Mit freundlicher Erlaubnis aus der Schweizerischen Gehörlosenzeitung "SGB Nachrichten" Nr. 62/98:

Menschsein - Generell oder multikulturell
Gehörlosenbildung zwischen Moderne und Postmoderne

Vortrag von der Psychologin Alice Holzhey-Kunz, Zürich

(für Worterklärungen einfach unterstrichene Wörter anklicken!)

Aus deutschsprachigen Ländern Deutschland, Österreich und der Schweiz kamen Mitte April hörende und gehörloseFachleute und Interessierte nach Zürich, um die dreitägige Bodenseeländertagung BOTA im Kongreßhaus zu besuchen. Das Motto heißt: Fair zu dir - fair zu mir. Ziel der Tagung: Austausch zum besseren Verständnis unter allen Fachleuten und Betroffenen im Gehörlosenwesen.

Aus einigen Vorträgen hat die SGBN-Redaktion zwei Vorträge zum Abdruck aus gewählt. In dieser Ausgabe stellen wir denVortrag von der Psychologin Alice Holzhey-Kunz vor. Da der Vortrag umfangreich ist und viele Fachbegriffe enthält, haben wir ihn zusammengefaßt und sprachlich überarbeitet. Dazu ist eine Worterklärung im Kasten am Schluß dieses Artikels.

Um A. Holzhey-Kunz einwenig näher kennenzulernen, gibt sie Antworten auf die Fragen der SGBN.

A. Holzhey stellt in ihrem Vortrag die philosophischen Hintergründe der Streitfrage in der Gehörlosenbildung (Bildung inLautsprache oder Gebärdensprache) vor.

Verschiedene Menschenbilder - verschiedene Erziehungsformen

Alice Holzey-Kunz hält den Vortrag auf der Grundlage: Eltern, deren Menschenbilder verschieden sind, erziehen ihreKinder auch verschieden. Deshalb ist es so schwierig, in umstrittenen Fragen der Erziehung den richtigen Weg zu finden.

Ein Beispiel zur Erklärung: In den 60er und 70er Jahren ging es um die Frage: autoritäre oder antiautoritäre Erziehung.Bekannt dafür ist das Beispiel «Summerhill» von Alexander Neill. Man stritt darum, ob man dem Kind den größtmöglichen Freiraum gibt oder ob man es

 führt und von ihm Gehorsam verlangt. Beide Seiten, also die autoritären und antiautoritären Erziehungsvertreter,behaupteten, ihre jeweilige Erziehungsform sei dem Kind angemessen und könne seine Entwicklung am besten fördern. Und beide Seiten hatten klareBeweise für ihren Standpunkt. Auch die Erfahrung konnte nicht zeigen, welche Form richtig oder falsch ist. Beide Methoden haben ihre Erfolgeund Mißerfolge und jeweils die Erklärungen dafür. Und auch die wissenschaftliche Forschung konnte keine schlüssige Antwort geben.Warum? Eben weil die verschiedenen Menschenbilder auch verschiedene Auffassungen hervorbringen. Es sind unterschiedliche Auffassungen zuder philosophischen Frage:

«Was ist der Mensch?»

Die zwei gegensätzlichen philosophischen Auffassungen über das Wesen des Menschen sind in diesem Beispiel:

* Die Vertreter der antiautoritären Erziehung sagen: Der Mensch ist ein Individuum, ein Einzelwesen. Von Natur aus will erseine Fähigkeiten und Können voll entfalten und ist friedliebend und gut. So meinen diese Vertreter, daß nur die zwangsfreie Erziehung richtigsein kann, damit der Mensch sich entfalten kann.

* Im Gegensatz dazu sagen die Vertreter der autoritären Erziehung: Der Mensch ist ein Teil einer Gemeinschaft. Von Naturaus ist er aggressiv und egozentrisch und will sich das Leben leicht machen. Daher braucht er den Zwang und Strenge, damit er in derGemeinschaft leben und sich bestmöglich entwickeln kann.

Daraus sehen wir: Wir entscheiden uns für ein Erziehungsziel auf philosophischer Ebene, wir entscheiden uns also nach dem Menschenbild. Deshalb sind pädagogische Diskussionen endlos. Die gegenseitige Ungeduld ist deshalb so groß, weil es um mehr als nurErziehungsfragen geht, es geht um das «wahre» Menschenbild, das tief in uns verwurzelt ist. Meist haben wir keinen Abstand zu unseremeigenen Menschenbild, sehen die Schattenseiten nicht. Daher wehren wir uns gegen ein neues und anderes Menschenbild. Wir können unser Menschenbild, das unser Denken und Handeln beeinflußt, nicht einfach vergessen.

