Aus : "Sehen statt hören" vom 16. August 1998

PodsMods


 
Vor zwei Jahren wurde an der Fachhochschule Potsdam im Bereich Sozialwesen ein Modellversuch für hg Studienanfänger gestartet. Dieser wurde PotsMods genannt.

 
 

Bei der Eröffnungsversammlung war "Sehen statt Hören" auch dabei.

Die Studenten wußten nicht, was auf sie zukommen würde. Das Projekt läuft nun schon seit zwei Jahren.

Was ist wohl daraus geworden? Unsere Kollegin Elke Marquardt hat vorbeigeschaut und nachgefragt.

"PotsMods"

Moderation Thomas Zander:

GL und sh Studenten der Fachhochschule Potsdam zogen vor zwei Jahren unbeschwert und fröhlich durch die Innenstadt.

Sie hatten erstmals in einem Modellstudiengang die Möglichkeit, mit Hilfe von Gebärdensprachdolmetschern ein Studium für Sozialarbeiter und Sozialpädagogen aufzunehmen.

Sprecher:

Vorlesung im Fach "Familienrecht»

"Haben Angestellte im öffentl. Dienst immer öffentlich-rechtliche Strafsachen oder Rechtssachen?"

"Nee! Das heißt es gerade nicht!"

"Arbeiter oder Angestellte müssen beim Streit mit dem Arbeitgeber, mit der Behörde, diesen Streit vor dem Arbeitsgericht austragen."

Thomas Zander:

Ich möchte die Studenten fragen, wie es bis jetzt gelaufen ist.

Zwei Jahre sind vergangen.

Zu Studienbeginn gab es fröhliche Gesichter, wie sieht es heute aus?

Hat man noch gut Lachen oder trägt man schwer an der Studienlast?

Sabine Heinecke:

Die zwei Jahre waren in Ordnung. Das Lachen ist noch da.

Ich habe die gleichen Möglichkeiten wie Hörende - durch die Dolmetscher.

Vorher in der Schule, beim Studium blieben Gehörlose immer unter sich.

Ich konnte die Leistungen nicht vergleichen.

Ich hin stolz, daß ich die Prüfungen genau wie Hörende bestanden habe.

Mein Selbstwertgefühl ist gestiegen, denn ich kann das Gleichte leisten.

Das Studium hat sich gelohnt. Ich habe es nicht bereut.

Katrin Mühlbach:

Ich hatte anfangs keine bestimmten Vorstellungen vom Studium.

Ich machte es eben. Einige fanden das Studium nicht so interessant.

Im 1. Semester überlegte ich, soll ich abbrechen oder weitermachen?

Doch Freunde sagten, das 1. Semester ist auch für Hörende ungewohnt.

Ich entschied mich, weiterzumachen. und jetzt klappt es gut

Das Studium entspricht meinen Interessen.

Ich habe die Klausur geschafft und komme Schritt für Schritt voran.

Katja Fischer:

Ich wußte, das Studium wird schwer, weil ich kein Abitur habe.

Ich hatte starken Nachholbedarf, vor allem in der Schriftsprache.

Alles andere war okay.

Die guten Prüfungsergebnisse zeigen, daß wir die Leistungen schaffen.

Peter Schick:

Ich habe auch kein Abitur, deshalb war die Umsetzung ziemlich schwer.

Aber die Gespräche und der Umgang mit den anderen waren in Ordnung.

Durch die Dolmetschereinsätze gab es keine Probleme.

Aber das Gebiet der Gesetze und Paragraphen war zuerst verwirrend.

Wir kannten das nicht und mußten das Thema weiter vertiefen.

Wir mußten uns auch abends noch damit auseinandersetzen.

Da Nachholbedarf war sehr groß.

Thomas Zander:

Frau Prof. Henke ist die Projektleiterin von PotsMods.

Beim Modellstudiengang sind zwei Jahre herum, die Halbzeit ist also vorbei.

Ich möchte wissen, wie das Zwischenergebnis aussieht.

Frau Prof. Henke:

Wir waren alle gespannt auf das Ergebnis.

Zusammengefaßt kann ich sagen, das Fundament ist gelegt.

