfekt. Die ganz wenigen davon, die die Sprache perfekt beherrschen, sind die Ausnahmeerscheinungen. Das ist tatsächlich die traurige und wahre Folge der Oralmethode.

Daß die lautsprachbegleitende Gebärdensprache eine riesige Hilfe für die Schriftsprachentwicklung und die Ableseübungen sein kann, möchte ich nun wie folgt argumentieren.

Wie es überall schon festgestellt ist, ist nur höchstens ein Drittel des Mundbildes der Lautsprache ablesbar und für die weniger begabten Kinder nur ein Zehntel oder manchmal sogar überhaupt nicht. Auch die sprachbegabtesten und ablesfähigsten Gehörlosen können sehr oft überhaupt nicht ablesen. Zum Beispiel können die Ablesfähigsten den Vortragenden beim Seminar, den Wahlkämpfer hinter dem Rednerpult oder die hörenden Teilnehmer der Diskussionsrunde meistens gar nicht verstehen, auch wenn sie ganz nah beim Sprechenden sind. Die selbstbewußten Gehörlosen bestellen den Gebärdendolmetscher, wenn sie die vollständigen Informationen vom Redner mitbekommen wollen. So bleibt es auch in 100 Jahren ganz genauso.

Wegen der geringen Ablesbarkeit des gesamten Mundbildes können die tauben Kinder nur die wichtigsten Wörter, meistens leicht ablesbare Substantive, Adjektive und Verben aus dem Mundbild heraus angeln. Die mundbildliche Form des einzelnen Wortes ist eine sehr schemenhafte Silhouette. Die einzelnen Wörter haben meistens eine gemeinsame Mundbildähnlichkeit, auch wenn sie im Schriftbild ganz unterschiedlich sind. Deshalb kann man beim Ablesen die mundbildähnlichen Wörter sehr oft leicht verwechseln.

Die kurzen, 'schwer ablesbaren Wörter, zum Beispiel als Artikel und Personalpronomen, laufen im Ablesen vorbei.

Die Unterschiede der Beugung des einzelnen Substantivs und des einzelnen Verbs sind im Mundbild so gut wie nicht zu erkennen, ebenso auch die Unterschiede zwischen Singular und Plural.

Auf diese Weise können die Kinder bei der Oralmethode also niemals die Grammatik mitbekommen und wird der Aufbau des Sprachgefühls vor allem in der Grammatik im Inneren der Kinder verhindert. Die Folge der Oralmethode ist das Fehlen der täglichen Grammatikübung in der mündlichen Kommunikation und verstümmelte Wörter. Das ist die Fehlentwicklung der Schriftsprache dank des Verzichts auf die lautsprachbegleitende Gebärden.

Die lautsprachbegleitende Gebärdensprache (abgekürzt: LBG) als Hilfsmittel genauso wie eine Brille ermöglicht die Erhöhung der Mundablesbarkeitsgrenze bis auf etwa 90-95%. LBG erleichtert auch das Lernen des Ablesens durch das vorteilhafte ständige gleichzeitige Vergleichen mit LBG und Mundbild. Die wie oben argumentierten Punkte ergeben, daß LBG Sprachentwicklung wirklich unterstützen und fördern kann!

Außerdem ist LBG für die geistige Bildung sehr vorteilhaft und fördernd, denn LBG ermöglicht die vollständige Information. LBG beschleunigt die Erhöhung des Wissenstandes der tauben Schüler. Sehr geringe Ablesbarkeit entspricht auch geringer Wissensvermittlung.

Bestes Beispiel für ein solches Argument ist Helen Keller, die weltbekannte Taubblinde, die in der Kindheit vor dem Spracherwerb ertaubt und erblindet ist. Weil sie nicht ablesen konnte, bekam sie über die Fingerspitzen oder die gesamte Handfläche die absolute vollständige Information. Sie konnte jedes Wort und auch jeden Buchstaben ganz klar wie schwarz auf weiß mitbekommen und wurde dadurch vollsprachig. Kein Wunder mit dieser reibungslosen und nicht mißverständlichen Kommunikation, von der die tauben Schüler nur träumen.

Liebe Eltern, hoffentlich haben Sie mich alle verstanden und auch begriffen. Ganz selbstverständlich bin ich auch dafür, daß die separate Schulung der Sprechfertigkeit im Schulprogramm bleibt. Bitte haben Sie Verständnis für das echte Bedürfnis des tauben Kindes nach der vollständigen Information und der wahren Kommunikation!"

Hans Busch,

gehörloser Vater von zwei gehörlosen Kindern,

München