NÜRNBERG - Die Gebärde ist eindeutig: Die Hände wandern zur Brust, umschließen das Herz und überreichen es dem Gegenüber' " Ich liebe dich!" Kein Gehörloser würde das in der mühsam erlernten Lautsprache artikulieren, glaubt Dieter Haas, Direktor des Nürnberger Gehörlosenzentrurns. Was er damit sagen will: Menschen, die nicht hören können, haben ihre ureigene Ausdrucksweise. Und weil die "wichtig ist für die Seele", sollte sie auch in der Schule ihren Platz haben. Für einen Gehörlosen-Pädagogen ist das schon eine recht fortschrittliche Meinung. Vor 20 Jahren schlug man gehörlosen Schüler noch auf die Finger, wenn sie sich der "Affensprache" bedienten. Das Lernziel hieß "Lautsprachliche Kompetenz". Die Kinder sollten sich mit aller Gewalt so verständigen können wie der Rest der Welt - obwohl sie sich mit ihren mühsam geformten Worten und unkontrollierbaren Lauten oft gerade erst ins gesellschaftliche Abseits stellten. Noch heute, so schätzt der Nürnberger Gehörlosenpfarrer Joachim Klenk, beherrschen 80 Prozent der Lehrer an Gehörlosenschule nicht einmal das Hilfsmittel einer lautsprachbegleitenden Gebärde (LBG). Geschweige denn die deutsche Gebärdensprache (DGS). "Die kann vielleicht einer pro Schule."
Pflichtfach für Schüler
Das soll anders werden. Nachdem das Europa-Parlament seinen Mitgliedsstaaten das Gebärden schon vor zehn Jahren als "gleichberechtigtes Kommunikationsmittel" empfohlen hatte, wollen nun auch hiesige Politiker das lautlose Deutsch als Sprache anerkennen. Das bedeutet: DGS als Pflichtfach an den Gehörlosenschulen und in der Lehrerausbildung. Mehr Lernangebote auch für Hörende. Und vor allem: Jeder Gehörlose hätte Anspruch auf einen Dolmetscher.
Bislang bekommen nur finanziell Schwache die Dolmetscher-Einsätze bezahlt. Wer mal schnell einen Rechtsanwalt konsultieren will, muß einen Antrag beim Sozialamt stellen und oft wochenlang warten. Beim Arztbesuch dasselbe Problem: Die wenigsten Krankenkassen bezahlen einen Übersetzer. Lediglich im Beruf, bei Vorstellungsgespräch oder Weiterbildung kommen Arbeitsamt und Bezirk anstandslos fürs Dolmetschen auf.
Daß die deutschen Politiker das Problem so lange ignorierten, haben sich die Gehörlosen selber zuzuschreiben. Seit Jahren tobt in ihren Reihen ein erbitterter Streit. Skeptiker befürchten, mit einer eigenen Sprache vollends ausgegrenzt und von Dolmetschern abhängig zu werden. Außerdem, so Wolfgang Müller vom Landesverband, drohe die Ausgrenzung all derer, die sich anders artikulierten: mit Lautsprache, lautsprachbegleitender Gebärde, Mimik, Fingeralphabet sowie regional sehr unterschiedlichen Ausdrucksweisen. Müller: "In der Anerkennung einer einzigen Kommunikationsform stecken Gefahren.
