An der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität FrankfurtIM, Institut für Deutsche Sprache und Literatur II, Linguistische Abteilung lehrt Frau Prof. Dr. Helen Leuninger Sprachwissenschaft und betreibt auch die Forschung. Sie hat unter anderem die Deutsche Gebärdensprache (DGS) in ihre Forschungstätigkeit aufgenommen. Sie hat daran Interesse, die für die außenstehenden Leute "eigenartige Zeichensprache" der Gehörlosen zu erforschen und darüber wissenschaftliche Berichte zu veröffentlichen.
Jede Professorin und jeder Professor in Deutschland (und sicher auch im Ausland) darf selbst entscheiden und aussuchen, was sie/er forschen will. Niemand schreibt den Professoren vor oder befiehlt ihnen, was sie machen sollen oder müssen. Auch nicht der Staat, weder die Regierung, noch die Kirche, noch die Parteien.
Im Grundgesetz Artikel 5, Absatz 3 steht:
"Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung".
Die Kultusminister passen natürlich auf, ob die Professorinnen und Professoren fleißig sind. Man mißt ihren Fleiß in der Regel am Veröffentlichen ihrer wissenschaftlichen Arbeiten. Sonst wird einer faulen Professorin oder einem faulen Professor der Titel aberkannt. So ungefähr.
Im obigen Fällen waren die Frankfurter Gehörlosen sicher überrascht, daß man im Kath. Gehörlosentheater und anderswo bei der Anwendung der Gebärden keine Worte sprechen soll. Es handelt sich nur um die Theaterspieler, die aktiv mitmachen.
Für die 'sbw'-Leser/innen ist noch ein Hinweis zu erwähnen: Unterscheide genau zwischen "Worte" und "Wörter". "Worte" ist für Äußerung, Ausspruch, Erklärung. "Wörter" ist für Einzelwort oder vereinzelte Wörter ohne Rücksicht auf den Zusammenhang, z. B. im Wörterbuch.
Leuninger hat wohl die Idee gehabt, die Körperbewegungen in Form von Handform, Handstellung, Ausführungsstelle und Bewegung allein – ohne Berücksichtigung der mitzusprechenden Worte – zu erforschen und sie schließlich zu dokumentieren. Sie gewinnt die Gehörlosen als haupt- und nebenamtliche Mitarbeiter/innen und vor allem das Kath. Gehörlosentheater für ihr Forschungsprojekt, um ihre Konzeption dort verwirklichen zu können. Natürlich werden auch die Gottesdienstbesucher aufgemuntert, Texte und Lieder ohne Wortmundbild mit zu gebärden.
Das ist gut und in Ordnung.
Nur muß man aufpassen, daß bestimmte Bezeichnungen bzw.
Bedeutungen nicht mißbraucht werden dürfen!
Zum Beispiel: die Bezeichnung "DGS" heißt genau: Deutsche Gebärdensprache.
Das heißt: Man macht Finger,- Hand-, Arm- und Mundbewegungen in Form
von deutschen, einwandfrei abzulesenden Worten, das heißt: gebärdet
und spricht gleichzeitig deutsch. Das ist ganz anderes als die Deutsche
Lautsprache. Auch ist die Grammatik ganz anderes. Der Satzaufbau ist auch
ganz anderes. Es wird keinen kompletten Satz gesprochen sondern die mitzusprechenden,
sekundären (= zweitrangigen) Worte folgen den primären (= erstrangigen)
Gebärden und erhöhen damit die Ausdruckskraft.
Aber Leuninger schrieb in ihrer "Gegendarstellung": "Zu diesen Regeln (der DGS Die 'sbw'-Schriftl.) gehört NICHT das Mundbild (Wortmundbild)". Das ist falsch.
In der Praxis vollzieht sich die tagtägliche Kommunikation zwischen den Gehörlosen mit den Handbewegungen und Worten untrennbar verbunden. Der Ablauf von Gebärden und Worten erfolgt synchron und ineinander gehend. Es ist unerklärlich, warum ein Teil der Regeln nicht zu der "DGS" gehören soll.
Wenn Leuninger es so meint, dann hätte sie als Fachausdruck die "nonverbale Gebärdensprache" verwenden sollen. "Nonverbal" bedeutet "nicht mündlich", "nicht mit Worten". Das wäre eine ganz klare Formulierung. Die "DGS" ist Eigentum der deutschen Gehörlosengemeinschaft, und ihre Bedeutung darf nicht entstellt oder verfälscht werden und muß unangetastet bleiben. Man kann doch nicht so sagen: "Die Deutsche Gebärdensprache ohne Mundbild (Wortmundbild)". Das ist Unsinn. Ebenso ist es Blödsinn, wenn man sagt: "Der Schimmel ohne weißes Fell". Das würde sehr weh tun. Auch als grober Unfug ist es zu betrachten, wenn man Werbung für ein "Gehörlosentheater in DGS" macht, obwohl dort nur ohne dazugehörende Worte gebärdet und gespielt wird. Es wäre eine glatte Irreführung für die gehörlosen Theaterbesucher, wenn sie völlig ahnungslos ins Theater gehen. Wenn ein Theaterstück ohne Mundbewegungen gebärdend vorgeführt wird, dann muß man als klaren Hinweis darauf die "nonverbale Gebärdensprache" in der Reklame erwähnen. Eine andere Bezeichnung wie z. B.: "Gebärdensprache ohne Mundbild" darf auch nicht verwendet werden, weil darin auch immer Worte verwendet werden. Auf diese Weise erfahren dann die Interessierenden genau, was ihnen dargeboten wird.
Es handelt sich dann also um die Poesie = schöngeistige Darbietung der Gehörlosenkultur ohne Worte und in Gebärden. Ob jemand daran Gefallen findet oder nicht, liegt an der berühmten Geschmackssache. Die alltägliche Kommunikation in DGS bleibt in jedem Fall von Leuningers Forschung und Konzept unberührt.
Im Februar 1998 war in der Fernsehsendung "Sehen statt Hören" das bekannte Stück "Dinner for one" oder "Der 90. Geburtstag" zu sehen. Es ist der Film, der seit 30 Jahren immer wieder an Silvester gezeigt wird. Dieses Stück hat die GL-Theatergruppe "PAX" in Frankfurt umgeschrieben und die Gäste ausgetauscht. Die Kommunikation fand auch hier nur mit Gebärden und ohne jede Wortmundbewegung statt, also war es eine nonverbale Gebärdensprache.
Die Behauptung in der "Gegendarstellung", daß "Gehörlosen die Poesie nicht gewohnt sind", kann nicht so stehen bleiben. In privaten Gesellschaftsrunden werden oft lustige oder ernste Kurzstücke ohne Worte in Gebärden dargestellt.
Daß Leuninger die nonverbale Gebärdensprache als ihr vielleicht Lieblingsgebiet in Zusammenarbeit mit PAX intensiv bearbeitet, erforscht, analysiert, scharf beobachtet, dokumentiert und als Poesie einsetzt, wäre alles in bester Ordnung. Wichtig ist es zu wissen, daß zwischen der "Deutschen Gebärdensprache" und der "nonverbalen Gebärdensprache" genau zu unterscheiden sein muß!
Unter diesen Gesichtspunkten sind die Befürchtungen der Frankfurter Gehörlosen jedenfalls unbegründet. Allerdings muß man sich fragen lassen, ob die Projektverantwortlichen Frau Prof. Leuninger und Pater Amandus nicht versäumt haben, das Forschungsziel unverblümt den ahnungslos daran zu beteiligenden gehörlosen "Komparsen" Aufklärungsarbeit geleistet zu haben.