Mit freundlicher Erlaubnis aus der schweizerischen Gehörlosenzeitung "SGB Nachrichten" Nr. 63/98 entnommen:
Die Gebärdensprache ist eine Sprache wie andere Sprachen auch
Vortrag von Dr. Ulrich Hase, DGB-Präsident
"Vertrauen schaffen in die Emanzipation der Gehörlosen"
Von Peter Hemmi (Text und Interviews) und Bernard Kober (Bilder)

Gehörlosenzentrum Oerlikon (Zrich),

18. Juni 1998. Zu Beginn seiner Ausführungen nimmt Herr Hase zu dem Begriff der Emanzipation Stellung. Emanzipation bedeutet nicht gleichzeitig Anerkennung der Gebärdensprache. Jedoch besteht ein unmittelbarer Zusammenhang: Ohne Anerkennung der Gebärdensprache ist Emanzipation für gehörlose Menschen nicht möglich. Aber auch umgekehrt, wenn gehörlose Menschen sich nicht emanzipieren, nicht Verantwortung übernehmen, dann erreichen sie auch nicht, daß Gebärdensprache anerkannt wird.

Die zehnjährige Entwicklung der deutschen Gehörlosen verlief nicht einfach schnurgerade, sondern erlebte immer zwei Seiten, welche die Entwicklung beeinflussen und prägen: negative störende und positive fördernde Faktoren.

Probleme, weiche die Emanzipation und das Selbstbewußtsein der Gehörlosen stören und hemmen:

Erstens arbeiten hörende Pädagogen (Lehrkräfte und Psychologen) in Richtung Nur-Lautsprach- und Hörerziehung und vermeiden jeden Einsatz der Gebärdensprache. Natürlich machen sie sich laut in der Öffentlichkeit und kämpfen vehement gegen jede Bewegung, die sich für die Anerkennung der Gebärdensprache einsetzt.

Zweitens ist die organisatorische Lage für den DGB sehr schwierig, 16 Landesverbände als ordentliche Mitglieder für einheitliche politische Ziele zu gewinnen. Interessant zu erfahren ist, daß viele solche störende Probleme auch innerhalb des DGB entstanden und zum Teil noch entstehen. Denn auch hier dauerte es lange, bis Einigkeit über das gemeinsame Vorhaben der Anerkennung der Gebärdensprache bestand. (Siehe Organisationsplan)

Positive fördernde Faktoren, welche gegenseitig wirken und die Emanzipationsentwicklung verstärkt fördern:

* Das Papier des Europäischen Parlaments 1988 (genau vor 10 Jahren beschlossen: 18. Juni 1988!) gab einen politischen Impuls für die Anerkennung der Gebärdensprache.

* Ein wichtiger Faktor: Damals beherrschten hörende Fachleute das Gehörlosenwesen (Schweizerische Dachgesellschaft, wobei nur Hörende das Sagen haben. Die 'sbw'-Schriftl.) auf allen Ebenen und bestimmten weitgehend die Haltung gehörloser Kinder und Erwachsener. Gott sei dank - eine neue Bewegung zugunsten der gehörlosen Menschen als Sprachgemeinschaft entstand und spaltete diese alte Domäne auf. Wer ist die Bewegung? Sozialwissenschafter, Psychologinnen, Lehrer, Politolog/innen, Sozialarbeiter, neue Berufsverbände...

* Viele Gehörlose selber werden auch Professionelle und können eigene Meinungen wissenschaftlich belegen

* Kulturtage in Hamburg und Dresden, Kommunikationsforen für Gehörlose

* Ein wichtiger politischer Schritt-. Die Ministerkonferenz hat am 18. Mai 1998 ein klares Ja zur Unterstützung der Gebärdensprache beschlossen.

Ausblick

Aufgrund der fortschrittlichen Entwicklung im technologischen, medizinischen und pädagogischen Bereich Prävention, CI und moderne Hör- und Förderanlagen werden aus gehörlosen Menschen entweder hörende oder schwerhörige Menschen. Jedoch macht unsere Gebärdensprache auf der wissenschaftlichen Ebene einen ebenso großen Fortschritt: Literatur, Video, Forschung, Bereicherung, Alternative. Die Gebärdensprache ist eine Sprache wie andere Sprachen auch, kein Hilfsmittel. Trotz allem wird es in Zukunft weniger Gehörlose geben, wie wir sie bisher kennen. Jedoch wird die Zahl der Hörgeschädigten zunehmen, die zwei stützende "Beine" haben: Sie können mit Hörenden sprechen, aber auch gebärdensprachlich kommunizieren, mit Dolmetschern an Konferenzen teilnehmen, diese sogar leiten.

