Nonverbale Gebärdensprache? - Es ist falsch!

In der letzten 'sbw'-Nummer 47/98 war im sbw-Kommentar zu "Gebärdensprache ohne Mundbild? Ein doppelter Denkfehler!" über einen Vorschlag geschrieben, daß die "nonverbale Gebärdensprache" besser zu gebrauchen wäre als die "Deutsche Gebärdensprache ohne Mundbild (DGS ohne Mundbild)".

Frau Daniela Happ, Mitarbeiterin von Frau Prof. Leuninger von der Frankfurter linguistischen Forschungsgruppe (FLF), schrieb jedoch, daß die Bezeichnung "nonverbale Gebärdensprache" falsch ist. Nonverbal bedeutet "nicht sprachlich". Neben Lautsprache ist die Gebärdensprache auch eine Sprache. Also bedeutet "nonverbale Gebärdensprache" "nichtsprachliche Gebärdensprache". Es ist falsch.

Lassen wir mal von Hartmut Teuber, Boston/USA über "verbal" erklären:

Eine Erklärung über den Begriff "verbal".

Das Wort ist leider politisch geladen. Die Gebärdensprache wird oft als non-verbal bezeichnet und gleichzeitig als minderwertig erniedrigt. Das geschieht in der englischen Sprache auch.

Das Problem hier liegt im Gebrauch des Wortes "verbal". Leider wird es von Hörenden unbedachtsam in der Umgangssprache für "mündlich" oder "vokal" im Sinne von "geäußert mit Mund und Stimme" benützt zum Leidwesen der Gebärdensprache. In neuerer und aufgeklärter Betrachtung des Begriffs bzw. Terminus "Sprache" sind alle Sprachen, auch Gebärdensprachen (mit oder ohne Wortmundbild), verbal, auch wenn sie in schriftlicher Form wiedergegeben sind. Das Morsen und Flaggen der Buchstaben sind auch schriftlich, da sie von der Schrift abgeleitet sind. "Verbal" bedeutet schlechthin "geäußert in einer Reihe von Bedeutungs (Wort/Gebärden)einheiten", nicht mehr bloß "mündlich". Die Gebärdensprache wird nicht mehr als "nonverbal" erniedrigt und darf auch nicht mehr getan werden. Andere Kommunikationsformen wie Gemälde, Grafik, Pantomime, Musik, Tanz usw. sind non-verbal. Umgangssprachlich wurden sie leider auch als "Sprache" bezeichnet, aber genauer gesehen unter dem Kriterium von Verbalität sind sie nicht.

Weiter, ich erachte "Kommunikation" nicht als Oberbegriff von verschiedenen Sprachen. Der Oberbegriff von Deutsch, Englisch, Chinesisch usw. ist "Lautsprache" und DGS, ASL (USA), LSF ( Frankreich) usw. ist "Gebärdensprache", und weiterhin der Oberbegriff für Lautsprache und Gebärdensprache ist einfach "Sprache" oder genauer ausgedrückt "menschliche Sprache". Das Verhältnis zwischen Sprache und Kommunikation ist nicht dasselbe wie zwischen Apfel und Frucht, sondern zwischen Apfel und Ernährung. Kommunikation ist, was geschah, wenn man eine Sprache oder ein anderes Kommunikationsmittel benützt.

Soweit mein Erklärungsversuch der Begriffe aus moderner Sicht.

Die 'sbw'-Schriftleitung

 

Mitzusprechen oder nicht, das ist die Frage!
(frei nach Shakespeares "Zu sein oder nicht zu sein, das ist die Frage")
von Hartmut Teuber (gl)

Das scheint die Frage bei den tauben Frankfurtern zu sein: Ist es unangebracht, beim Gebärden nicht mitzusprechen? Oder sogar, wenn empfohlen wird, beim Gebärden aus künstlerischen Gründen so wenig wie möglich mitzusprechen?

Man scheint ein politisches Selbsttor im Kampf um die Anerkennung der Gebärdensprache und Einführung in den Schulen für taube Kinder geschossen zu haben, sich darüber öffentlich aufzuregen und eine Gegenkampagne zu veranstalten. Die Energie sollte lieber für die Bemühungen um die gesetzliche und gesellschaftliche Anerkennung der Gebärdensprache (Lobby (= Interessengruppe) im Landtag, Öffentlichkeitsarbeit) verwendet werden. Auch sollte dagegen protestiert werden, daß die tauben Rollen von Hörenden übernommen wurden. In den USA wird so etwas immer dagegen aufgelehnt und unternommen.

