Als Fortsetzung des Beitrages aus der Bodenseeländertagung BOTA 1998 in der letzten SGBN-Ausgabe werden hier die Vorträge hörgeschädigter Personen vorgestellt. Katja Tissi und Felix Urech greifen das Thema "Plädoyer für die Stille" auf.
Vortrag von Felix Urech
In der heutigen Zeit prasseln fast pausenlos Töne auf den Menschen nieder Auch die Kommunikation läuft völlig über den Ton und Klang. Gleichzeitig sehnen sich immer mehr Menschen nach Ruhe und Stille, um sich zu erholen. Sie fliehen in einen Park, in die Natur, um die Stille zu genießen. In der umgebenden Stille kann der Mensch das innere Hören erlernen. Diese Fähigkeit des inneren Hörens gibt dem Menschen Anregungen zu Imagination, Inspiration und Intuition.
Man muß aber die klangvolle Tonwelt, die Leuchtkraft der Farbenwelt und die lebendige Bewegungswelt bewußt wahrnehmen, damit man diese seelische Entwicklung auch wirklich erleben kann. Es braucht ein inneres Gehör, eine Fähigkeit der Seele zum inneren Hören, dazu braucht es keine Ohren.
Was bedeutet das für die Gehörlosen? Beim Gehörlosen fallen die Toneinflüsse weg. Aber Gehörlose sind außer dem fehlenden Gehör vollkommen gesund, alle anderen Wahrnehmungsorgane für die verschiedenen, Wahrnehmungen von außen sind vorhanden. Sie funktionieren, wenn entsprechende Impulse zu ihren gelangen. Gehörlose gleichen den Verlust der Tonwelt vorwiegend mit dem Leben der Bewegungs- und Farbenwelt aus. Diese Wahrnehmungen lösen in der Seele und im Gehirn des Gehörlosen ähnliche Impulse aus wie die Tonaufnahme bei der Hörenden. Wenn diese Bewegungs- und Farbenwelten schön und harmonisch sind, kann eine ähnliche Imagination und Inspiration entstehen wie bei den Hörenden über Klangerlebnisse.
Das ist eine wichtige Erkenntnis für die Hörgeschädigtenpädagogik. In der Hörgeschädigtenpädagogik gibt es zwei Gegensätze:
u Der Hörrest soll mit technischen Hilfen ausgenutzt werden, damit der Gehörlose Zugang zur Tonwelt bekommt
u Gehörlose sollen aber auch die Lebendigkeit in der Sprache aufnehmen können.
Für die meisten Gehörlosen ist die technische Hilfe kein Genuß und bringt keine Lebendigkeit. Gehörlose müssen statt der Klänge aus der Tonwelt die Impulse aus der Bewegungswelt erfassen, auswerten und genießen.
Hierzu ein Beispiel:
Hörende Kinder bekommen Sing- und Musikerziehung, weil dies ein ausgeglichenes seelisches Gemüt im Kind fördert. Für das gehörlose Kind aber hat die Schönheit und Harmonie im Ausdruck der Gebärdensprache die gleiche Wirkung. Auch sie fördert ein ausgeglichenes Gemüt im Kind.
Daraus sehen wir: die Ablehnung der Gebärdensprache in der Früherziehung gefährdet eine ausgeglichene und harmonische Entwicklung des Kindes.
Die Gebärdensprache lebte trotz Verbot immer weiter, weil Gehörlose instinktiv diese Sprache brauchten. Es gibt auch keinen Beweis dafür, daß die Gebärdensprache die Entwicklung des Sprechens behindert. Die Gebärdensprache ist eine Bereicherung des Unterrichts und des Lebens. Dies gilt auch für den Methodenstreit in der Erziehung Gehörloser.
Eine Lösung dieses Streites kann die Anerkennung der ganzheitlichen Bedeutung der Gebärdensprache und ihre Anwendung im ganzheitlich ausgerichteten Unterricht (der auch die Sprechfähigkeit mit einschließt) bewirken.
In der Stille kann der Mensch eine Quelle von Harmonie, Ruhe und Schönheit finden. Diese Erkenntnis macht das Schicksal, gehörlos zu sein, zu einer Lebensquelle.
