Der TALISMAN - ein Spiel über Vorurteil

 
Unsere Theatergruppe PAX besteht seit 1986. Bis 1994 schrieb unser Regisseur P. Amandus Hasselbach (Gehörlosenseelsorger) die Theaterstücke selbst. Als wir 1990 in Kontakt mit dem Hamburger Zentrum für Gebärdensprache kamen und 1994 Frau Prof. Helen Leuninger kennenlernten, änderte sich viel in unserer Gemeinschaft. Wir lernten, daß Gebärdensprache eine eigene Sprache ist und entfernten uns im Theaterspiel, aber auch im Gottesdienst immer mehr von LBG. Mit Hilfe der Gebärdensprachforschung übersetzten wir die deutschen Texte in Deutsche Gebärdensprache. Im Theaterspiel änderte sich viel, unser Spiel kam "in Fahrt", weil wir nicht mehr wie die "Rampentiger " (= Schauspieler, die sich kaum bewegen und immer gezielt zum Publikum sprechen) mit LBG zum Publikum gerichtet spielten. Mit DGS war es plötzlich möglich, den Bühnenraum auszunutzen und sehr viel Bewegung ins Spiel zu bekommen. Je besser wir gebärden konnten und je sicherer wir in der DGS-Grammatik wurden, um so lockerer konnten wir spielen. Sprache ist immer die Grundlage einer eigenen Kultur. Ohne eigene Sprache keine Kultur.

Der erste Theaterversuch in DGS war der "Heiratsantrag" von Cechov. Ein Einakter mit vier Schauspielern, den wir auch auf den Kulturtagen in Hamburg spielten.

Zur Zeit spielen wir den TALISMAN von Johann Nestroy in einer DGS-Fassung.

Der TALISMAN ist schon ein abendfüllendes Theaterstück von 1½ Stunden. Manche sagen uns: warum spielt ihr nicht Geschichten über das Gehörlosenleben? Das tun wir auch (Doppelmenschgeschichten in "Sehen statt Hören").

Wir denken aber, daß es besonders jetzt, wo um die Anerkennung der Gebärdensprache gekämpft wird, wichtig ist zu zeigen, daß DGS eine komplette Sprache ist, in welcher auch Bühnenliteratur gespielt werden kann. Der TALISMAN ist in der lautsprachlichen Bühnenliteratur ein sehr bekanntes Stück und viele Menschen kennen das Spiel. Viele Hörende haben uns gesagt: Wir wollten das Stück einmal in Gebärdensprache sehen, weil wir uns nicht vorstellen konnten, daß man alles in Gebärden ausdrücken kann. Aber wir müssen sagen: Ja, ihr habt den TALISMAN ganz gespielt. (Der Original-TALISMAN hat viele Lieder, die wir natürlich weggelassen haben). Insgesamt konnten wir aber beweisen: DGS ist eine tragfähige Sprache, mit welcher man auch literarische Sprache übersetzen kann.

Große Verwirrung am Schluß: Welche Haarfarbe hat Titus wirklich?
Von links: Kammerzofe Constantia (Elke Menges, gl), Gärtnerin Flora (Helga Stier, gl),
Tochter Emma (Nicole Helfert, gl), Mutter Gräfin Cypressenberg (Daniela Happ, gl)

Wie sind wir auf den TALISMAN gekommen?

