von Helmut Vogel

 
 

Einleitung

Die Gehörlosengemeinschaft besteht seit vielen Jahrhunderten aufgrund der Gehörlosigkeit und der Gebärdensprache. Die gehörlosen Menschen lebten in den feudalen Gesellschaften überwiegend als Einzelpersonen weit verstreut, bis diese Isolation ab dem 18. Jahrhundert langsam ihr Ende fand. Erst die neuen Gehörlosenschulen und später die Selbstorganisationen der Gehörlosen boten das neue Selbstbild der Gl-Gemeinschaft. Das gilt heute überall in verschiedenen Gesellschaften auf der Welt, wobei die neuen Erkenntnisse der Gebärdensprachwissenschaften dem Selbstbild zugute kommen.

Alle hier genannten gehörlosen Menschen repräsentieren nicht die ganze Gl-Gemeinschaft mit der Auswahl dieser gehörlosen Menschen ist es schließlich möglich, die vier verschiedenen Zeitphasen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart darzustellen und auf diese Weise einen Überblick zu bieten.

 

1. Entwicklung der Gl-Gemeinschaft im 18. Jahrhundert

Im Zeitalter der Aufklärung (17./18. Jahrhundert) wurden die Gesellschaften in Europa in vielen Bereichen, z. B. Medizin, Jura, Philosophie, Pädagogik usw., modernisiert. Die modernen Staaten hatten immer mehr das Interesse, Schulen gründen und ausbauen zu lassen. Unter dem Vorzeichen der erneuerten aufklärerischen Pädagogik wurde auch die "Bildbarkeit' der taubstummen Menschen entdeckt und zu einem Thema der Pädagogik gemacht. Mehrere Taubstumme leisteten dazu einen großen Beitrag, indem sie ihre Fähigkeiten gezeigt und Anerkennung gefunden hatten.

Der Mönch Etienne de Fay (1669 - ?) baute einen Teil der Abtei in Amiens/Frankreich wieder auf und gab vier taubstummen Schülern Unterricht, darunter Francois Meusnier und Azy d'Etavigny. Mit d'Etavigny wurde der hörende T-Pädagoge Jacob Pereira (1715-1780) bekannt, der ihn dann sprechen lehrte und vor Akademien in Paris 1749 vorzeigte.

Claude-André Deseine (1740 Paris - 1823 Gentily) nahm das Studium der Bildhauerei erst nach einem "milden" Gerichtsurteil wegen Erbschaft 1779 auf. Er erhielt danach mehrere Privataufträge und gewann bei einem Wettbewerb der Jakobiner-Gesellschaft 1791 mit einer Büste von Mirabeau.

Der Fall Joseph ab 1779 war einer der wichtigsten Prozesse des 18. Jahrhunderts in Frankreich. Joseph, auf der Straße ausgesetzt, war wirklich der Sohn des Grafen Solar. Abbi de l'Epée kämpfte für ihn um das Recht auf den Adelstitel und fungierte als Dolmetscher. Dieser Fall wurde durch Theateraufführungen später in Europa berühmt.

Abbe Charles M. de l'Epée (1712 Versailles - 1789 Paris) erfuhr 1760 eine neue Lebensbestimmung nach der Begegnung mit zwei taubstummen Mädchen und eröffnete dann eine Privatschule. Es ist die erste Schule für die Gehörlosen und Behinderten auf der Welt. Er begründete die gebärdensprachlich orientierte (=bilinguale) Methode und schuf dazu methodische Gebärden für den Unterricht. Diese Methode fand eine weite Verbreitung in Europa.

Es kam auch zu einem Methodenstreit von kurzer Dauer, als de l'Epée und Samuel Heinicke (1727 - 1790) einander Briefe wechselten und de l'Epée dann ein Gutachten in dieser Frage von den verschiedenen Akademien, z. B. in Zürich, Leipzig usw., forderte. Heinicke hatte die T-Schule in Leipzig ab 1778 geleitet und die lautsprachlich orientierte (=orale) Methode vertreten. Die Gutachten fielen überwiegend zugunsten der Methode von de l'Epée aus.