Was machen wir, wenn wir diesen philosophischen Streit endlich beenden wollen? Wenn wir uns unser Menschenbild bewußt machen, dann bekommen wir Abstand zu den eigenen Auffassungen und werden toleranter und offener gegenüber anderen Auffassungen.Dies ermöglicht uns auch, unsere Auffassungen unter Umständen zu korrigieren und zu erweitern.

Nun kommen wir zur Bildung der Gehörlosen: Auch hier gibt es eine solche Kontroverse. Die Streitfrage lautet:

* Integration der Gehörlosen in die Gemeinschaft der Hörenden durch die lautsprachliche Erziehung
oder
* Förderung der Gebärdensprache als der Sprache, die dem Gehörlosen entspricht und die seine Sprache ist.

Auch hier sind die Ursachen für diesen Streit unterschiedliche philosophische Auffassungen, die wie im Titel mit generell und multikulturell bezeichnet werden.

* Vertreter der generellen Position verteidigen die Moderne und ihre Ideale.

* Vertreter der multikulturellen Position überwinden die Moderne und verteidigen die Postmoderne. Also geht der Streit umdie richtige Gehörlosenbildung zwischen Grundauffassungen und Grundwerten der Moderne und Postmoderne.

Worum geht diese philosophische Debatte? Es wird nicht mehr darum gestritten, weiches Menschenbild richtig sei, sondernob es überhaupt ein richtiges Menschenbild geben kann.

Generelles Menschenbild und Lautsprache

Die Vertreter der Moderne sind überzeugt davon, daß ihr aufgeklärtes Menschenbild das einzig richtige ist. Weiches Menschenbild haben die Vertreter der Moderne? Sie bezeichnen den Menschen als das Wesen mit Vernunft, das heißt, der Mensch kann selbständigdenken und handeln. Aber der Mensch ist bequem und bleibt lieber unmündig.

Das allein richtige Erziehungsziel kann deshalb nur sein, den Menschen zum Selbstdenker, zur Selbständigkeit zu erziehen.Die Moderne ist überzeugt, daß ihr Menschenbild auch alle Menschen aller Kulturen verbinden kann.

Der Mensch muß seine Vernunft ausdrücken und sich in der Gemeinschaft sprachlich verständigen können. Und dazuscheinen nur die Laut- und Schriftsprachen der hochentwickelten Kulturen geeignet zu sein. Die Gebärdensprache der Gehörlosen scheint hier (in diesem Menschenbild) so chancenlos wie eine Stammessprache im hintersten Afrika. Es schien nicht vorstellbar zu sein, daß die Gebärdensprache vollwertig und der Lautsprache gleichwertig sei. Und das bedeutete für die Gehörlosenpädagogik der Moderne: Das Zielder Selbständigkeit und damit vollwertiges Menschsein kann für den Gehörlosen nur durch die Beherrschung der Lautsprache erreicht werden.Die Vertreter der Moderne sagen: Die Gehörlosigkeit ist nur ein Defekt, der durch den Erwerb der Lautsprache kompensiert werden muß. Esging also nur um die Frage, welche Erziehungsmethode den besten Erfolg bringen kann. Man fragt nicht, welches die psychischen Folgen sindund welche andersartige Sprachmöglichkeiten bestehen.

Multikulturelles Menschenbild und Gebärdensprache

Die postmodernen Denker kritisieren dagegen, daß es kein allgemeingültiges, also generelles Menschenbild geben könne.Warum? Es sei nicht rechtmäßig, den Menschen generell zu erziehen, das heißt ohne Rücksicht auf alle sprachlichen und kulturellenDifferenzen. Die generelle Erziehung habe auch verheerende Folgen gehabt. Die Postmoderne verlangt: Das allgemeine, generelle Menschenbild sollzurückgestuft werden zu einem Menschenbild, das viele andere mögliche Auffassungen auch beachtet. Diese Anschauung, der Übergangvon der Einheit in die Vielheit, vom Generellen zum Multikulturellen, wird als Gewinn, als Bereicherung und Befreiung angesehen. Dann wirdder Blick wieder frei für den Reichtum des Individuellen und Eigenartigen.
 

Gebärdensprache bedeutet Gewinn, Bereicherung  und Befreiung 

Als zweiten Kritikpunkt zeigen die postmodernen Vertreter auf die Folgen der Erziehung der Vernunft. Da sind die Folgendes wissenschaftlich-technischen Fortschritts, die Zerstörung der Natur, aber auch die Folgen der Wirtschaftlichkeit derArbeitswelt. Diese Arbeitswelt produziert einen Menschen, der wie ein Apparat funktionieren muß. Vernunft wird zu einem Machtmittel. DieVertreter der Vernunft lehnen alles, was stört, was eigenartig oder sonderbar am Menschen ist, als minderwertig ab. Der Mensch, der sich an dieVernunft nicht anpaßt, gilt als Taugenichts.