Diese zwei Richtungen, die eine für ausschließliche Integration und die andere für Emanzipation, worden sich tendenziös versöhnen und zu einem einzigen Dach zusammenschließen.

Interview mit Dr. U. Hase

Lieber Herr Hase, warum sind Sie überaus engagiert in der Gehörlosenpolitik, obwohl Sie wie viele leichtgradig Schwerhörige voll integriert leben und ohne Gebärdensprache auskommen können?

Die Annahme, ich sei voll integriert und könne ohne Gebärdensprache auskommen, stimmt so nicht. Was bedeutet überhaupt Integration? Integration wohin, in was? Integration ist für mich ein Placebo-Begriff und ich glaube nicht, daß überhaupt irgendein Mensch, ob hörgeschädigt oder hörend, voll integriert sein kann. Ich persönlich bin trotz meiner hochgradigen Hörschädigung aufgrund wohl überdurchschnittlicher Abseh- und Kombinationsfähigkeiten und aufgrund vieler Erfahrungen im Umgang mit hörenden Menschen (zum Beispiel Regelschulbesuch bis zum Abitur) in der Lage, in Dialogsituationen oder auch Kleingruppensituationen mit Hörenden relativ gut zurechtzukommen. In Gesprächen mit drei bis fünf Personen habe ich jedoch schon ziemliche Schwierigkeiten. Diese verringern sich, wenn ich das Thema beherrsche und ich eine gesprächsführende Rolle habe. Ich bekomme aber auch dann nicht alles mit (den Anspruch habe ich auch nicht), aber für den "roten Faden" reicht es. Ist mir dann jedoch das Thema unbekannt und ich bin "nur" Teilnehmer des Gespräches, dann "verstehe ich oft nur noch Bahnhof". Auf Konferenzen oder Veranstaltungen mit noch mehr Personen bin ich ohne Dolmetscherin sowieso völlig aufgeschmissen.

Lautsprachliche Kommunikation ist für mich grundsätzlich Anstrengung, und hat nichts mit Entspannung zu tun. Ich fühle mich nur dann wohl und unbeschwert, wenn ich nur mit einer hörenden Person spreche, die mich beim Sprechen anschaut und eine gewisse Ausstrahlung hat (denn "unbewegte" Gesichter hemmen mich enorm). Wirklich unbeschwerte lockere Kommunikation habe ich erst durch Gebärdensprache im Kontakt mit Menschen (egal, ob hörend gehörlos, schwerhörig ...) kennengelernt, die Gebärdensprache können. Dafür - für das Schaffen von Gebärdensprache - bin ich gehörlosen Menschen überaus dankbar. Und das motiviert mich enorm, für sie und für Gebärdensprache aktiv zu sein.

"Es hat sich gezeigt, daß es gut war, niemals aufzugeben"

Was heißt konkret die öffentliche Anerkennung der Gebärdensprache?

Anerkennung der Gebärdensprache heißt für mich zunächst, daß sie nicht weiter abgelehnt wird. Das bedeutet, Gebärdensprache ist als eigenständige Sprache zu akzeptieren und in die verschiedensten Bereiche selbstverständlich einzubeziehen. Es ist notwendig, den Prozeß der Anerkennung rechtlich abzusichern. Im Detail bedeutet für mich Anerkennung insbesondere:

* Schaffung eindeutiger Rechtsgrundlagen zur Finanzierung von Gebärdensprachdolmetscher/innen,

* die staatliche Anerkennung des Berufsbilder der Gebärdensprachdolmescher/innen,

* Einbeziehung der Gebärdensprache in Schulen, dazu gehört, daß Hörgeschädigtenlehrer/innen in Gebärdensprache ausgebildet sein müssen und Hörgeschädigte bzw. Gehörlose als Lehrerinnen und Lehrer an Hörgeschädigtenschulen mitarbeiten können, dazu gehört aber auch eine "offene" Elternberatung die Gebärdensprache und die Beteiligung erwachsener gehörloser Menschen einbezieht,

* Einblendung von Gebärdensprachdolmetscher/innen im Fernsehen.

