Entnommen aus der "SGB Nachrichten" des Schweizerischen Gehörlosenbundes:
Gebärdende Lieder - Bewegung als musiklischer Ausdruck
Ich hatte die Gelegenheit, Mischa Käser als Projektleiter für ein experimentelles Theater kennenzulernen, als er mich anfragte, ob es drei gehörlose Personen gebe, " die bereit wären, als Darsteller/innen mitzumachen. Es interessierte mich sehr, mit ihm über sein Projekt zu sprechen. Heidi Stocker dolmetschte das Gespräch.  

Peter Hemmi: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, dieses Projekt zu machen?
Mischa Käser: Ausgegangen bin ich von der Gebärdensprache, also eigentlich nicht von der Sprache, sondern von den Gebärden. Das war für mich sehr faszinierend, wie eine Art Tanz mit dem Oberkörper, mit den Händen, mit den Fingern. Das war der Ausgangspunkt. Später kam die Musik dazu und die Tänzer/innen, es ist ja ein Projekt für drei Tänzer/innen, drei Gebärdensprechende und drei Musiker. Das Thema war eigentlich im weitesten Sinne «Sprachfindung». Ich wollte diese verschiedenen Sprachen einander gegenüberstellen. Sie sollen sich ergänzen und kommentieren. Das war mal der Anfangspunkt.
P. H.: Das bedeutet also, daß wir hier drei verschiedene Formen haben, die wir dann zu integrieren versuchen?
M. K.: Genau. Drei verschiedene Sparten: die Lautsprache (die sprechenden Musiker), da ist die Wahrnehmung eine akustische, die Gebärdensprache, die man visuell wahrnimmt, und dann gibt es die reine Musiksprache, die ja sehr umstritten ist als Sprache, weil sie ja nichts bedeuten soll außer "klingende Form", u. die Tanzsprache, die auch eine abstrakte ist. Sie kann zwar etwas erzählen, aber man kann es nicht genau übersetzen.
P. H.: Sie haben vom Tanz gesprochen, vom Körper. Das kann man nicht genau übersetzen. Aber es gibt trotzdem Informationen, ist das richtig so? Man kann eine Geschichte erzählen mitTanz; und mit der Gebärdensprache, da kann man natürlich Informationen genau
 
 Ich möchte die Gebärde als Kunstobjekt benutzen, wie das auch von modernen Gebärdedichter/innen gemacht wird.
geben. Und über Lautsprache selbst verständlich auch. Also ich denke, Musik gibt vielleicht mehr Information über Gefühle, z.B. Freude, Traurigkeit vielleicht. Auch die Stimmungen werden wiedergegeben. Hingegen bei der Gebärdensprache, da kann man natürlich auch Trauer und die Stimmung ausdrücken, aber man kann auch ganz genaue Informationen, ganz sachliche Dinge vermitteln.
M. K.: Mich hat aber weniger Inhaltliches interessiert. Daß man mit Gebärdensprache Inhalte vermitteln kann, das sollten heute eigentlich alle wissen, daß das nicht nur eine ikonische (bildhafte, die Red.) Sprache ist, sondern eine natürliche Sprache. Ich möchte noch einen Schritt weitergehen: Ich möchte die Gebärde als Kunstobjekt benutzen, wie das ja auch von modernen Gebärdedichter/innen gemacht wird. So können Gebärden für Töne stehen, und es können durch die horizontale und vertikale Anordnung der Gebärden Melodien und Harmonien entstehen. Wenn drei Gebärdende dasselbe gebärden hintereinander, gibt das einen Kanon (Musikstück, bei dem verschiedene Stimmen in bestimmten Abständen nacheinander mit derselben Melodie einsetzen, die Red.).
P. H.: Denn in der Gebärdensprache ist es ja so, daß in der Schweiz auch kommuniziert wird mit dieser Sprache. Natürlich gibt es auch Gebärdenwitze, Erzählungen usw., nicht nur Informationen natürlich, es wird auch erzählt in dieser Sprache und auch Rollenspiele werden gemacht mit der Gebärdensprache. Z.B. wenn Leute streiten, so kann man das mit Mimik und mit Rollenspiel sehr genau zeigen. Aber z.B. Kunstlieder, das gibt es noch sehr wenig in der Gebärdensprache. Z. B. in Amerika, dort sind die schon viel weiter entwickelt, dort gibt es natürlich auch Gebärdenlieder. Die haben auch ganz spezielle Formen, z.B. ist es die Handform, die immer dieselbe ist, vielleicht dieselbe Handform mit verschiedenen Bedeutungen. Das übernehmen wir hier natürlich auch in der Schweiz, da wird sich das auch entwickeln. Es gibt auch schon einige Gehörlose, die in Amerika waren und sich das angesehen haben und dann sehr interessiert zurückgekehrt sind, darüber informiert haben, aber noch nicht sehr weit.
M. K.: Ja, ich habe erst im Nachhinein, nach meinem Konzept, angefangen zu lesen, ob es schon etwas gibt in dieser Richtung, und war sehr erfreut, daß sich die gehörlosen Gebärdesprechenden auch mit diesen Gebärden als Kunstform auseinandersetzen
P. H.: Haben Sie selber auch schon experimentiert damit?
M. K.: Nur jetzt in den Proben mit den drei Gebärdesprechenden. Aber es zeigt sich, daß ich sehr viel von meinen Vorstellungen auch korrigieren muß, anpassen muß der Kultur und den Gebärdesprechenden. Aber es ist eine sehr spannende Arbeit.
P. H.: Vorher haben Sie über Ihr Drehbuch und die verschiedenen Teile erzählt. Sie haben ja auch schon mit den Proben angefangen. Mit den drei Gehörlosen haben Sie ja schon begonnen. Was denken
 