1. Wir haben das Problem "Besetzungsliste". Als Laientheater haben wir viele gute Schauspielerinnen, aber wenig gute Schauspieler. Wir mußten also ein Stück mit vielen Frauenrollen suchen. Im TALISMAN gibt es vier große Frauenrollen. Gänsemagd Salome, Gärtnerin Flora, Kammerzofe Constantia und Gräfin v. Cypressenburg Die Männerrollen (Titus Feuerfuchs, Gärtnerbursche Plutzerkern) könnten wir mit Gehörlosen besetzen. Die Rolle des Friseurs mußte leider gestrichen werden, den Erbonkel Spund spielt ein Schwerhöriger, der selbst keine DGS kann, aber ein begabter und leidenschaftlicher Schauspieler ist. Wie konnte man ihn aber in ein Gebärdentheater einfügen? Wir hatten die Idee, den Erbonkel als Hörenden auftreten zu lassen, der in der Gehörlosenwelt des TALISMAN nicht zurecht kommt. Also braucht er eine Dolmetscherin. Edda Hoestermann, die bei uns DGS gelernt hat, spielt die Dolmetscherin, die zwischen den Gehörlosen und dem hörenden Erbonkel dolmetscht. So entstand -ein "Spiel im Spiel", in welchem wir neben dem Thema Vorurteil auch noch eine Kostprobe über Gebärdensprachdolmetschen und Familienproblematik zwischen Hörenden und Gehörlosen geben können. Zusätzlich kann man im TALISMAN vier Sprachen erleben: DGS, Hochdeutsch (lautsprachliche Übersetzung), bayerisch (der sh Erbonkel ist ein Bayer!) und hessisch (die Gebärdendolmetscherin Edda Hoestermann ist eine waschechte Frankfurterin). Leider gibt es Gehörlose, die nicht von Anfang an den TALISMAN anschauen, in der zweiten Spielhälfte ins Theater kommen und dann die Rolle der Dolmetscherin mißverstehen

(siehe 'sbw'-Heft 48 Seite 20).

Von links: Tochter Emma (Nicole Helfert, gl), Mutter Gräfin Cypressenberg (Daniela Happ, gl),
Dolmetscherin (Edda Hoestermann, h), Erbonkel Spund (Josef Aner, sh)

Neben viel Beifall begleitet den TALISMAN leider auch viel Ärger. Einmal wird das Stück von Leuten kritisiert, die es nicht oder nur halb gesehen haben, zum anderen sind einige empört, daß Daniela Happ (Gräfin), Elke Menges (Kammerzofe) und Edda Hoestermann (Dolmetscherin) ohne Mundbild spielen. Alle drei Schauspielerinnen sind DGS-kompetent und empfinden das Mundbild als störend. Wer sich darüber eine Meinung bilden will, den laden wir herzlich zu Aufführungen ein. Bitte erst in Ruhe anschauen, dann kann man darüber diskutieren.

Zurück zum TALISMAN.

2. Ein weiterer Grund, warum wir uns für das Stück entschieden haben ist, daß es das Thema Vorurteil behandelt. Titus Feuerfuchs (Thomas Gold) ist rothaarig und weil dies in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts nicht fein war, hat er kein Glück in der Liebe und im Beruf. Nachdem er eine schwarze Perücke geschenkt bekommt, ändert sich alles zum Positiven. Aber der Schwindel fliegt auf, zum Schluß muß sich Titus zu seinen roten Haaren bekennen, wird aber doch glücklich, weil er die rothaarige Gänsemagd Salome heiratet. Vorurteile gab es immer und wird es immer geben. Vorurteile können sich aber auch ins Gegenteil verwandeln. So wie vor 100 Jahren rote Haare "unmöglich" waren, sind sie heute schick und viele Frauen färben sich die Haare rot. Eine von der Lautsprache unabhängige Gebärdensprache (DGS) wird heute noch von vielen als "Affensprache" beschimpft. Aber DGS ist auch "schick" geworden, denn die DGSKurse in ganz Deutschland sind überfüllt. Viele Menschen, die keine gl Verwandten haben und nicht mit Gehörlosen arbeiten, wollen trotzdem Gebärdensprache lernen, weil sie von dieser visuellen Kultur und Sprache begeistert sind. So denken wir, daß der TALISMAN viele wichtige Informationen und Aufklärungen zum Thema Gebärdensprache gibt.

Kath. Gehörlosen-Theater PAX
C. Kupczak (lautsprachliche Übersetzung)
Daniela Happ (gl)
Fax: 069 / 92 18 902