Adorno und Horkheimer erklärten treffend die Schattenseiten dieser Vernunftherrschaft im Zitat (auf die Gehörlosenabgewandelt):
 

«Furchtbares haben die Gehörlosen sich antun müssen (bzw. ist ihnen von den Hörenden angetan worden), bis der ganz auf die zweckmäßig-durchrationalisierte Gesellschaft der Hörenden zugerichtete Gehörlose geschaffen war.»

Anders gesagt: Man versucht, aus dem Gehörlosen den vernünftigen Hörenden zu machen.

Die postmodernen Denker sagen: Das Ziel, den Gehörlosen mittels Lautsprache in die Normalgesellschaft zu integrieren, seigewalttätig. Das Erlernen der oralen Kommunikation verlangt einen sehr hohen Einsatz vom Kind. Trotzdem muß das Kind leiden und dasUngenügen, das Zurückbleiben hinter der gesetzten Norm erfahren. Dagegen erscheint die Anerkennung der Gebärdensprache als großeBefreiung:

* Befreiung von einer aufgezwungenen Norm und

* Gewinnung einer eigenen Identität als Gehörlose.

Durch diese Befreiung fühlt sich der Gehörlose in einer eigenen Sprachgemeinschaft geborgen und kann dadurch die eigenenMöglichkeiten und Begabungen entwickeln. Die Gebärdensprache ist als erste Sprache zu fördern.

Gebärdensprache als gleichwertige Sprache

Dank wissenschaftlicher Erforschung wissen wir heute, daß die Gebärdensprache eine vollwertige und anderengleichrangige Sprache ist. Auch diese Wende in der Anerkennung der Gebärdensprache hat ihren philosophischen Hintergrund. Die postmodernenVertreter sind offen für die verschiedenen Sprachformen, die historisch gewachsen sind und sich verändern, offen für die Sprachformen mitunterschiedlichen Grammatiken. Sie berufen sich auf den Philosophen Wittgenstein, der sagte:

«Sprache, das sind doch die Sprachen

In der postmodernen Auffassung muß die Gebärdensprache also als gleichwertige Sprache anerkannt werden: In derGebärdensprache kann man Wissen lernen, aber auch Kunstwerke schaffen wie in jeder anderen Sprache auch.

Respekt und Fairneß

Wenn man diese endlose Kontroverse beenden will, ist gegenseitiger Respekt und gegenseitige Fairneß wichtig. Man muß üben und lernen, verschiedene Auffassungen als gleichwertig nebeneinander zu betrachten und nicht mehr die eigene Auffassung als die allein Richtige anzusehen.

Etwas Altes aufzugeben, zum Beispiel das Bild der modernen Vernunft, bedeutet auch Angst und Verunsicherung für den Menschen. Der  Mensch kann die verschiedenen Kommunikationsformen als gleich anerkennen, nur wenn er bereit ist, diese Angst und Verunsicherung auszuhalten. Die Postmoderne hat kein Rezept gegen diese Angst; sie sagt: Man bekommt nur den Gewinn, wenn man auf alte Sicherheiten  verzichtet, und der Gewinn wird mit der Zeit auch mehr Gerechtigkeit bedeuten.

Hat die Postmoderne keine negativen Seiten? Die Gefahr besteht, daß die sehr kleine Sprachgemeinschaft der Gehörlosen in der Isolation  lebt. Somit wird also das Problem der Übergänge zwischen den Kommunikationsformen wichtiger denn je.

Die Moderne und Postmoderne können den feindseligen Streit gegenseitig abbauen, wenn sie andere Auffassungen in der Gehörlosenbildung  verstehen und anerkennen. Aber das Problem bleibt, wenn man sich entscheiden muß, welche Sprache das Kind lernen soll, denn es gibt  verschiedene Möglichkeiten der Sprachbildung. Der Entscheid bleibt immer schwierig, weil das Kind die - vorläufig unbekannten - Folgen des
Entscheides zu tragen hat.

Hier ist wichtig, daß jeder Entscheid Anerkennung und Respekt verdient, weil es den allein «richtigen» Entscheid nicht gibt.
 

Zusammenfassung und Überarbeitung
Gisela Riegert und Peter Hemmi

Interview mit A. Holzhey

Liebe Frau Holzhey. Obwohl Sie berufsmäßig mit gehörlosen Menschen nichts zu tun haben, erhielten Sie den Auftrag, über die  Gehörlosenbildung an der BOTA vorzutragen. Wie ist es dazu gekommen?

Ich wurde von Frau B. Koller für ein Referat angefragt, weil mich jemand, den ich selber nicht kenne, empfohlen hatte.