Die größte, so kontern DGS-Befürworter, sei die, daß sich nichts ändert. Durch die Beschränkung auf lautsprachlichen Unterricht bleiben viele der rund 80.000 Gehörlosen in Deutschland auf niedrigstem Bildungsniveau - sie kommen nicht über das eines Viertkläßler vergleichen den Kampf der Gehörlosen um die Lautsprache mit dem Versuch, im Fernsehkurs bei ab- schaltetem Ton Chinesisch zu lernen. Manche Eltern erleben ihn als einziges Fiasko. Wolfgang Kriak zum Beispiel. Der hörende Nürnberger wußte seiner gehörlosen Tochter Judith nicht anders zu helfen als mit der verpönten Gebärdensprache. Heute ist er sich sicher: "Wenn ich mich nach den Fachleuten gerichtet hätte, wäre sie nicht halb so selbstsicher. Und sie hätte nicht ein Achtel ihres Wissens. "Die Versteifung auf die Lautsprache verstärke Frust und Hilflosigkeit, berichtet Rudi Sailer, Vizepräsident des Deutschen Gehörlosenbundes. Die meisten lernten weder richtig zu sprechen noch zu schreiben. "Mit Gebärden könnten wir viel mehr Kompetenz erreichen." Natürlich, und darauf legt der Gehörlose in der dritten Generation an Wert, müsse man "für die hörende Welt" auch die Lautsprache lernen, Beides sollte nebeneinander stehen, das Ziel heißt Zweisprachigkeit.
Gute Erfahrungen
Wie gut das funktionieren kann, haben die Erfahrungen anderer Länder bewiesen. Dank der zweisprachigen Erziehung sei das Bildungsniveau der Gehörlosen in Amerika "um ein Mehrfaches höher als in der Bundesrepublik", behauptet der katholische Gehörlosen-Seelsorger Pater Amandus aus Frankfurt. Der gleichzeitige Erwerb von Laut- und Gebärdersprache dauere länger, sei aber letztlich erfolgreicher, bestätigt Iris "Ricke. Die Pädagogin leitet den "Kinderpark" der Nürnberger Gehörlosengemeinde dem bundesweit einmaligen Projekt lernen gehörlose Kinder und ihre An- gehörigen spielerisch das Gebärden.
Ein Vorstoß, der den Initiatioren vor einem halben Jahr noch manche Anfeindung bescherte. Mittlerweile hat sich der Wind gedreht. Im bayerischen Landtag drängten sämtliche Parteien auf die Anerkennung der Gebärdensprache, berichtet Hans Stenz, der Leiter der Hauptfürsorgestelle Mittelfrankens. "Mit erheblichen finanziellen Mitteln" werde man dies "schon im nächsten Jahr konsequent angehen".
Für die Mehrheit der Gehörlosen ein Grund, die Fäuste zu ballen. Nicht weil sie zornig wären. Mit dem Handrücken nach unten bedeutet diese Geste "Hoffnung". Die DGS-Gegner freilich geben sich vergrätzt - eine Phalanx (= geschlossene Reihe) aus konservativen Verbands-Funktionären und "hörenden Fachleuten", die nicht zuletzt die Sorge um die eigene Zukunft umtreibt: Unter altgedienten Lehrern an Gehörlosenschulen machten sich "Riesenängste" breit, sagt Pfarrer Klenk. Mit der Anerkennung des Gebärdens müßten sie umlernen, womöglich wieder für Jahre in eine Schülerrolle schlüpfen. "Für viele ist das eine Existenzfrage."
Leserbrief vom 27. 8. 98:
Betrifft: Artikel über Gebärden-
sprache: "Ein lautloser Triumph"
Im obigen Artikel stellt Herr Klenk im Zusammenhang mit der lauter gewordenen Forderung nach stärkerer Anerkennung dar Gebärdensprache völlig haltlose Behauptungen auf. Als Leiter des Zentrums für Hörgeschädigte und seit 1970 an dieser Einrichtung tätiger Lehrer möchte ich folgen- des richtigstellen Mir sind keine älteren Kollegen/innen bekannt, die in ihrem Beruf Krisenängsten unterworfen sind. Warum auch? Immerhin können gerade sie auf eine große Schar früherer Schüler zurückblicken, für deren berufliche Professionalität und damit gesellschaftliche Anerkennung sie den entscheidenden Grundstock gelegt haben. Alle Kollegen/innen unseres Hauses nehmen gerne Fortbildungsangebote wahr, um sich neuen pädagogischen Herausforderungen zu stellen.
Allerdings haben pädagogisches und medizinisches Wirken dazu geführt, daß die Zahl der Schüler an Gehörlosenschulen in den vergangenen Jahrzehnten eminent zurückgegangen ist. Dies wird die Strukturen an Zentren für Hörgeschädigte verändern. Ob diese die evangelische Gehörlosenseelsorge berühren, muß von ihr selbst beantwortet werden.
