Jugendcamp im Allgäu 1997 und 1998
Freizeitmaßnahmen und Jugendfahrten Gehörloser sollen nicht nur der Pflege und Förderung zwischenmenschlicher Kontakte dienen, sondern darüber hinaus sollen sie auch in den Bereichen Bildung, Kultur, Sprache, Theater und Umwelt eine neue Grundlage schaffen, auf der jeder Gehörlose seine eigene Persönlichkeit weiter entwickeln kann. Gleichzeitig sollen durch die sozialen Funktionen einer Gruppenarbeit, Strategien zur Problembewältigung aufgebaut werden, die es den Gehörlosen ermöglichen, später im Arbeits- und Alltagsleben besser zurecht zu kommen. So schrieb Tom Bierschneider diese Zeilen, die ihn veranlaßte, im Juni 1997 gemeinsam mit dem Gehörlosenverband München und Umland e.V. (= GMU) ein Jugendcamp zu planen.
Vom 04. - 17. August 1997 fand dann unter der Leitung von Tom Bierschneider das erste Jugendcamp im Allgäu im Jugendgästehaus "Alpe Hohenegg" statt. Das Gästehaus liegt in 1200 m Höhe mitten in einer herrlichen alpinen Berglandschaft. Der nächste Ort ist Steibis bei Oberstaufen. Die Entfernung zur österreichischen Grenze beträgt nur 5 km. Die Nachbarn des Jugendcamps waren echte Allgäuer Bergkühe mit großen Alm-Glocken, lebhafte Bergziegen, die jeden Morgen freundlich zur Begrüßung herbei sprangen und Schafe, die mit Ausdauer auf der Weide grasten.
Das gut organisierte Jugend-Treffen wurde ein großer Erfolg. Die teilnehmenden Jugendlichen und ihre Betreuer sahen ihre Erwartungen bestätigt, und es war selbstverständlich, daß dieses Jugendcamp auch in Zukunft stattfinden sollte.
Nach dem tragischen Unfalltod von Tom Bierschneider in Afrika (Dezember 97) übernahm Stefan Goldschmidt aus Hamburg, der 1997 als stellvertretender Leiter im Jugendcamp mitgearbeitet hatte, für das Jahr 1998 die Planung und Organisation in Zusammenarbeit mit Markus "Micky" Meineke von der Initiative Gehörlosen-Jugend (IGJ) beim GMU.
Vom 15. - 29. August 1998 konnten dann beim 2. Jugendcamp am gleichen Ort auf der "Alpe Hohenegg" Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 unter der Leitung von fünf Betreuern lehrreiche und erholsame Tage erleben.
Fünf junge Leute hatten die Betreuung für das Jugendcamp 1998 übernommen. Drei von ihnen waren alte Hasen und zwei waren Neulinge. Die alten Hasen waren Stefan Goldschmidt, Markus "Micky" Meincke aus Immenstadt und Andreas Sailer aus München. Weitere Betreuerinnen waren Michaela Grosche aus Hamburg und Barbara "Babsi" Fehm aus Nürnberg. 1997 waren Doris Bönisch aus München und Roswitha Coenen aus Wesel als Betreuerinnen tätig.
Das Jugendcamp stand unter dem Motto "Einer für alle, Alle für einen". Von den jugendlichen Teilnehmern wurde dieser Satz zustimmend gebärdet. Die große Bedeutung der Gemeinschaft sollte durch das Motto gestärkt werden wie vor einem Jahr, als "We in, Me out, We in, Me out!" gebärdet wurde.
Wie im vergangenen Jahr begann für die Jugendlichen und ihre Betreuerinnen und Betreuer das Abenteuererlebnis schon beim Treffen auf dem Münchner Hauptbahnhof. Nach der Begrüßung und erstem Kennenlernen ging es mit dem Bergbus zur Höhe und nach kurzem Fußweg durch die interessante alpine Umgebung landeten alle bei der "Alpe Hohenegg".