Die gleiche Anti-Gebärden-Rhetorik wurde von einer tauben Führungspersönlichkeit nachgeplappert, die von den Gegnern der Gebärdensprache stammen. Die oralistischen Pädagogen sagten uns immer wieder, die Gebärdenden seien oder benähmen sich wie Affen; wir würden nicht Menschen sein, wenn wir nicht sprechen; wir würden zu Taubstummen gemacht und dumm gehalten wie vor 200 Jahren, wenn wir nicht sprechen ('sbw' 47/98, Seite 18-20). Dazu wurde auch aus Vorurteil und Unkenntnis der Wirklichkeit geschrieben, daß nichtsprechende Gebärdende den "sprachlosen Ausländern" (Seite 20) gleichen und ihr Tun den "Rückfall in die Höhlenbewohner-Zeit" (de Ligt, Seite 21) bedeutet. Hier wird das Nichtsprechen irreführend der Stummheit und Sprachlosigkeit gleichgesetzt, gemäß der oralistischen Propaganda.

Keine selbstbewußte taube Person darf vergessen, daß "stumm" die allgemeine Unfähigkeit zu kommunizieren bedeuten soll und "sprachlos" auch Gebärdenlosigkeit einschließt, also nicht nur wenn der Mund schweigt. Andernfalls, wenn nur auf den Mund bezogen, hilft man, den uns diskriminierenden Sinn dieser Wörter weiter zu verewigen und an der Unterdrückung tauber Menschen zu beteiligen. Ein tauber Mensch wird durch das Erlernen der Gebärdensprache wirklich entstummt, d. h. sprach- und kommunikationsfähig gemacht, ganz gleich ob er sprechen gelernt hat oder nicht. Man weiß zu sehr gut, daß viele zwar sprechen, aber dennoch schlecht kommunizieren können. Ironisch möchte ich nebenbei hinzufügen: die Oralisten propagieren gerne, daß sie uns durch ihren Artikulationsunterricht entstummt haben. Trotzdem nennen uns Hörende weiterhin "stumm". Nichtsprechende taube Menschen vor 200 Jahren sind gar nicht stumm. Sie waren sehr beredend in Paris, in den USA, und auch Otto F. Kruse in Schleswig. "Dankbarkeit ist Erinnerung des Herzens", sprach der taube nichtsprechende Jean Massieu vor über 200 Jahren, und es wurde ein französisches Sprichwort. Es zeugt vom von den Oralisten eingepflanzten Hochmut, diese tauben Leuten als primitive, mythisch-stumme Höhlenbewohner zu betrachten. Es ist ein Mythos zu glauben, daß die Höhlenbewohner damals stumm gestikulierend herumliefen.

Es zeugt von Kulturhochmut zu denken (und auch zu sagen): wer nicht mündlich und nur mit Händen spricht, sei ein Affe und kein Mensch. Der Präsident des HNO-Arztverbandes schreibt in einem Buch 1995, wir seien bloß zweibeinige Wesen und werden erst recht Mensch, wenn wir hören und sprechen gelernt haben. Er gehört, schärfstes verurteilt und verachtet zu werden. Ähnliche Äußerungen brauchen von uns nicht wiederholt zu werden.

Das angebliche Verbot des Mitsprechens beim Gebärden kann unmöglich von den Sprachwissenschaftlern stammen. Es gehört nicht zum Berufsethos der modernen Sprachwissenschaftler, sprachliche Vorschriften zu machen. Auch ist es schwer zu glauben, daß Pater Amandus das getan hat. Bestenfalls war es eine gemeinsame Entscheidung der Beteiligten in der Theatergruppe und Kirchengemeinde, das Wortmundbild im Theaterspiel und in der Liturgie aus ästhetischen und künstlerischen Gründen nicht zu verwenden. Die Frankfurter Pax-Gruppe steht nicht allein darin. Sie nimmt an der internationalen Entwicklung im Selbstbewußt-Werden teil, die auch im Verringern des Mitsprechens beim Gebärden resultiert.

