Ein Lagebericht anläßlich der Jahrestagung

des DFGS (Deutscher Fachverband der Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik) am 18. 9. 1998

im Germanistischen Institut der Rhein.-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen

Der steinige Weg

zur Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache in Hessen

von Prof. Dr. Helen Leuninger,

Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt/Main, Linguistische Abteilung des Instituts für Deutsche Sprache

und Literatur; Vorsitzende der Gesellschaft für Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser

Die Koalitionsvereinbarung zwischen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen von 1995 sieht die Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache vor. Es wurde diesbezüglich eine Interministerielle Arbeitsgruppe eingesetzt, die am 30. 1. 1997 einen Bericht über ihre Arbeit vorlegte, der Mitte des Jahres 1997 an die Öffentlichkeit drang und einen Sturm der Entrüstung auslöste: Zum einen deswegen, weil kein Gehörloser Mitglied der Arbeitsgruppe war, sondern nur hörende Vertreter des Ministeriums für Frauen, Arbeit und Sozialordnung, des Kultusministeriums, des Landeswohlfahrtverbands und die Landesärztin für Hör- und Sprachbehinderte, zum anderen, weil die Arbeitsgruppe zu dem Ergebnis kommt, daß der Einsatz von Gebärdensprache in Frühforderung und Gehörlosenschulen nicht zu empfehlen sei. Die Argumentation, auf der diese Empfehlung basiert, ist in sich äußerst widersprüchlich und kann in ihren Konsequenzen nicht hingenommen werden. Die Linguistische Abteilung der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität hat nach Bekanntwerden des Berichts eine ausführliche kritische Stellungnahme vorbereitet und Unterschriften von etwa 1000 Sprachwissenschaftlern aus der Bundesrepublik und anderen europäischen Ländern, Betroffenen und Politikern eingeholt und die Stellungnahme plus Unterschriften an das Ministerium für Frauen, Arbeit und Sozialordnung weitergeleitet. Auszüge aus der Stellungnahme sind in den Frankfurter Linguistischen Forschungen, 21, 1997, Seiten 87-94, veröffentlicht.

Ende des Jahres 1997 und Anfang des Jahres 1998 fanden verschiedene Gespräche zwischen Betroffenen und an der Sache Beteiligten und hessischen Politikern statt, in denen nochmals sehr nachdrücklich darauf hingewiesen wurde, daß Hessen eine Neuorientierung von Frühförderung und Schule in Richtung Zweisprachigkeit (Gebärdensprache und Laut/Schriftsprache) benötigt.

Am 10. 2. 1998 wurde der Beschlußantrag von SPD/Bündnis 90/Die Grünen zur Abstimmung im Hessischen Landtag vorgelegt. Inhalt dieses Kompromisses zwischen der Position der SPD und der umfassenderen Position von Bündnis 90/Die Grünen ist die Forderung nach Einführung von Gebärdensprache neben Lautsprache in den entsprechenden Schulen, und zwar als Wahlpflichtfach ab Klasse 5, die Einbindung der Vermittlung von Gebärdensprachfähigkeiten in die Ausbildung von Gehörlosenpädagogen und die Forderung nach einer bundesweit geregelten Anerkennung des Berufsbildes "Gebärdensprachdolmetscher".

Ein gebärdensprachliches Angebot bereits in der Phase der Frühförderung, wie die Betroffenen und Bündnis 90/Die Grünen es fordern, ist in dem Antrag nicht enthalten.

Am 26. 3. 1998 wurde der Beschlußantrag im Hessischen Landtag diskutiert. Die Debatte wurde von einer Gebärdensprachdolmetscherin in Deutsche Gebärdensprache übersetzt, Wegen der Komplexität des Themas und der weitreichenden Konsequenzen, die sich aus dem Beschlußantrag ergeben, wurde jedoch nicht darüber abgestimmt, sondern der Antrag wurde zur Beratung in den Ausschuß für Frauen, Arbeit und Sozialordnung verwiesen. Über diese Debatte informiert A. Hohenberger ausführlich in DAS ZEICHEN 44, Seiten 220-223.