Es gibt keine Erzählung,  aber eine Bewegungsgeschichte mit Anfang, Entwicklung und Ende.
Sie, entspricht dies nun Ihren Vorstellungen von Gebärden als Kunstobjekt oder müssen Sie auch das revidieren (überprüfen, die Red.). Helfen Ihnen die Gehörlosen selber dabei oder müssen Sie mehr erklären und hinweisen?
M. K.: Also ich probiere, möglichst viel ihnen selber zu überlassen, z.B. was das Finden von Gebärden anbelangt. Ich schreibe z.B. vor, eine Gebärde soll starr, steif sein, z.B. wie «ECKIG», «FORT», «NIE» oder «EINVERSTANDEN». Und dann gibt es einen kontinuierlichen (fortlaufenden, die Red.) Wechsel von diesen Gebärden in bewegte Gebärden, also z.B. «VIOLETT», «WAS». Die starren Gebärden werden mehr und mehr abgelöst. Und dann findet noch ein Wechsel statt, wo die Spieler/innen diese bewegten Gebärden benutzen müssen und Sätze daraus bilden. Die Sätze sind wieder frei, die Spieler/innen können wählen, was sie wollen. Was ich sehen möchte, ist am Anfang etwas sehr Steifes, Festes, Fixiertes was immer mehr aufgeweicht wird, es kommen auch immer mehr Emotionen hinein und die Gebärden verbinden sich immer organischer.
P. H.: Nun zum Inhalt des Stückes. Was denken Sie, wird das Publikum mehr Bewegung sehen, mehr Gebärden, mehr spüren'? Oder denken Sie, daß das Publikum auch verstehen soll oder geht es nur um die Wahrnehmung der Formen, Musik usw.? Ich denke, das wird ja wahrscheinlich sehr anspruchsvoll sein für die Zuschauer/innen, da auch etwas zu verstehen bei diesem Hin und Her.
M. K.: Ja, die Aufgabe ist dann eben für uns, daß wir diese Formen sinnlich wahrnehmbar machen, daß sie nicht einfach wie eine Übung daherkommen, sondern daß es eben eine sinnliche Wahmehmbarkeit gibt. Es gibt sicher keine Erzählung, aber eine Bewegungsgeschichte mit Anfang, Entwicklung und Ende. Formale Abläufe können eben auch viel erzählen. Nur ist die «Erzählung» nicht so leicht deutbar! Manchmal wird übereinander geschichtet, also Gebärde, Musik und Tanz alles parallel, und manchmal wird vielleicht nur ein/e Gebärdesprechende/ r etwas machen.
P. H.: Also werden diese verschiedenen Formen zusammenpassen. Und ich denke z.B., die Gehörlosenkultur und die Kultur der Gesellschaft werden da auch irgendwie integriert, zusammengebracht.
M. K.: Ja, dazu ein Beispiel, wie die Wahrnehmung der verschiedenen Kulturen funktioniert. Es gibt eine Geschichte in vielen kleinen Abschnitten. Die wird erzählt, die ist aber - wie soll ich sagen - sehr skurril (sonderbar, die Red.), sehr komisch. Die ersten drei Abschnitte werden von drei Musikern gelesen. Wenn drei Leute Lautsprache benutzen, drei einen Text lesen, wird man nichts oder sehr wenig verstehen. Das ist das Resultat. Die drei nächsten Abschnitte werden von drei Gebärdesprechenden gebärdet. Die gehörlosen Zuschauer/innen können sich eine/n Gebärdesprechende/n herausnehmen und einfach nur diesen Abschnitt verstehen. Also die Verständnismöglichkeit ist viel größer, weil die Gebärdesprechenden sich nicht zudecken. Man muß sich einfach entscheiden für eine Geschichte oder einen kleinen Partikel (Teil, die Red.).
P. H.: Und bei den Hörenden? Können sie bei den Gehörlosen dann etwas verstehen?
M. K.: Es wird genau sein wie bei den Hörenden auch. Die Hörenden werden die Gebärdesprechenden nicht verstehen, außer sie können die Gebärdensprache und umgekehrt auch. Also werden an diesem Abend - das gehört auch zu diesem Abend - immer auch Teile da sein, die man nicht versteht. Aber man wird etwas sehen. Der Tanz ist eine Art Synthese (Verbindung, die Red.). Die Tänzer/innen werden von den gebärdesprechenden Gehörlosen und den Hörenden beide gleich
 