Durch das Nichtmitsprechen werden die Inhalte durch die innere Kraft der Gebärden und des Gesichtsausdruckes besser zur Geltung gebracht, als daß sie durch das Wasser der mitgesprochenen Wörter verdünnt werden. Auch fühlen die Gebärdenden oft durch das Bündeln der Inhalte auf die Gebärden spiritual (= übersinnlich) erhobener, was ja der Zweck einer religiösen Aktivität sei. Die Gebärdensprache wird nie rein, wenn Wörter mitgesprochen werden. Geschieht das, wird dafür die Mundgestik geopfert, die die Bedeutung einer Gebärde zusätzlich wie ein Beiwort modifizieren kann. Die DGS beginnt sich mit Deutsch zu vermischen und hört allmählich auf, DGS zu sein. So verwässert, wirkt diese Mischsprache gewöhnlich flach auf die Zuhörer. Beachte, das Wort "Deutsche" in DGS betrifft nur geographisch "in Deutschland" und hat nichts mit der Tatsache zu tun, daß deutsche Wörter auch mitgesprochen werden, wie unrichtig im 'sbw'-Kommentar angedeutet ist (Seite 21).

Die Tatsache des Mitsprechens beim Gebärden, in Deutschland stärker als anderswo, bringt sogar Sprachwissenshaftlern Schwierigkeiten, ein zufriedenstellendes theoretisches Erklärungsmodell zu erstellen. In der Zeitschrift DAS ZEICHEN wird darüber diskutiert, welchen Stellenwert das Wortmundbild in der Phonologie (Lehre, welche strukturelle Untereinheiten ein Wort oder eine Gebärde hat) der DGS einzunehmen hat. Die Debatte findet nur auf wissenschaftlicher Ebene statt und braucht uns Gebärdenbenützer nicht zu kümmern. Wenn Prof. Leuninger sprachwissenschafts-theoretisch erklärt, das Wortmundbild gehöre nicht zur Phonologie der DGS, aber anderswo, bedeutet nicht, daß es nicht mitgesprochen werden darf und auch nicht, daß es unwichtig für die Verständigung sei.

In Deutschland leiden taube Menschen noch unter den Nachwirkungen des jahrhundertelangen Oralismus, unter der Unterdrückung ihrer natürlichen Gebärdensprache. Die Gebärdensprache konnte sich nicht voll entwickeln. Sie wurde in Dialekte zersplittert. Der Gebärdensprachwortschatz wird klein gehalten. Gleiche Gebärden werden für einige Begriffe gemacht, wofür man Worte zur Bedeutungsunterscheidung heranzieht, z. B. Städtenamen. Entstellte Gebärden entstehen in Anlehnung an deutsche Wörter, z. B. die Gebärde AUSSCHUSS wird mit SCHIESSEN und ZEICHEN mit ZEICHNEN gebärdet. Taube Kinder lernen die Gebärdensprache entweder nicht oder nur sehr spät ohne vollsprachliche Vorbilder. Sogar das Manualalphabet wird ihnen vorenthalten. So ist es kein Wunder, daß taube Menschen verstärkt in Deutschland sich genötigt fühlen und daraus eine Angewohnheit gebildet haben, stets beim Gebärden mitzusprechen. Sie fühlen sich wie aus den Angeln gehoben, wenn plötzlich jemand mit dem Mitsprechen aufhört. Auch haben leider viele die Ansicht ihrer Lehrer verinnerlicht, dadurch nicht mehr "taubstumm" geworden zu sein und beschimpfen die Nichtmitsprechenden mit gleichen Ausdrücken "taubstumm", "Affe", "Höhlenbewohner" usw.

Es gehört zum Selbstbewußt-Werden, wenn taube Menschen sich aus den Fesseln dieser oralistischen Vergangenheit zu befreien versuchen. In dieser Entwicklung wird selbstverständlich ihre Komm unikationsformen, Gebärdensprache eingeschlossen, unter die Lupe genommen, was unweigerlich als Resultat das gleichzeitige Sprechen allmählich reduziert wird als Akt der Befreiung. Die Auflehnung gegen die bereits stattfindenden Veränderungen ist auch natürlich und wird in Physik und Psychologie als Trägheit verstanden. Man braucht halt Zeit und Beschäftigung mit der Materie. B.W. und anderen Schreibern muß dafür gedankt werden, an diesem Selbsterläuterungsprozeß beigetragen zu haben.