Leserbrief vom 29. 8. 98:
Betrifft: Gebärdensprache
Der Zeitungsartikel, der sich mit der Anerkennung der Gebärdensprache gehörloser Menschen befaßt, enthält Äußerungen, die der Korrektur bedürfen. Pfarrer Klenk, zuständig für die Gehörlosenseelsorge in Bayern, plädiert in dem Artikel vehement für eine stärkere Einbeziehung der Gebärdensprache, in den Unterricht bei hörgeschädigten Schülern.
Der Stellenwert der Gebärdensprache im Schulunterricht ist allerdings nicht nur unter Fachleuten sondern auch unter gehörlosen Menschen höchst umstritten. Ebenso ist die betroffene Elternschaft in dieser Frage keineswegs einer Meinung. Unbestritten ist jedoch, daß die Lautsprache für die Integration hörgeschädigter Menschen in Beruf und Gesellschaft die wichtigere Rolle spielt und auf ihre Vermittlung in einer Gehörlosenschule das Hauptaugenmerk gerichtet werden muß.
Bei allem Verständnis für den leidenschaftlichen Eifer, mit dem sich Pfarrer Klenk für das Wohl der Gehörlosen einsetzen möchte: Der Einsatz von Gebärden im Unterricht ist primär ein pädagogisches, kein seelsorgerisches Problem. Es bedarf zu seiner Lösung der subtilen argumentativen Auseinandersetzung im Geist von Toleranz und gegenseitiger Achtung.
Leserbrief vom 4. 9. 98:
Betrifft: Gebärdensprache
Für die Elternvereinigung ist wichtig, mit der Anerkennung und Verwendung der deutschen Gebärdensprache (DGS) und der lautbegleitenden Gebärde (LBG) unseren hörgeschädigten Kindern Selbstbewußtsein, Anerkennung als individuelle Persönlichkeiten mit einer eigenen, entspannt erlebten Kommunikationsform, eine Grundlage für eine schnellere, innerlich akzeptierte und intensivere Wissensvermittlung und auch eine Rechtsgrundlage für Nachteilsausgleiche zu schaffen. Das bedeutet nicht, den Erwerb der Lautsprache zu vernachlässigen. Hörgeschädigte bewegen sich in einer hörenden Welt und brauchen die Voraussetzungen, mit Sprache umzugehen und Hörende, soweit es geht, zu verstehen. Es wäre jedoch eine Illusion zu glauben, mit streng lautsprachlicher (oraler) Erziehung würde die Behinderung nicht mehr existieren und es wäre eine vollständige Integration möglich. Die "Erfolge" einer mehr als 100jährigen, oral ausgerichteten Pädagogik sprechen dagegen. Wir als Eltern, vor allem die mit älteren Kindern, haben einen anderen , realistischeren Erfahrungshintergrund, was diese Erziehung bringt bzw. nicht erreicht. Wird die Gebärde - die sehr nuancenreiche Muttersprache der Gehörlosen - diskriminiert, diskriminiert man auch die Hörgeschädigten, die diese eigene Sprache verwenden. Wir sollten, wie in anderen Staaten auch, viel unverkrampfter und selbstbewußter in allen Lebensbereichen mit der Verwendung der Gebärdensprache umgehen.
Leserbrief vom 10. 9. 98:
(am 3. 9. 98 abgeschickt)
Betrifft: Gebärdensprache
Die Gehörlosenpädagogik ist keine astreine Erziehungswissenschaft. Vom Standpunkt vieler mündiger Gehörlosen aus gesehen sind die deutschen Gehörlosenlehrer - nicht alle - leider nicht leistungsfähig genug, um die Effizienz der gesamten Schulbildung steigern zu können. Denn der Beweis ist am durchschnittlichen Endergebnis der Schulentlassenen abzulesen.