Sie haben in einem Artikel bemerkt, daß die Kultusministerkonferenz nicht das Wort "Gebärdensprache" gebrauche, sondern nur "manuelle" oder "gebärdensprachliche Kommunikationsmittel". Weshalb das?

Ich denke, daß sich dahinter verbirgt, daß die Lehrerschaft nach wie vor Schwierigkeiten mit dem Begriff der Gebärdensprache hat. Es werden daher kompromißbereit umschreibende Wörter gewählt, die leider zum Teil auch falsch sind. Die hier benutzten Begrifflichkeiten bedeuten jedoch auch eine erste, aber auch deutliche Öffnung zur Gebärdensprache. Ich vertraue auf die weitere Entwicklung in diesem Bereich.

Obwohl viele Sonderpädagogen, Fachmediziner und -techniker sowie Verbände, zum Beispiel der Deutsche Schwerhörigenbund, vehement gegen die Gebärdensprache kämpften, gelang dem Deutschen Gehörlosen-Bund e. V, die Konferenz der Ministerinnen und Minister für die Anerkennung der Gebärdensprache zu gewinnen.

Und darauf sind wir seitens des Deutschen Gehörlosen-Bundes auch sehr stolz. Das hat viel damit zu tun, daß auch diese Verbände nicht geschlossen auftreten. Viele Lehrerinnen und Lehrer, auch Ärzte, unterstützen uns in unseren Bemühungen. Hinzu kommt, daß sich "neue" Wissenschaften zu Wort melden und die bisherige Domäne der Sonderpädagogik und Medizin aufbrechen. Hierzu zähle ich insbesondere Psychologie, Sozialarbeit und vor allem Linguistik. Nicht zuletzt waren wir seitens des Deutschen Gehörlosen-Bundes in den letzten Jahren sehr hartnäckig. Es hat sich gezeigt, daß es gut war, niemals aufzugeben.

Sie sagten im Vortrag: Aufgrund der pädagogischen, medizinischen und technischen Entwicklung werde sich die Zahl der gehörlosen Menschen in Zukunft verringern. Hörgeschädigte könnten mit technischer Hilfe lautsprachlich besser kommunizieren. Könnte das soweit gehen, daß die Gebärdensprache als Kommunikationsmittel überflüssig wird?

Es ist tatsächlich so: die medizinische, hörgeschädigtenpädagogische und auch technische Entwicklung schreitet enorm voran. Die Zahl derjenigen, die auch mittels des Cochlear-Implantates über ein Hörvermögen verfügen, das sie in der Kommunikation besser als zuvor ausnutzen können, nimmt im Verhältnis zu der Zahl der Gehörlosen, wie wir sie bisher kennen, deutlich zu. Und das ist auch okay so. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie sehr mir mein Resthörvermögen im Kontakt zu hörenden Menschen hilft. Warum sollte ich diese Entwicklung deshalb ablehnen?

Gleichzeitig schreitet die Gebärdensprachforschung deutlich voran. Immer mehr Menschen interessieren sich für Gebärdensprache, lernen oder studieren Gebärdensprache. Ein Widerspruch? Ich glaube nicht. Es wird immer völlig gehörlose Menschen geben, die auf Gebärdensprache angewiesen sind. Selbst wenn diese wenige/wenige sind, so rechtfertigen sie doch jedes Bemühen um Gebärdensprache. Andererseits stelle ich jedoch einen immer selbstverständlicheren Umgang von Menschen, die auch mehr oder weniger gut hören können, mit Gebärdensprache fest. Ich glaube, daß die Zahl derjenigen deutlich zu nehmen wird, die in bestimmten Situationen mit Lautsprache selbstverständlich umgehen können, genauso selbstverständlich aber auch zur Gebärdensprache greifen, wenn sie Entlastung suchen oder an Grenzen stoßen und dann Dolmetscher/innen brauchen. Gebärden- 


 
Ehrenvoller Besuch an der Sitzung des Vorstandes des SGB-DS mit Mahlzeit im Zürcher Gehörlosenzentrum.
Von links: Rolf Zimmermann, Toni Koller, Jutta Gstrein, Andreas Janner, Thomas Schindler, Ulrich Hase, Ruedi Graf,  Helen Kistler, Roland Hermann, Daniel Hadorn und Beat Kleeb. 

sprache wird zukünftig nach wie vor einen überaus wichtigen Integrationsfaktor darstellen. Ich selbst bin doch eigentlich ein gutes solche Visionen stützendes Beispiel. ( ... )

Wie war Ihr Eindruck bei Ihrem Besuch in der Schweiz?