Bis auf zwei Studenten haben alle die Prüfung im 1. Durchgang geschafft.

Wir hoffen, die zwei Studenten werden die Prüfung im 2. Anlauf schaffen.

Das ist nicht selbstverständlich, daß es alle im 1. Anlauf geschafft haben.

Zumal die Gruppe wesentlich aus GL und zum kleineren Teil aus SH besteht.

Und die Prüfung an der Fachhochschule Potsdam gilt als sehr schwierig, weil die Rechts- und Verwaltungsfächer einen großen Teil einnehmen.

Das liegt an der besonderen Situation in Potsdam, also in Ostdeutschland.

Sprecher:

Zur Zeit machen die Studenten ihr Praktikum.

Einmal im Monat treffen sie sich zum Seminar in Potsdam.

Hier sind die 12 gl und sh Studenten mit der gl Lehrerin unter sich.

Sie sprechen über ihre Praktika in den Verwaltungen und Fachbereichen.

Umfrage

Nicole Damelzik:

Ich mache Praktikum in einem Hort für Sprachbehinderte und Schwerhörige.

In Potsdam. Ich möchte dort mehr mit den Kindern machen.

Sabine Heinecke:

Ab Herbst beginne ich ein Praktikum im Feminist. Frauengesundheitszentrum.

Ich habe mich vorgestellt und traf auf großes Interesse an gl Frauen.

Man informierte mich auch über Möglichkeiten im Gehörlosenzentrum.

Aber ich wollte bei Hörenden Erfahrungen sammeln, um sie auf den GL-Bereich zu übertragen und etwas Neues aufzubauen.

Denn ein Bildungsangebot für gl Frauen gibt es bisher nicht.

Ich bin sehr gespannt, wie das Praktikum laufen wird.

Ina Peters:

Ich bin im Praktikum in Hamburg und arbeite bei der Jugendhilfe speziell für Gehörlose und Schwerhörige.

Dort bieten wir Beratungen an, z. B. bei Drogenproblemen.

Wir begleiten Klienten z. B. zum Wohnungsamt, bei Antragstellungen.

Es gibt auch Pro Familia-Beratungen.

Sprecher:

Katja Fischer macht ihr Praktikum im Berufsbildungswerk (BBW) Leipzig.

Sie ist 25 Jahre alt und eine "waschechte" Sächsin aus Plauen.

Vor dem Studium hat Katja bereits als Zahntechnikerin gearbeitet.

Das war die höchste Qualifikation, die GL im BBW erreichen konnten.

Im Praktikum soll Katja einen Fragebogen fürs Arbeitsamt erarbeiten.

Darüber spricht sie mit Lehrlingen und Erziehern des BBW.

Wie klappt die Kommunikation, will sie im Gespräch wissen.

Mädchen:

Wir unterhalten uns in Gebärdensprache, aber die Erzieher können nicht gut gebärden. Dann müssen wir erklären.

Manche Leute sprechen ganz schnell.

Wir sagen, bitte langsam sprechen, denn wir sind schwerhörig.

Einige sind gehörlos und brauchen Gebärdensprache, das ist schwierig.

Sprecher:

Denken Sie, daß Gebärdensprache für Gehörlose wichtig ist?

Ja. der GL ist angewiesen auf die Gebärdensprache.

Er kann nur schwer sprechen.

Wir Erzieher hier lernen viel Gebärdensprache und wollen, daß die Lehrlinge uns verstehen, damit wir besser zusammenarbeiten.

Sprecher:

Welche Erfahrungen hast du im Praktikum gemacht?

Ich hatte am Anfang so viele Ideen, da mußte ich Grenzen setzen.

ich wollte ein Kommunikationstraining anbieten, weil ich gesehen habe, die Unterrichtssituation war nicht so gut. Es gab z. B. zu wenig Licht.

Die Gehörlosen sitzen weit weg vom Lehrer. Das würde ich ändern.

Dann habe ich DGS-Kurse organisiert, weil es hier sehr wenige gibt.

Man hat mich gefragt, und ich war bereit dazu.

Ich habe auch einen Workshop gemacht. Das hatte ich schon lange vor, weil ich die Kultur der Gehörlosen weitergeben und die Diskussionsfähigkeiten fördern möchte.