Oft wird gezeigt, wie schwierig Kommunikation eben ist, nicht nur zwischen den Kulturen, sondern auch innerhalb.
 
«verstanden» oder «nicht, verstanden». Aber ein/e Tänzer/in drückt eben nur seinen/ihren Körper aus und kann eigentlich auch nicht eine Geschichte erzählen, oder nur sehr vage.
P. H.: Sehr interessant. Sie haben von einem Mann erzählt - den Namen habe ich vergessen - er ist von Deutschland, von der DDR, er hat selber über Sprachfindung geschrieben. Können Sie mir kurz etwas erzählen über diese Person?
M. K.: Es ist Kurt Drawert. Er ist ein relativ junger Schriftsteller und alle seine Bücher sind sehr interessant. Er hat als Kind aus Protest gegen seine Eltern, die ihn sehr schlecht behandelt haben, die Sprache verweigert, hat also einfach aufgehört zu sprechen für längere Zeit. Er liest ein Kapitel aus seinem Buch «Spiegelland - ein deutscher Monolog». Und daraus liest er «Der Augenblick der Beschädigung der Stimme». Eine Dolmetscherin wird die Lautsprache in Gebärden übersetzen.
P. H.: Wo und für welches Publikum wird das Theater gespielt?
M. K.: Das ist in der Roten Fabrik und wird dreimal aufgeführt und ist natürlich für Hörende und Gehörlose gedacht. Also ich hoffe, daß vor allem viele Gehörlose kommen.
P. H.: Ich denke schon, ja. Denn ich denke, es ist so etwas Neues. Ich bin also überzeugt, daß viele Leute kommen und hoffe auch, daß Hörende und Gehörlose dies zusammen erleben können. Jetzt war es immer so, daß wenn Gehörlose Theater gespielt haben, dann waren sie immer für sich alleine. Und die Hörenden haben für sich alleine Theater gespielt, also gesprochen, und die Gehörlosen haben für sich ohne Stimme nur gebärdet. Und dieses Projekt will ja beide Welten integrieren. Und ich finde das sehr interessant. Was ich auch sehr positiv finde, auch für Hörende, daß auch Hörende sehen sollen, daß es möglich ist, daß beide Welten, die gehörlose und die hörende, eine Sprache haben. Das ist sehr wichtig, daß man das auch einmal zusammen sieht.
M. K.: Darum ist es für mich sehr wichtig, daß sich die einzelnen Gruppen eben auch autonom (selbständig, die Red.) bewegen auf der Bühne und nicht so eine Pseudokommunikation (Scheinkommunikation, die Red.) gesucht wird, wo man dann mit allen Mitteln probiert, irgendwie zusammenzukommen. Im
 
Ich habe mich eigentlich geschämt, weil ich die Gebärdensprache nicht kann.
 