Im Camp wurden drei verschiedene Gruppen gebildet, von denen jede einen "Tauf-Namen " erhielt. Die erste Gruppe nannte sich "Eulenhof", weil die Gehörlosen so scharfe Augen wie Eulen haben, sich gerne treffen und am Hof versammeln, um sich miteinander zu unterhalten, wozu sie scharf blickende Augen brauchen. Die zweite Gruppe hieß "Welt-Solidarität", da die Gehörlosen auf der ganzen Welt zusammenhalten und auch wenn sie sich gegenseitig noch nicht gut kennen, wie eine Großfamilie fühlen. Der Name der dritten Gruppe war "Wasserfall" als Symbol eines Naturereignisses mit dem Hintergrund der Eigenschaft von Gehörlosen, sich gerne und ausdauernd zu unterhalten, besonders wenn sie sich längere Zeit nicht gesehen haben. Dann stellt die Unterhaltung eine ganz intensive Verbindung her, wobei oft vergessen wird, wie schnell die Zeit vergeht.
Während eines lustigen Taufprozesses mußte jede Gruppe ein Theaterstück aufführen, um zu zeigen, womit sie ihren Namen verdient hat. Die Jugendlichen sollten den Namen in einen Zusammenhang mit dem Jugendcamp bringen. Bei dieser Zeremonie haben wir viel Spaß gehabt.
Im Jahre 1997 hatten wir ebenfalls symbolhafte "Tauf-Namen" gebildet. Hier hieß eine Gruppe "DEAF-Wald", wobei die Stille des Waldes, die Körpersprache und die Naturbewegung in visueller Beschreibung charakterisiert wurden. Der hübsche Name "Kuhlampe" paßt ebenfalls sehr gut zu der Freizeit auf der Alm. Er wurde gefunden unter der Vorstellung, daß die Kühe anstatt Glocken nur Lampen als Signal tragen, um damit ihren Aufenthaltsort auf der Weide anzuzeigen. Zwei Namen sollten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch nach dem Ende der Jugend-Veranstaltung an die Gemeinschaft erinnern. Sie wurden nach den Anfangsbuchstaben der Mitglieder gebildet und hießen "DAVAB" und "Macky-Day".
Der Tagesablauf im Jugendcamp war auch in den Einzelheiten organisiert und gut gegliedert. Wie immer früh am Morgen wurde die Jugendcamp-Fahne respektvoll gehißt und dabei ein Lied mit Freude und Stolz gebärdet. Die Jugendcamp-Fahne hatte Frau Ursula Bierschneider (gl) selbst genäht. Die erste Seite der Fahne zeigt ein grünes Blatt mit Aufschrift "JC". Über diesem Symbol sind die fünf Grundelemente des JC eingenäht: Umwelt-Bildung-Sprache- Kultur-Theater. Die zweite Seite der Fahne zeigt das Symbol des Gehörlosenverbandes München und Umland "GMU". Unser Jugendcamp 1998 war ebenso wie 1997 vom GMU und ihrem Geschäftsführer Herrn Rudi Sailer unterstützt worden. 1998 fand unser Jugend-Projekt auch Hilfe und Unterstützung von der Initative Gehörlosen-Jugend.
Nach dem Gebärdenlied begann der Frühsport, wobei die Jugendlichen die frische morgendliche Bergluft kräftig einatmen konnten. Auf dem hügeligen Gelände war der Sport manchmal ziemlich anstrengend. Aber danach schmeckte das Frühstück um so besser. Nach dem ausgiebigen Frühstück folgte jeden Tag ein volles Programm, das vom Betreuerstab und teilweise auch von den Jugendlichen selbst organisiert worden war.
Das Arbeitsprogramm beschäftigte sich mit den Themen: Umwelt-Bildung-Sprache-Kultur-Theater. Fünf Gebiete wurden bewußt formuliert und "Fünflinge" genannt als Zeichen für die Finger einer Hand zur Kommunikationsvermittlung.
Die Betreuerinnen und Betreuer behandelten dann nach ihrer Erfahrung und ihrer Ausbildung in den Vorträgen die verschiedenen Bereiche wie "Geschichte der Gehörlosen", "Kommunikation", "Kultur der Gehörlosen", "Rhetorik" und "Identität". Beim zweiten Jugendcamp erhielten die "Fünflinge" weiteren Inhalt durch die Themen "Leben mit der Gehörlosigkeit", "Gebärdensprache als Sprache und Kommunikationsform" und "Poesie-Stunde". Ebenfalls neu in das Programm eingefügt wurden "Survival(=Überleben) -Stunde" und "Tom's Stunde".