In Wien wurde die Schule durch Johann Friedrich Stork (Direktor bis 1792) und Josef May, beide in Paris ausgebildet, 1779 ins Leben gerufen. Ernst Adolf Eschke (bis 1811), der Schwiegersohn von Heinicke, begründete 1788 die Schule in Berlin. Das gleiche tat Georg W. Pfingsten 1799 in Kiel (später Schleswig). Alle obengenannten Schulgründer waren hörend.

 

2. Weiterentwicklung im 19. Jahrhundert

Freiherr Hugo von Schütz (1780 Camberg - 1847 Wiesbaden) war der Schüler von Stork und May in Wien von 1788 bis 1797. Er machte dann öfters Privatunterricht für die taubstummen Kinder in seiner Heimat, bis er sich entschloß, eine T-Privatschule 1818 in Bad Camberg bei Frankfurt zu gründen. Die Schule wurde ab 1820 öffentlich, und er arbeitete als Direktor für acht Jahre bis zur "mysteriösen" Aufgabe des Postens 1828.

Ludwig Habermaß (1783 Berlin - 1826 Berlin) wurde von Eschke gefördert. Eschke hatte sich von der oralen Methode losgesagt und die bilinguale bevorzugt. Habermaß arbeitete ab 1903 als Hilfslehrer und dann ab 1811 als Lehrer bis zu seinem Tod. Er leitete zeitweise auch die Seminaren für die angehenden T-Lehrer.

Otto Friedrich Kruse (1801 Altona - 1879 Altona) besuchte die Schule in Schleswig und war Lehrer für 55 Jahre in Schleswig, Bremen, Altona und wieder Schleswig. Er hinterließ viele Schriften und versuchte auch mit Beiträgen in den Zeitschriften der T-Lehrer, eine kritische Haltung bei ihnen gegenüber der einseitig gewordenen oralen Methode zu fördern.

In Frankreich zählten Jean Massieu (1772-1846), Laurent Clerc (1785- 1869), der Begründer der T-Bildung mit Thomas Gallaudet (h) in Amerika, und schließlich Ferdinand Berthier (1803-1886), der führende Organisator der Taubstummenbankette in Paris ab 1834 und des französischen T-Verbandes ab 1838, zu den berühmtesten Lehrern.

Viele andere taubstumme Menschen wirkten, teils als Schulbegründer, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa mit. Es ist festzustellen, daß die GI-Gemeinschaft insgesamt dieser bisherigen Entwicklung viel zu verdanken hatte, weil die zuständigen hörenden und taubstummen Menschen partnerschaftlich und vernünftig zusammenarbeiten konnten.

1848 brachen die Revolutionen in vielen Ländern in Europa aus. Das Bürgertum setzte sich dennoch nicht gegenüber den dynastischen (= Herrschergeschlecht) Machthabern durch, die nationalen Parlamente errichten zu lassen. Einige bürgerrechtlichen Forderungen, z. B. Pressefreiheit, Vereinsfreiheit usw. wurden aber erfüllt.

Eduard Fürstenberg (1827 Berlin - 1885 Berlin) besuchte die T-Schule in Berlin und arbeitete dann im Königlichen Finanzministerium bis zu seinem Tod. Er wurde 1848 Vorsitzender des "Allgemeinen Taubstummen-Unterstützungsvereins von Groß-Berlin e.V.", der erste in Deutschland, und gründete 1849 den "Zentralverein für das Wohl der Taubstummen in Berlin e.V.", wobei Fürstenberg sie auch bis zu seinem Tod leitete.

Die Zeitschrift "Der Taubstummenfreund" (ab 1872 von ihm herausgegeben) und die Organisation der ersten Taubstummenkongresse (1873 Berlin, 1874 Wien und vier weitere) gingen ebenfalls auf sein Konto.

Die andere bekannte Zeitschrift im deutschsprachigen Raum war "Der Taubstummen-Courier", in Wien von 1885 bis 1904 herausgegeben. Die beiden Zeitschriften waren als Sprachrohr für den Kampf für den Erhalt der Gebärdensprache in den Schulen und gegen den überspitzten Oralismus sehr wichtig.