Es ist richtig, daß der Stellenwert der Gebärdensprache im Schulunterricht unter Fachleuten höchst umstritten ist, aber nicht unter gehörlosen Menschen außer einem Handvoll. Unter den Schicksalsgenossen - abgesehen von ihrem bundesweit einmalig fahnenflüchtigen bayerischen Landesverbandsvorsitzenden und seinen Mitläufern - herrscht eine vorbehaltlose Einigkeit über die Notwendigkeit des mit Gebärdensprache zu bereichernden Stundenplanes neben der von niemand in Frage zu stellenden notwendigen Lautsprache, die genauso auch als Schlüssel neben Lesen und Schreiben fürs Leben wichtig ist.
Die alltägliche Anwendung der instinktiven Gebärdensprache unter den Schulkindern kennt bis jetzt immer noch kein schulpädagogisches Vorbild und ist somit dem Wildwuchs preisgegeben, für den ausschließlich die Gehörlosenpädagogen verantwortlich sind. Die Gebärdensprache ist in der Schulbildung eine eminente Brücke zur Vertiefung und Verfestigung der Sprachkompetenz und zum Vermeiden der Verständnislosigkeit der mühsam einzuübenden Artikula-tion.
Die Fachleute sollten endlich mit dem gebetsmühlenartigen Verweisen auf die Wichtigkeit der Lautsprache als Integration hörbehinderter Menschen in Beruf und Gesellschaft aufhören. Viele haben dank dem gehörlosenpädagogisch verschuldeten, unverantwortlich zu niedrigen Wissensstand mit vielen Schwierigkeiten und dem verhältnismäßig einfacheren beruflichen Niveau lebenslang zu kämpfen, wobei die Selbstwertgefühle oft arg durcheinander gebracht worden sind.
Wir Erwachsenen müssen lernen, uns vermehrt auf Gespräche mit unseren Kindern einzulassen und diesen nicht mit der Ausrede ausweichen, daß Kinder noch nicht zu abstraktem Denken fähig seien. Darauf weisen Erziehungswissenschaftler immer wieder hin. Anstatt herablassend unsere vermeintliche intellektuelle Überlegenheit auszuspielen, sollten wir uns – so die Experten weiter – von den Kleinen zu einer "kindlichen Naivität auf höherer Stufe" (verführen) lassen.
Bereits im Alter von fünf Jahren nämlich beginnen Kinder abstrakte Fragen - zum Beispiel nach der Zeit - zu stellen. Dabei ist ihre Suche nach Verstehen meist von einem Gefühl des Staunens und Wunderns über das Rätselhafte und Wunderbare begleitet. Genau in dieser Haltung sah bereits Aristoteles den Anfang des Philosophierens. "Kinder sind ideale Gesprächspartner" auf diesen ebenso einfachen wie für manchen vielleicht provozierenden Nenner bringt der Berliner Erziehungswissenschaftler Hans-Ludwig Freese seine Forschungsergebnisse. - Bei Kindern spielt nämlich eine Vielzahl an Komponenten zusammen, die es den Kleinen möglich machen, sich spielerisch auf die komplexesten Themen - wie etwa den Sinn des Lebens, Glück oder Wahrheit - einzulassen. Zudem seien Kinder entschlossen, den Dingen auf den Grund zu gehen und sich davon auch nicht durch Ungereimtheiten und scheinbares Vorwissen abbringen zu lassen. Die ihnen eigene Fähigkeit zu Staunen und die phantasievolle Experimentierfreude erleichtere es den Kindern darüber hinaus, zu zum Teil verblüffenden Einsichten und Problemlösungen zu kommen. Nicht selten erstaunen uns unsere Kinder ja bereits im Alltag durch Erkenntnisse, zu denen wir angeblich so hochgebildeten Erwachsenen gar nicht fähig sind. Wenn wir uns bemühen, diese Ansätze zu fördern und ein ernsthaftes Gespräch auf gleichberechtigter Basis mit unseren Kindern suchen, dann dürfte sich die bereits zitierte Aussage "Kinder sind die idealen Gesprächspartner' mehr als einmal als wahr erweisen.