Runder Tisch am 22. Oktober 1998 in Nürnberg zum Thema:

"Reform der Schule für gehörlose und hochgradig Schwerhörige - welche Möglichkeiten existieren?"

Am 22.10.1998 organisierte BiLis ein "Rund-Tisch-Gespräch" in Nürnberg, zu dem Vertreter verschiedener Richtungen und politischer Parteien eingeladen waren. Thema des Gespräches war die Fragestellung, ob es vorstellbar sei, an dem Förderzentrum für Hörgeschädigte in Nürnberg einen bilingualen Schulversuch einzurichten. Der 1. Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft zur Förderung der Gehörlosen und Schwerhörigen, Peter Donath, übernahm dankenswerterweise die Moderation.

Folgende Teilnehmer/innen setzten sich innerhalb einer 2½stündigen Diskussion mit besagtem Thema auseinander.

Godehard Ricke, 1. Vorsitzender von BiLis e.V.; Evelyn Ueding 2. Vorsitzende von BiLls e.V.; Dieter Haas, Direktor des Zentrums für Hörgeschädigte Nürnberg, Annette Herrmann Schmidt, Konrektorin der Gehörlosenschule Nürnberg, Jürgen Herrmann, 1. Vorsitzender des Elternbeirats des Zentrums für Hörgeschädigte Nürnberg; Norbert Pabsch und Harald Steinlein, Vorstandsmitglieder der Vereinigung der Eltern Hörgeschädigter in Bayern e.V.; H. Schmidt, Direktor des Berufsbildungswerkes Nürnberg; Volker Sauermann, Landeskirchlicher Beauftragter der evangelischen Gehörlosenseelsorge in Bayern, Gehörlosenpfarrer; Joachim Klenk, Jugendpfarrer in der evangelischen Gehörlosenseelsorge, Religionspädagoge; Renate Grieshammer, freie Mitarbeiterin der evangelischen Gehörlosenseelsorge für den Bereich Beratung hörender Eltern gehörloser Kinder, Mutter eines hörgeschädigten Kindes; Johannes Kröhnert, Pastoralassistent; Reinhold Müller, Sozialpädagoge im Sozialdienst für Gehörlose; Christine Limbacher, Stadträtin in Nürnberg (SPD); Gerhard Wagemann, stellvertretender CSUFraktionsvorsitzender, Vorsitzender des Ausschusses für Schulen und berufsbildenden Einrichtungen, Mitglied des Berzirkstag Mittelfranken; Herr Dr. Galster, Bezirk Mittelfranken. Die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Nürnberg, Frau Brigitte Wellhöfer hat sich entschuldigt.

Gedolmetscht wurde die Veranstaltung von Rita Wangemann und Sabine Gossner. Das Protokoll wurde von der Schriftführerin von BiLis, Alexa Dölle geführt.

Aufgrund der Diskussionsdauer von 2½ Stunden können hier nur die wichtigsten Inhalte in Kürze wiedergegeben werden. Ausgangspunkt der Diskussion war die Frage, ob das Förderzentrum für Hörgeschädigte in Nürnberg sich vorstellen könnte, einen bilingualen Schulversuch zu unterstützen. Dazu forderte der Moderator Peter Donath die Teilnehmer/innen auf, sich mit folgenden Inhalten auseinanderzusetzen:

Die Vertreter des Förderzentrums für Hörgeschädigte in Nürnberg betonten, daß bezüglich der Unterrichtskommunikation die Nürnberger Schule keinen Sonderweg gehen wird, da sie nicht entgegen den Bestimmungen des Staatsministeriums handeln kann. Sicherlich ist die Anerkennung der DGS notwendig, jedoch verfährt die Nürnberger Schule nach einem lautsprachlich orientierten Konzept. Die Anzahl der Kinder an der Gehörlosenschule nimmt ab. Immer mehr Cl-Kinder werden hörgerichtet in die Schwerhörigenschule integriert. Zudem liegt zunehmend der Schwerpunkt der Arbeit bei den mobilen Diensten. Die Lehrer/innen an der Nürnberger Gehörlosenschule dürfen selbstverständlich gebärden, ganz im Sinne des Auftrages des Kultusministeriums. Demnach ist jede/r Lehrer/in verpflichtet, je nach Notwendigkeit Gebärden einzusetzen. Abhängig vom Grad der Hörschädigung werden an der Nürnberger Gehörlosenschule gebärdenkompetente Lehrer/innen eingesetzt.

Es herrschte Unklarheit darüber, was die Vertreter der Nürnberger Gehörlosenschule unter Gebärdenkompetenz verstehen. Auf eine Nachfrage hin präzisierten sie ihre Aussage - gemeint war LBG-Kompetenz.