Vortrag von Katja Tissi
Einführung
Als roten Faden in ihrem Vortrag bezog sich Katja Tissi, gehörlos, auf das Menschenbild, das viel Einfluß auf die Haltung und Erziehung hat. Wichtig sei dabei, daß Eltern und Pädagogen auf das individuelle Menschenbild jedes einzelnen Kindes eingehen, also dem Kind die Chance geben sollen, sich geistig, emotional und sozial auf seine natürliche Art entfalten zu können. Diese Anschauung von Katja Tissi sei aufgrund ihrer empirischen Erfahrung als gehörloses Kind hörender Eltern und als gehörlose Mutter hörender Töchter gebildet worden.
Katja Tissi präsentierte im Vortrag den Unterschied in der sprachlichen Entwicklung von ihr selber als Kind und von einer ihrer hörenden Töchter Demi. Diese Betrachtung sei besonders interessant, weil die erlebten Situationen der beiden erwähnten Personen unterschiedlich seien und deshalb auch unterschiedliche Auswirkungen auf deren sprachliche Entwicklung hinterliessen (siehe Grafik unten):
Muttersprache: Muttersprache:
Gebärden- Lautsprache
sprache
Katja Tissi als Kind: gehörlos, ihre Eltern hörend, Muttersprache: Deutsche Lautsprache
Tochter Demi als Kind: hörend, ihre Eltern gehörlos, Muttersprache: Gebärdensprache und Lautsprache mit Gebärden
Erlebte Erfahrungen
Um diesen Unterschied in zwei verschiedenen Situationen zu veranschaulichen, zeigte Katja Tissi einige erlebte Fallbeispiele, wovon zwei im folgenden aufgeführt sind.
Beispiel: Am Eßtisch
Katja Tissi als Kind
Am Eßtisch habe ihre fünfköpfige Familie viel geplaudert, wobei Katja Tissi nichts habe verstehen können. Katja Tissi habe ihre Mutter gebeten, ihr zu erklären. was geplaudert worden sei. Oft habe sie zur Antwort bekommen "Nicht wichtig", "Später erzählen", oder nur vereinzelte Informationen. So habe sie es oft verpaßt, eigene Wünsche oder Meinungen bei Gelegenheiten zu äußern.
Tochter Demi
Am Eßtisch habe Katja Tissi ihrem Mann in Gebärdensprache mitgeteilt, daß sie nach dem Essen schnell in die Waschküche, gehen müsse, Diese Mitteilung habe ihre Tochter Darm mitbekommen und gefragt, ob sie mithelfen dürfe. Demi sei am Familiengespräch ohne Vermittlung direkt beteiligt gewesen und habe das Gesprochene unmittelbar erwidern und ihren Wunsch äußern können.
Beispiel: Spielen mit der Sprache
Katja Tissi als Kind
Katja Tissi habe mit der deutschen Lautsprache nicht spielen und phantasieren können – denn sie habe fast keine strukturellen Regeln und Feinheiten der Lautsprache gekannt, die ihr fremd bliebe. Erst später nach Erlernung und Anwendung der Gebärdensprache habe sie begonnen, mit der Gebärdensprache spielerisch umgehen zu können. Und erst in ihrem Erwachsenenalter habe sie den Wert der Gebärdensprache schätzen lernen können.
Tochter Demi
Schon früh als Kind habe Demi die feinen Differenzen (Unterschiede) der sprachlichen Bedeutung gelernt und daraus spielerische Phantasien gemacht. Stolz habe sie ihr etwas erzählt, was sie selber herausgefunden hätte. Dann habe Katja Tissi gesagt:"Oh ja, du bist gescheit!", wobei sie den Gebärdenbegriff GESCHEIT benützt habe, indem sie ihre geschlossene Faust an ihre Stirn gelegt und Daumen und Zeigefinger aufgespreizt habe. Demi habe erwidert - "Nein, ich bin am Ohr gescheit." ' worauf Katja Tissi gesagt habe: Ja, ich bin am Auge gescheit." So habe Demi die Gebärde GESCHEIT an verschiedenen Körperstellen probiert und es sehr lustig gefunden. Wir hätten beide fest lachen müssen, es sei zu einem Spiel geworden.