1997 konnten beim Jugendcamp gehörlose Gastredner herzlich begrüßt werden. Als Referent sprach Jürgen Stachelwitz, der Moderator von "Sehen Statt Hören" über das Thema "Sozialisation Gehörloser" und zeigte einen Dokumentarfilm über die gehörlosen Menschen, der davon berichtete, wie die Gehörlosen in der alten Zeit sich in der Gesellschaft sozialisierten.
Hans Busch kam als Vertreter des GMU zu Besuch. Er unterstützte das JC wegen der positiven Erfahrungen, der sozialen Hilfen und wegen der Bildungs-Werte für die Gruppen der Jugendlichen.
Besonders gefreut hat uns, daß Rudi Sailer als Geschäftsführer des GMU unser Jugendcamp sowohl 1997 als auch 1998 besucht hat. Rudi Sailer hat das Jugendcamp sehr unterstützt. In seinen Referaten berichtet Rudi Sailer über die geschichtliche Entwicklung der Gehörlosenvereine in Bayern und zeigte, welche große Bedeutung für die Gehörlosengemeinschaft und ihre soziale Struktur die Vereine und Verbände besitzen. Der erfahrene Tip von Rudi Sailer und sein Motto war: "Einfach mitmachen, miterleben, dann später selbst gestalten!"
Von 1997 konnten wir als weit hergereisten Gastreferenten Dan Brubaker aus Kenntucky/USA begrüssen. Dan Brubaker bot uns einen eindrucksvollen Vortrag mit "Parables of Leadership" (= Gleichnis von der Führungsleitung). Unser amerikanischer Freund ist bei dem amerikanischen Jugend Camp (YLC: Youth Leadership Camp) in Oregon tätig. Aus dem reichen Zitaten-Schatz von Dan nur einige Beispiele: "Wenn jemand einmal fragt, ist er vielleicht für fünf Minuten dumm; Wenn jemand nicht fragt, ist er vielleicht für immer dumm." (Alte chinesische Weisheit). "Leben ist eine Reise, nicht eine Endstation" (Robert Anthony). "Es gibt keine Fehler, sondern nur Lehren im Leben"; und "Behaltet Euren Big-Dream!" (= großen Traum).
Die Jugendlichen haben die Möglichkeit, sich mit den gehörlosen Erwachsenen und den eingeladenen Referenten zu identifizieren, zu diskutieren und ihre eigene Gedanken, Erfahrung und Eindrücke mit den Gesprächspartnern auszutauschen. Zum gut gegliederten Tagesablauf im Jugendcamp gehörten das morgendliche Gebärdenlied an der Jugendcamp-Fahne, ebenso wie der Frühsport und wie Diskussionsrunden, wobei zum besseren Argumentations-Erwerb Pro- und Contra-Mannschaften gebildet wurden. Themen waren hierbei "Technik gegen Natur" oder "Fernseher für Kinder - Ja oder nein?". Das war immer sehr lebhaft und aufregend und besonders eindrucksvoll, wenn sie ganz heftig diskutierten. Sie konnten viele Erfahrungen und Kenntnisse über Teamarbeit sammeln, wobei durch gute Argumentation, Schlagfertigkeit und Kritiken gleichzeitig die Lernfähigkeit gefördert wurde.
Gruppenwettspiele wie zum Beispiel: "Wissenskiste" oder "Spiel ohne Grenzen" waren sehr beliebt. Diese Gruppenwettkämpfe haben nicht nur viel Spaß gemacht, sondern auch den Teamgeist der Jugendlichen gestärkt. Außerdem konnte man hierbei auch Preise gewinnen.
Trotz aller Aktivitäten blieb noch Zeit für alle Gruppen, eifrig für ein Theaterstück zu üben, das unser Abschlußfest verschönern sollte. Für die Gruppenarbeit, für jede einzelne Aktivität und für die Wettkämpfe, z. B. das Spiel ohne Grenzen, gab es ein Punktsystem. Hierdurch wurden die Freude am Wettbewerb, die Lernfähigkeit und eine positive Motivation gefördert.
Das Freizeit-Programm bot Ausflüge und Wanderungen in die schöne Allgäuer Umgebung. So sind wir zu den Buchenegger-Wasserfällen gewandert, um dort im eiskalten Wasser vor dem hohen wunderbaren Wasserfall zu baden. Dazu wurde eine Bergkäserei besichtigt. 1997 gab es einen Ausflug zum Alpsee und 1998 ein Ausflug zu dem von König Ludwig dem 11. erbauten Märchenschloß Neuschwanstein. Viel Freude und Spaß bereitete auch der Besuch des "Aquaria", bei dem alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich im Wasser tüchtig austoben konnten.