Sprecher:

Katja hält engen Kontakt zu ihrer Praktikumsbetreuerin, Frau Merseburger.

Sie übergibt eine Statistik für das Arbeitsamt.

Sprecher:

Sind qualifizierte gl Mitarbeiter ein Gewinn für das BBW?

Das ist auf jeden Fall ein Gewinn.

Wir haben auch gl Mitarbeiter in der Ausbildung.

Zum Beispiel einen Ausbilder im Holzbereich und in der Zahntechnik.

Im Sozialdienst hatten wir nur Studenten von Fachschulen, die keine Hörgeschädigten ausgebildet haben.

Wir sind froh, daß wir endlich eine gl Praktikantin haben.

Wir haben in der Kommunikationsform mit Katja viel gelernt

Sie hat andere Einsatzgebiete und Möglichkeiten, mit den Jugendlichen zu kommunizieren. Und wir lernen auch viel von ihr.

Sprecher:

Und was lernen Sie von Katja Fischer?

Wir Mitarbeiter im Sozialdienst - das sind Psychologen, Logopäden, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen - haben besonders in der Kommunikationsform mit Katja Fischer viel gelernt.

Wir haben erlebt, wie es zum Beispiel in Teambesprechungen läuft.

Der direkte Kontakt ist nicht so schwierig.

Man stellt sich auf K. Fischer ein und kommuniziert, wie man klar kommt.

Aber bei Besprechungen, wo es hin und her geht, ist es schwierig.

Da haben wir viel gelernt, auch daß ein Dolmetscher notwendig ist.

Thomas Zander:

Ich habe keine Vorstellung, wo ein Sozialpädagoge später arbeitet.

Deshalb bin ich jetzt auf dem Weg zu Petra Piel.

Sie ist für das Praktikum verantwortlich.

Petra Piel:

Nach dem Studium können sie als Sozialarbeiter/-pädagogen z. B. in Institutionen für Gehörlosen-Sozialarbeit eingesetzt werden.

In Berufsbildungswerken (BBW) oder in Schulinternaten, bei Bildungsmaßnahmen oder bei Arbeitslosenprojekten für GL.

Es gibt eine Reihe solcher Möglichkeiten für Gehörlose.

Sprecher:

Aber zur Zeit werden viele Stellen abgebaut.

Wie sind die Berufschancen für gl Sozialarbeiter/-pädagogen?

GI Sozialarbeiter kennen die Lebens- und Entwicklungsbedingungen von GL aus eigener Betroffenheit. Es gibt weniger Mißverständnisse.

Die Kommunikation läuft in der Muttersprache.

Dadurch fällt es ihnen leichter, bei der Beratung in die Tiefe zu geben.

Bei hörenden Mitarbeitern besteht die Gefahr, daß Gehörlose nicht aus sich herausgeben und nur kurz das Minimum erzählen.

Da liegen die Chancen für gehörlose Sozialarbeiter.

Thomas Zander:

Der Potsdamer Modellstudiengang ist in zwei Jahren zu Ende.

Wie wird es dann weitergehen?

Werden GL und SH leichter Zugang zu einem Studium finden oder bleibt PotsMods eine "Eintagsfliege"?

Dazu sprachen wir noch einmal mit Frau Prof Henke.

Frau Prof. Henke:

Ob es weitergeht, liegt an den Finanzen.

Ich bin eine Hochschullehrerin, die sagt, Behindertenförderung kostet Geld und bei GL viel Geld.

Dolmetscher sind Fachkräfte, die gut bezahlt werden müssen.

Wir haben Vorstellungen entwickelt, die tragfähig sind, daß wir in Potsdam einen Studiendienst entwickeln, daß von hier aus Professoren und
hg Studenten beraten werden.

Daß wir festangestellte, gut qualifizierte Dolmetscher haben, die wir einerseits als Springerkräfte einsetzen, die auch eine Dolmetscherkultur im
akademischen Bereich entwickeln.

Wichtig ist, daß die Professoren bei der Gestaltung ihrer Lehrveranstaltungen vom Studiendienst beraten werden.

Bericht Elke Marquardt
Moderation Thomas Zander
Dolmetscherin Dina Tabbert