Schlußfolgerung durch
Erfahrungen
Im Alter von viereinhalb Jahren habe Katja Tissi etwa 400 Wörter ablesen und inhaltlich verstehen, ein paar Dreiwort-Sätze sprechen können. Im Vergleich zu Demi sei ihr Wortschatz sehr klein gewesen. Demi von dreieinhalb Jahren könne bereits 1500 bis 2000 Gebärdenbegriffe verstehen und anwenden. Dazu könne sie mit dem sprachlichen Werkzeug wie Fragen und syntaktischen Regeln umgehen.
Katja Tissi sei überzeugt, daß nur ein natürlicher Spracherwerb die emotionale, kognitive und soziale Entwicklung erleichtere und fördere. Mit vollem Interesse lerne Demi neben der Gebärdensprache die gesprochene Sprache und wachse zweisprachig auf, wobei Katja Tissi dies fördern lasse.
Es spiele keine Rolle, ob der Mensch gehörlos oder hörend sei - das Kind solle sich auf jeden Fall jene Sprachen aneignen, die seiner Identität "nahestünden". Darin liege der Wert des Wesens. Betreffs Zweisprachigkeit belege der Neuenburger Wissenschaftler Grosjean die Tatsache, daß Menschen, die zweisprachig aufwüchsen, ohne Einschränkung lernen könnten.
Die Referentin appellierte an die Sonderpädagoginnen und Pädagogen im deutschsprachigen Raum, diese mögen ihre starre, über 100 Jahre praktizierte Lehrmethode überdenken und sich auf das individuelle Menschenbild jedes gehörlosen Kindes einzeln eingehen. Die gehörlosen Menschen hätten ein Recht auf ihr Nichthören und ihre Stille.
Die Stille sei Bewegung und Licht. Still-sein sei, wenn keine Bewegung und kein Licht zu sehen seien, zum Beispiel Töne, Stimmen. Stille sei Sprache, wenn diese sich bewege und verstanden werde. Sie sei Grundlage zum natürlichen Spracherwerb und zur emotionalen Entwicklung für gehörlose Menschen, sie sei Kraft für soziale, geistige und sprachliche Entfaltung.
Kommentar des Schweizerischen Gehörlosenbundes Deutschschweiz:
Frau Schmid-Giovannini aus Meggen/Schweiz, die Leiterin der Schule für hörgeschädigte Kinder, erwartet, daß der Gehörlosenbund endlich auch die andere Möglichkeit in der Erziehung und Bildung anerkennen würde. Diese Aussage veranlaßt mich etwas zu berichtigen.
Der Schweizerische Gehörlosenbund hat Lautspracherziehung nie abgelehnt und schon gar nicht lautsprechende Gehörlose als "schlechte Gehörlose" bezeichnet. Die allermeisten Gehörlosen und auch Mitglieder des Gehörlosenbundes sind streng lautsprachlich geschult worden. Der Gehörlosenbund setzt sich für ein Miteinander von Gebärden- und Lautsprache in der Erziehung und Bildung ein. Er ist der Überzeugung, daß ein Gleichgewicht von Laut- und Gebärdensprache der Persönlichkeitsentfaltung und Sprachentwicklung mehr dient.
Im Leitbild wird folgendes festgehalten: "Wir setzen uns entschieden für die Anerkennung der Gebärdensprache ein. Nur eine gebärden- und lautsprachliche Erziehung nämlich bietet Gehörlosen genügend Möglichkeiten, ihre geistig-psychischen Fähigkeiten voll zu entwickeln, den nötigen Zugang zu Information und Bildung zu haben und mit gehörlosen und hörenden Mitmenschen in Kontakt zu treten."
Ich wehre mich gegen die sich immer durchsetzende Behauptung, daß der Gehörlosenbund gegen die Lautspracherziehung sei. Ergänzen möchte ich die Behauptung, "daß es eben verschiedene Möglichkeiten für die Bildung gibt": In der Deutschschweiz hat sich noch keine einzige Schule der Gebärdensprache geöffnet. So gesehen hat Frau Schmid-Giovannini eine äußerst seltsame Auffassung von Fairneß.