Gegenteil: Oft wird gezeigt, wie schwierig Kommunikation eben ist, nicht nur zwischen den Kulturen, sondern auch innerhalb. Ich denke, wichtig ist ja wahrzunehmen, wie sich diese einzelnen Kulturen äußern.
Ich will, daß die Gebärdensprache genauso behandelt wird wie die andern Kunstformen auch. Sonst würde man gleich wieder sagen: Das ist wieder so ein Hilfsprojekt für Gehörlose. Und das will ich ja nicht.
P. H.: Super. Nun, es gibt natürlich einen soziologischen (gesellschaftlichen, die Red.) Unterschied: Die Hörenden sind die Mehrheit, die Gehörlosen sind eine Minderheit. Und bei den Gehörlosen gibt es auch soziale Probleme, und dennoch sind die Gehörlosen an sich voll kommunikationsfähig. Also sie können miteinander kommunizieren. Natürlich: Sie hören nichts, das ist klar, aber geistig usw. sind sie auf dem genau gleichen Niveau.
M. K.: (lacht) Ja, das sehe ich auch so.
P. H.: Wie wird es weitergehen nach der Aufführung des Theaters?
M. K.: Das kommt darauf an, ob es Veranstalter/innen gibt, die sich interessieren für so ein Projekt. Die werden eingeladen. In der Schweiz ist es leider sehr schwierig. Die Kleintheater, die sich dafür interessieren, haben sehr wenig Geld und das Projekt ist nicht billig. Es sind neun Aufführende und der Sprecher, also der Kurt Drawert, und eine Dolmetscherin muß ja auch dabei sein, sie übersetzt das Kapitel von Kurt Drawert. Also, das ist die Hauptschwierigkeit, das Geld!
P. H.: Haben Sie vom Schweizer Bund Unterstützung bekommen, z.B. von Pro Helvetia oder so?
M. K.: Ja. Ja ja...
P. H.: Aber nicht genug?
M. K.: Inzwischen hat uns ein Geldgeber zu verstehen gegeben, daß er weniger zahlen wird als versprochen. So kommen wir nun doch vorübergehend in finanzielle Schwierigkeiten. Uns fehlen noch ca. Fr. 3.500.-. Wir sind also froh um jede finanzielle Unterstützung!
P. H.: Als Sie das erstemal Gehörlose getroffen haben, wie sind Sie dann mit den Gehörlosen umgegangen? Wie haben Sie sich gefühlt?
M. K.: Ich habe mich eigentlich geschämt, weil ich die Sprache nicht kann. Es geht mir so, wie wenn ich in ein kann. Es geht mir so, wie wenn ich in ein anderes Land gehe und die Sprache nicht kann. Das ist für mich sehr beschämend. Ich möchte mich lieber als Fremder anpassen, als daß sich die andern mir anpassen müssen. Und ich erlebe natürlich jetzt auch in den Proben immer wieder die Situation in den Proben mit den drei Gehörlosen, daß sie miteinander sprechen und ich verstehe nichts. So komme ich auch in die Situation zu sehen, was es bedeutet für euch, eine Minderheit zu sein.
P. H.: Zum Glück, kann man sagen, daß es ja nur zwei, drei Stunden sind, wo Sie dann isoliert sind. Bei uns Gehörlosen ist das ja jeden Tag der Fall.
M. K.: Ja, ja....
P. H.: Da fühlt man sich auch unterlegen, also das gehört zu uns. Und wir wissen, daß das so läuft. Es ist nicht irgendwie für uns dann zu schwer, weil ich denke, das gehört zu unserer Person.
M. K.: Aber was ich bei euch das Gefühl habe, also ihr seid sozial sehr gut integriert, oder wenigstens die Leute, die ich jetzt kenne. Ich habe das Gefühl, daß die einen grösseren sozialen Kreis haben als ich von meinen Bekannten her kenne. Ist das eine Art Solidarität?
P. H.: Ja, ja, klar. Ich habe das auch vorher gesagt: Die Hörenden sind die Mehrheit, die Gehörlosen sind die Minderheit. Und Minderheiten haben oft das Problem, sie müssen sich anpassen der Mehrheit, und wir haben uns auch schon sehr oft angepaßt, z. B. was das Lautsprache-Lernen betrifft, die Sprache der hörenden Mehrheit. Umgekehrt, da läuft sehr wenig. Wir müssen sehr viele Schritte gehen, damit die Gesellschaft auch Schritte auf uns zu macht. Es soll nicht nur so sein, daß die Mehrheit die Macht hat.
M. K.: Richtig.
P. H.: Ich möchte mich herzlich bedanken und wünsche Ihnen viel Erfolg für Ihr Projekt.
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