Das Thema Gehörlosenbildung ist sehr komplex. Es ist Ihnen aber gelungen, die verschiedenen Meinungen im Gehörlosenwesen zu  erkennen und in Ihrem Vortrag präzise darzustellen. Wie ist das möglich?

Ich habe Literatur darüber gelesen, auch den beeindruckenden Film «Tanz der Hände» angeschaut und die speziellen Sorgen, aber auch  Chancen von Gehörlosen haben mich immer mehr interessiert.

Wie war das Echo auf Ihren Vortrag während der BOTA?

Ich habe wenig Echo bekommen, aber dieses war positiv.

In der Gehörlosenbildung streitet man darum, welche Sprache das gehörlose Kind lernen soll. Besteht auch eine solche Kontroverse bei  der Schulbildung der Hörenden?

Ja, es gibt vergleichbare Kontroversen. Zum Beispiel im Gebiet des Rätoromanischen (vierte Sprache in der Schweiz neben Deutsch,  Französisch und Italienisch), wo heute die Kinder auch in der Schule in den ersten vier Jahren nur Rätoromanisch reden und deshalb das  Deutsche zu einer Fremdsprache wird, die sie nur noch schlecht und recht beherrschen. Viele finden das gut, andere sehen darin eine  Benachteiligung im Berufsleben im Vergleich zu den Deutschschweizern. Ähnlich ist das Problem mit Ausländerkindern, die zuhause zum  Beispiel nur Türkisch reden und darum Mühe haben, in der Schule mitzukommen und sich in die neue Heimat zu integrieren. Auch die  umstrittene Forderung, man solle den Kindern in der Schule bereits ab der 1. Primärklasse Englisch beibringen, weil die Weltsprache für den  beruflichen Erfolg wichtiger sei als die eigene Muttersprache, ist vergleichbar.

Was möchten Sie persönlich für gehörlose Menschen sagen?

Ich habe durch die Beschäftigung mit dem Thema Gehörlosenbildung und die Erfahrungen an der BOTA eine neue Sicht und Einstellung zur  Gehörlosigkeit gewonnen: Ich habe gelernt, daß es nicht einfach eine Behinderung ist, sondern auch den Boden gibt für eine eigene Sprache  und Kultur, die auch uns Hörende bereichern kann; dafür bin ich dankbar. 


Wer ist Alice Holzhey-Kunz?

• 55, verheiratet, 2 Kinder

• Wohnort: Zürich

• Beruf: Dr. phil., daseinsanalytische Psychotherapeutin

• Tätigkeit: Psychotherapeutin in eigener Praxis, Ausbilderin in daseinsanalytischer Psychotherapie

• Außerberufl. Tätigkeit:   Präsidentin der Schweiz.   Gesellschaft für Daseinsanalyse

• Lieblingstätigkeit: Nachdenken   und Verfassen von Artikeln über   philosophische Grundfragen


Worterklärungen

Menschenbild - Vorstellung, wie sich ein Mensch in der Gesellschaft zu verhalten hat

autoritär - streng und zwingend, Beispiel autoritär erziehen heißt zum Gehorsam zwingen

antiautoritär - Gegenteil von autoritär (oben), antiautoritär erziehen heißt ohne Zwang und Härte erziehen, viel
Entscheidungsmöglichkeiten für Kind

Auffassung - Vorstellung, Meinung, Stellungnahme, Überzeugung

egozentrisch - ichbezogen, Beispiel: Ich bin egozentrisch heißt ich bin im Mittelpunkt der Gesellschaft, schaue nur auf mich und passe mich an die Umwelt nicht oder wenig an

pädagogisch - erzieherisch, Beispiel: pädagogische Diskussion heißt Diskussion über Fragen und Probleme der Erziehung

Kontroverse - Streitfrage, Auseinandersetzung

generell - allgemein, allgemeingültig, Beispiel: Die generelle Philosophie sagt, wir erziehen alle Kinder allgemein gleich, damit sie sich in der Gesellschaft allgemein gleich verhalten und sich an die allgemeine Norm anpassen

multikulturell - viele Kulturen umfassend, Beispiel: Die multikulturelle Philosophie sagt, wir erziehen Kinder individuell, d.h. nach ihren Fähigkeiten und Begabungen, ihren Kulturen

kompensiert - ausgeglichen, Beispiel: Der Defekt (Gehörlosigkeit) wird durch den Erwerb der Lautsprache kompensiert es heißt: Wenn man die Lautsprache kann, spürt man den Defekt nicht mehr (Ausgleich)

Anschauung - Auffassung, Ansicht, Vorstellung

Rationalisierung (rationalisieren) - Ersatz von alten Verfahren durch verbesserte moderne Technik, Beispiel: Die Gesellschaft wird rationalisiert, heißt Menschen werden zum «Normvolk» erzogen

Fairneß - ehrliches und anständiges Verhalten, auch gerechtes Verhalten.