 

3. Diskriminierung und Politisierung der GI-Gemeinschaft durch den Oralismus ab etwa 1870

Ab etwa 1870 wurde der Oralismus ideologisch und politisch motiviert, da der Kampf um die einzige und beste Lehrmethode für die Vertreter der oralen Methode begonnen hatte. Die gescheiterte Verallgemeinerungsbewegung (1821 - ca. 1860) hatte vorher mit vielen Schulen in Europa, in denen die hörenden und taubstummen Schüler zusammen Unterricht erhielten, für die Verbreitung der oralen Methode gesorgt.

Dann wirkten einige kleine Schulen, vor allem in der Schweiz, für sie vorbildlich, bevor es zu einer irrationalen und euphorischen Bewegung in Europa kam, die schließlich fast die ganze Weit betraf. Als der Wendepunkt wurde der Mailänder Kongreß der T-Lehrer 1880 mit ebenfalls irrationalem Verlauf berühmt-berüchtigt.

Otto Friedrich Kruse warnte schon 1869 davor mit seiner Schrift "Zur Vermittlung der Extreme in der sogenannten
deutschen und französischen Taubstummenunterrichtsmethode."

Das Buch "Ein Notschrei der Taubstummen", von einem hörenden T- Lehrer Johannes Heidsiek 1891 verfaßt, erregte großes Aufsehen bei den Lehrern und Taubstummen, da er den Oralismus deutlich bekämpft hatte.

Es gab weiterhin ab 1890 zwei Massenpetitionen von den Taubstummen an den deutschen Kaiser, da sie ihn auf die Mißerfolge der einseitigen oralen Methode aufmerksam machen wollten. Dann fand ein Gerichtsprozeß zwischen dem Vorsitzenden eines T-Vereins, Buchheim, und dem hörenden Direktor einer T-Schule, Walther, in Leipzig 1893 statt, weil Walther diskriminierende Worte über die Taubstummen wegen dieser Massenpetition schrieb und Buchheim daraufhin erbost einen Artikel veröffentlichte. Buchheim verlor dennoch den Prozeß wegen Beleidigung, und war aber trotzdem zufrieden, weil er die Öffentlichkeit auf den "Generalissismus"' in den T-Schulen aufmerksam machen konnte.

In Amerika waren die Debatten zwischen Eduard Gallaudet, dem Gründer des College in Washington 1864, und Graham Bell, dem Erfinder des Telefons 1876 und rassistisch denkendem T-Lehrer (beide hörend), zu Ende des 19. Jahrhunderts berühmt. Das alles ist vielleicht symptomatisch in dieser spannungsgeladenen Zeit, wo die Welt aus den Fugen zu geraten begonnen hat, wie die zwei Weltkriege im 20. Jahrhundert zeigen.

Nach 1900 zeichnete sich die Mäßigung des Oralismus ab, da es nicht mehr ganz über die "rein-orale" Methode ablief und sie sich wieder ein bißchen variierte, ohne daß wieder auf die bilinguale Methode zurückgegriffen wurde. Die Versuche von den T-Verbänden schlugen 1921 fehl, ihre Forderungen auf die Wiedereinführung der Gebärdensprache, die Einstellung der taubstummen Lehrer und die Zusammenarbeit zwischen den T-Lehrerverbänden und den T-Verbänden in Deutschland und Österreich durchzusetzen.

Die Sterilisierungsgesetze für die gl Menschen und andere Randgruppen wurden in immer mehr Ländern verabschiedet, bis es ein dunkles und schmerzliches Kapitel der GI-Geschichte durch die rassische und menschenverachtende Politik der Nationalsozialisten im Deutschen Reich gab. Viele Gehörlosen wurden zum einen zwangssterilisiert und zum anderen durch "Euthanasie" ermordet.

 

4. Langsamer Aufschwung nach 1945

Heinrich Prochazka (1885-1964) war Schüler in Wien und danach als akademischer Maler tätig. Er verwirklichte die Ideen des "T-Reichsverbandes" 1913 und GI-Sportverbandes 1931 in Österreich. Dabei förderte er die Zeitschriften (Taubstummen-Revue 1910- 1927 und Österr. GI-Zeitung ab 1947). Zur Gründung des Weltverbandes der Gehörlosen trug er viel in Rom 1951 (mit 14 neuen Ländern) bei.