Am 29. 4. 1998 kamen die Vertreter des Ausschusses auf Einladung der Arbeitsgruppe "Anerkennung der Gebärdensprache" und der Linguistischen Abteilung der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität zu einer in den Räumen der Frankfurter Universität veranstalteten Anhörung zum Thema "Gebärdensprache in der Schule" zusammen, die von Dr. U. Hase moderiert wurde. Diese Anhörung fand ein sehr großes Interesse bei den Gehörlosen, der Hörsaal war überfüllt. Über die Anhörung berichtet B. Krausmann in DAS ZEICHEN 44, Seiten 280-284.

Daraufhin wurde vom Ausschuß für Frauen, Arbeit und Sozialordnung und vom Kulturpolitischen Ausschuß eine erneute sog. Expertenanhörung im Hessischen Landtag für den 2. 9. 1998 einberufen. Gegen die Zusammensetzung dieser Expertenrunde protestierten am 17. 8. 1998 Betroffene und hörende Vertreter des Bilingualismus (einschließlich Herrn Dr. Hase von DGB und Herm Donath von der DG), denmn von den eingeladenen Personen waren nur 2 gehörlos und es wurde niemand einbezogen, der in der gesellschaftlichen und kirchlichen Sozialarbeit tätig ist, kein Sprachwissenschaftler, der Experte im Bereich des Bilingualismus ist, kein Phonetiker, der über den Zusammenhang von natürlichem Lautspracherwerb und Leistungen des CI Auskunft geben kann, und dies, obwohl von der Linguistischen, Abteilung der Universität Frankfurt darum dringend gebeten wurde.

In dieser Anhörung stellten Vertretern der "Lautsprachmethode" und des Bilingualismus ihre jeweiligen Positionen dar. Der Schwerhörigen-Club Frankfurt befürwortet in einer schriftlichen Stellungnahme die Anerkennung von DGS, sehr eindrucksvoll waren die Beiträge von zwei Müttern der Arbeitsgruppe "Eltern für Gebärdensprache", die berichteten, daß erst als ihre gehörlosen Kinder und sie Gebärdensprache lernten, eine echte und tiefe Kommunikation in der Familie und ein Wissenserwerb möglich wurde. Seit Ende September liegt das Wortprotokoll dieser Anhörung vor.

Wie o.a. ist der Beschlußantrag ein Kompromiß, dem sich die Betroffenen jedoch anschließen können, weil sich ihrer Meinung nach mit der Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache Türen öffnen, die bislang verschlossen waren. Es ergeben sich daraus diverse Konsequenzen. Meiner Auffassung nach ist jetzt die Qualifikation von Gehörlosen als zukünftigen Lehrern für das Fach Gebärdensprache an der Schule und an den Universitäten vordringlich. Gebärdenkursleiter müssen anspruchsvolle Weiterbildungen erhalten, damit sie den zukünftigen Schülern bzw. Studierenden die Struktur und den Aufbau ihrer Gebärdensprache didaktisch vernünftig und inhaltlich stimmig vermitteln können. Ein Konzept für eine solche Weiterbildung wird gegenwärtig von der Gesellschaft für Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser erarbeitet. Ebenso muß die Ausbildung bzw. Fortbildung von Gebärdensprachdolmetschern nicht nur vereinheitlicht, sondern die Prüfkriterien für eine qualitativ hochstehende Ausbildung müssen bundesweit erarbeitet werden.

Aber selbst wenn der Hessische Landtag dem Beschlußantrag - noch in diesem Jahr - zustimmen sollte, dürfen wir in unseren Anstrengungen nicht nachlassen, daß neben den üblichen lautsprachlich orientierten Modellen der Frühförderung als Wahlmöglichkeit auch eine bilinguale Frühförderung angeboten wird. Die kritische Phase im Spracherwerb ist mit dem Alter von 4 Jahren abgeschlossen. Das gilt für den Lautspracherwerb ebenso wie für den Erwerb einer Gebärdensprache. In dieser Phase wird eine Muttersprache und damit einhergehend personale Identität erworben. Letztere ist Voraussetzung für eine menschenwürdige Integration in die Gesellschaft. Eine vom Ministerium für Frauen, Arbeit und Sozialordnung geplante Expertenanhörung zum Thema "Bilinguale Frühförderung" steht daher noch aus.