Einfach großartig. Die Schweiz ist ein besonders schönes Land, das viel Abwechslung bietet. Sie haben wirklich eine schöne Heimat. Die Gastfreundschaft des Schweizer Gehörlosenverbandes hat mir ausgesprochen gut gefallen. Ich habe mich sehr wohl gefühlt und möchte mich deshalb auch an dieser Stelle nochmals herzlich dafür bedanken. Besonders bedanke ich mich bei Ruedi Graf dafür, daß er alles so gut organisiert hat. Bewundert habe ich Ihr Interesse und Ihre Disziplin bei Diskussionen und Besprechungen.

"Entäuschend war, daß wenig
hörende Fachleute gekommen sind"

Interview mit Ruedi Graf

Lieber Ruedi, Du hast als Gastgeber den viertägigen Besuch des DGB-Präsidenten, Dr. Ulrich Hase, arrangiert. Wie war das Echo von Gehörlosen und Hörenden? Der Besuch meines Amtskollegen war eine Bereicherung für Gehörlose und Fachleute. Dr. Ulrich Hase konnte sich ein Bild von der Arbeit und den Fortschritten in der Schweiz machen und wir konnten die Struktur und Ziele des Deutschen Gehörlosenbundes besser kennenlernen. Die Gastvorträge wurden leider nicht so gut besucht wie ich erwartet habe. Enttäuschend war, daß sehr wenig hörende Fachleute gekommen sind. Das widerspiegelt die Haltung vieler unserer Fachleute und Eltern, sie wollen die Meinungen von Gehörlosen gar nicht anhören. Seine Vorträge wurden von den Anwesenden als hoch interessant empfunden.

Hat das Deiner Vorstellung entsprochen?

Der Besuch war mit einem anstrengenden Programm für Dr. Ulrich Hase verbunden. Er mußte drei Vorträge in vier Tagen halten und einige Institutionen besuchen. Es gab wertvolle Gespräche mit ihm, Vor allem hörende Fachleute waren beeindruckt vom Wissen und der Kompetenz von Ulrich Hase. Es wäre gut gewesen, wir hätten noch mehr Zeit gehabt. Seine berufliche Position als vollamtlicher Politiker verschafft viel Respekt.

Besteht der Wunsch nach einer Zusammenarbeit zwischen DGB und SGB-DS?

Wir können noch nicht abschätzen, ob der Besuch neue Perspektiven gebracht hat. Der Kontakt und die zukünftige Zusammenarbeit sind aber wichtig. Wir sind uns näher gekommen. Dazu müssen wir zuerst auch Deutschland besuchen. Eine Studienreise nach Deutschland ist deshalb auch geplant. 


Wer ist Ulrich Hase?

* Dr phil. 42 Jahre alt, Witwer 2 Kinder Christoph (11), Annika (9)

* an Taubheit grenzend schwerhörig seit frühester Kindheit infolge einer Hirnhautentzündung

* wohnhaft in Rendsburg in Schleswig-Holstein

* Studium der Rechtswissenschaft, Psychologie und Hörgeschädigtenpädagogik

* Dissertationsthema."Von der Behindertenhilfe zur identitätsorientierten Rehabilitation in Institutionen und Organisationen der Bundesrepublik Deutschland"

* arbeitet als Landesbeauftragter für Menschen mit Behinderung bei der Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein

* Ehrenamtliche Aufgaben.- Präsident des DeutschenGehörlosen-Bundes

- 2. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft zur Förderung Gehörloser und Schwerhöriger, eines Dachverbandes vieler Verbände von Hörgeschädigten und Berufsgruppen

- 2. Landesverbandsvorsitzender des Gehörlosen-Verbandes Schleswig-Holstein

* Lieblingstätigkeiten:

Aktivitäten mit seinen Kindern und guten Freunden, lesen, schreiben, nachdenken, planen, Tiere (sie haben Hunde und Pferde), Skilaufen und Schwimmen