Der GI-Weltverband und seine Kongresse spielten im Laufe der Zeit eine wichtige Rolle für die Überwindung des katastrophalen Oralismus und das Engagement für die Menschenrechte der Gehörlosen.

Die Gebärdensprache der Gehörlosen erfuhr eine deutliche Verbesserung in den Gesellschaften auf der ganzen Welt. Bernhard Tervoort als hörender GI-Pädagoge und Linguist aus Holland hatte 1953 den Wert der Gebärdensprache für die Kommunikation zwischen den gl Menschen betont, bevor William Stokoe, der hörende Linguist an der Gallaudet-College, 1960 die Strukturen der amerikanischen Gebärdensprache mit den Mitteln der modernen Linguistik fand und überzeugend bewies.

Nach und nach wurden und werden die Gebärdensprachen weltweit bis heute erforscht und gelehrt.

Die Total-Communication-Bewegung entwickelte sich dann ab ca. 1965 nach dem Vorbild der Bürgerrechtsbewegung, z. B. der schwarzen Menschen, und fand ebenfalls Zugang in den GI-Schulen.

An den Veränderungen in bezug zu GI-Theater, Varianten der Gebärdensprachen usw. wirkten vor allem Bernhard Bragg (mit dem Amerikanischen Nationaltheater der Gl) und Alfredo Corrado beim Internationalen Visuellen Theater aus Paris mit.

In den 80er und 90er Jahren sorgten und sorgen das Thema "Anerkennung der Gebärdensprache" und die wieder entdeckte Idee der bilingualen Methode in den GI-Gemeinschaften für Diskussionen, wobei die "Musterländer" Schweden und USA, einschließlich die "Deaf President-Now"-Bewegung an der Gallaudet-Universität 1988, als Vorbilder für die anderen Länder wirkten.

Nicht zuletzt trugen die Forderungen des Europäischen Parlaments zur Verbesserung der Lebenssituation der gl Menschen 1988 und die vielen Veranstaltungen auf nationalen und internationalen Ebenen (z. B. Fachkongresse, KOFO's, Kulturtage, Deaf Way usw.) bei.

Die Bestrebungen auf sozialpolitischer Ebene nehmen daher einen breiten Raum bei den GI-Verbänden ein, während es im pädagogischen Bereich allzu noch schleppend verläuft. Die Vergangenheit, die durch den (verschärften) Oralismus geprägt war, scheint noch eine schwere Hypothek für die Zusammenarbeit zwischen zuständigen hörenden und gehörlosen Menschen zu sein.

Es ist immer noch dringend erforderlich, daß die bilinguale Methode diskutiert und weiterentwickelt wird. Es bedarf schließlich neuer Partnerschaft zwischen hörenden und gehörlosen Menschen in der GI-Pädagogik und Gesellschaft.



 

 

Literatur

Fischer, Renate, Lane, Harlan (Hg.):

Blick zurück. Ein Reader zur Geschichte von Gehörlosengemeinschaften und ihren Gebärdensprachen, Hamburg 1993.

Hase, Ulrich:

Erwartungen von Eltern und Betroffenen an die Hörgeschädigtenpädagogik, in: Das Zeichen 41, 1997, Seite 396-399.

Lane, Harlan:

Mit der Seele hören. Die Lebensgeschichte des taubstummen Laurent Clerc und sein Kampf um die Anerkennung der Gebärdensprache, München 1988.

Muhs, Jochen:

Eduard Fürstenberg, in: Das Zeichen 30, 1994, Seite 422-423.

Poppendieker, Renate, Staab, Angela:

Situation in der Erziehung und Bildung Gehörloser sowie in der Ausbildung von GehörlosenpädagogInnen - Abschlußbericht für die EUD, in: Das Zeichen 42, 1997, Seite 562-567.

Wolf, Silvia:  Von der "Taubstummen-Unterrichtskunst" zur Didaktik des Gehörlosenunterrichts. Teil 1 und 2, in: Das Zeichen 42, 1997, Seite 502-507 und 43, 1998, Seite 10- 18.

                                                                                           Helmut Vogel
                                                                                       Neuherbergstr. 109
                                                                                          80937 München
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