Wenn der Tag nach umfangreichem Programm zu Ende ging, startete noch unsere "Rübeau" (RÜckblick, BEkanntgabe und AUssicht). Hier haben die Jugendlichen und Betreuerinnen und Betreuer über den Tagesablauf im "Feedback" diskutiert. Es wurden Tips gegeben und Vorschläge gemacht, wobei alle Teilnehmer in demokratischer Mitbestimmung ihre Pläne, Wünsche und Meinungen äußern und gemeinsam austauschen konnten. Die Jugendlichen sollten mit den Betreuerinnen und Betreuern im Rückblick auf die vergangenen Tage ihre Kritikfähigkeit stärken und sollten mit der Aussicht auf weitere Unternehmen ihre Phantasie aktivieren. So wurde unsere "Rübeau" ein ganz wichtiger Teil des JC. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer lernten ihre Meinung und ihre Wünsche auszudrücken, sie lernten auch untereinander mit Konflikten umzugehen und konnten andere akzeptieren und respektieren.
Die Abende waren nach Abendessen und "Rübeau" ausgefüllt durch weitere Programme wie Videovorführung, Diashow und Theateraufführungen. Ganz beliebt war unser Programm "Feuerstein", das fast jeden zweiten Abend stattfand. Wir machten ein kleines Lagerfeuer, wobei die Jugendlichen unter dem sternenklaren Himmel am wärmenden Lagerfeuer sitzen konnten und sich über Witze und Geschichten freuten und viel lachten.
Dann aber gingen die Lichter aus, denn jetzt mußte geschlafen werden, damit am nächsten Morgen wieder alle beim Gebärdenlied sich auf einen schönen neuen Tag freuen konnten: "Die Fahne des JugendCamp...Morgens, wenn die Sonne aufgeht ...
Am letzten Tag des Jugendcamps fand unsere Abschlußfeier statt. Alle Jugendlichen zeigten sich wieder von ihrer besten Seite. Spannend bis zuletzt blieben der tolle Gebärdensprachwettbewerb, erstklassige Theateraufführungen und die Wahl von Miss und Mr. Jugendcamp. Hier gewann 1998 Kim Jensen den umkämpften Miss-Titel und der Mr. Jugendcamp ging an Andreas Schulz. 1997 wurde Franziska Schulte-Henserbach Miss Jugendcamp und Thomas Mitterhuber gewann die Wahl zum Mr. JugendCamp. Es wurden die Preise an die Gruppen für Kreativität, Teamwork und Aktivitäten verteilt. Der Höhepunkt der Abschlußfeier war die Mitternachtsüberraschung. Bei dieser bekamen die Jugendlichen die Jugendcamp-Zeitung, die die Betreuer in heimlicher Wochenarbeit gedruckt haben, und ein T-Shirt mit einem Aufdruck, den der gehörlose Künstler Albert "Fise" Fischer gearbeitet hatte. Am letzten Abend kamen alle recht spät ins Bett, und am nächsten Morgen hieß es Abschied nehmen von einer schönen Zeit im Jugendcamp.
Denn diese zwei Wochen waren ein großes Erlebnis für alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Jugendcamps 1997 und auch 1998. Viele soziale Fähigkeiten konnten geübt werden. Die Gemeinschaftsarbeit, die Steigerung des Selbstwertgefühls und des Selbstvertrauens sowie die Fähigkeit zur Disziplin konnten ebenso gefördert werden wie der Respekt voreinander und die konstruktive Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Meinungen der Teilnehmer.
Dieser Erfolg und die große Begeisterung der Teilnehmer sind die Voraussetzung dafür, dieses Freizeit- und Bildungsunternehmen zur einer Tradition für gehörlose Jugendliche werden zu lassen.
Der Dank an alle Betreuer und Helfer des Jugendcamps 1998 besonders an den GMU, und die IGJ wird verbunden mit der Bitte, auch in der Zukunft bei der Planung und Ausführung dieser sinnvollen Einrichtung für gehörlose Jugendliche mitzuarbeiten.
Verfasser: Stefan Goldschmidt