Die Elternvertreter machten deutlich, daß die Elternschaft zwar gespalten ist, daß es aber Eltern gibt, die einen bilingualen Schulversuch befürworten. Jedoch hat die Schule für die Kinder dieser Eltern - im Gegensatz zu CI-implantierten Kindern - bisher kein entsprechendes Angebot bereitgestellt. Den Elternvertretern ist aufgefallen, daß nur sehr wenige Lehrer der Gehörlosenschule gut gebärden können. Daher werden zuwenig Gebärden im Unterricht eingesetzt. Im Gegensatz zu gehörlosen Kindern gehörloser Eltern verfügen die gehörlosen Kinder hörender Eltern in der Regel über eine sehr geringe kommunikative Kompetenz. Innerhalb der Kindergruppe verwenden die Kinder unterschiedlichste Gebärden und können auch mit Hilfe der ihnen zu Verfügung stehenden Gebärden sich nur auf einem sehr niedrigen Niveau verständigen. Eine Folge der fehlenden Kommunikationsmöglichkeiten ist auch eine geringe soziale Kompetenz bei der Mehrheit der gehörlosen Kinder. Die Elternvertreter betonten, daß es außerordentlich wichtig ist, gehörlose Kinder von klein auf gebärdensprachlich zu fördern. Der Kinderpark der evangelischen Gehörlosenseelsorge sei in diesem Sinne eine wichtige Einrichtung geworden. Zudem betonten die Elternvertreter, daß der Auftrag der Schule nicht nur die Vermittlung von Lautsprache in ihrer geschriebenen und gesprochenen Form ist, sondern daß sie auch Wissen zu vermitteln hat. Dies kann mit Hilfe der Gebärdensprache wesentlich schneller und effektiver geschehen.

Eine einseitige, lautsprachorientierte Elternberatung der Schule ist eine der Ursachen für die entstehende Jugendproblematik. Nach dem Diagnoseschock, greifen die meisten Eltern nach jedem Strohhalm, der ihnen verspricht, daß ihr Kind in Zukunft ein normales Leben in der hörenden Gesellschaft führen kann. Bis die Eltern eine realistischere Sicht der Dinge bekommen, verlieren sie und ihre Kinder viele wertvolle Jahre. Eine offene Elternberatung ist daher notwendig. Die Vertreter der evangelischen Gehörlosenseelsorge stellten fest, daß ihnen immer wieder eine minimale Schrift- und Gebärdensprachkompetenz vieler erwachsener Gehörloser auffällt. Häufig mündet eine übergreifende mangelnde kommunikative Kompetenz vieler erwachsener Gehörloser in massiven Verhaltens- und Charakterstörungen. Die evangelische Gehörlosenseelsorge ist aufgrund ihrer Erfahrungen der Überzeugung, daß die DGS den Erwerb der Lautsprachkompetenz unterstützen kann. Für die Vertreter aus der Politik ist es bereits klar, daß Lautsprache und Gebärdensprache gleichberechtigte Sprachen sind. Das Kultusministerium kann allerdings nur entsprechend der Informationen handeln, die es erhält. Diese kamen allerdings erst innerhalb der letzten 2 Jahren aus anderen Bereichen. Infolgedessen existiert bereits ein Landtagsbeschluß zur Einbeziehung der Gebärdensprache in den Unterricht. Die Vertreter der evangelischen Gehörlosenseelsorge bitten zu überlegen, weshalb im Gehörlosenbereich nicht längst pädagogische Konvergenzmodelle umgesetzt wurden, wie in anderen pädagogischen Bereichen auch. Ein bilingualer Ansatz mit vernünftigen Rahmenbedingungen sei ein solches Konvergenzmodell.

Der Direktor des BBW's Nürnberg stellte fest, daß bisher die lautsprachliche Förderung an der Gehörlosenschule Nürnberg hervorragend funktioniert hätte. Es sei keinesfalls so, daß sich Gehörlose auf unterstem Bildungsniveau befinden würden. Es bezog sich dabei auf einen Zeitungsartikel in den "Nürnberger Nachrichten. Wie sonst wären sie in der Lage, qualifizierte Berufe zu erlernen. Er fügte an, daß wenn es wirklich so sei, daß über die Gebärde die Laut- u. Schriftsprachkompetenz Gehörloser verbessert werden könnte, die Gehörlosenlehrer gebärdensprachkompetent sein müßten.

BiLis - Interdisziplinärer Verein zur Förderung...
BiLis
Interdisziplinärer Verein zur Förderung
bilingualer / bikultureller Erziehung
hörgeschädigter Kinder u. Jugendlicher e.V.

Im Laufe der Diskussion kristallisierte sich heraus, daß das Förderzentrum für Hörgeschädigte in Nürnberg ein besonderes organisatorisches Problem hat. Die Schwerhörigenschule ist dem Staat unterstellt und die Gehörlosenschule dem Bezirk. Dies ist auch ein Grund, weshalb flexiblen Handlungsmöglichkeiten Grenzen gesetzt sind. Der Vertreter der CSU meinte daraufhin, daß es von politischer Seite notwendig sei, eine gleiche Trägerschaft für beide Schulen anzustreben.

Bei größerer Flexibilität im organisatorischen Bereich hat die Nürnberger Gehörlosenschule prinzipiell die Möglichkeit, DGS als Unterrichtssprache bzw. als Unterrichtsfach anzubieten, da der Schule eine gehörlose Lehrerin zu Verfügung steht. Jedoch mangelt es an genügend altersgleichen Schülern, um eine bilinguale Klasse zu eröffnen. Für eine bilinguale Klasse wären nach Ansicht der Schulleitung 6 - 8 Schüler notwendig. Innerhalb des Lehrerkollegiums müßten sich Kollegen finden, die hinter einem bilingualen Versuch stehen könnten. Zudem müssen auch bei einem bilingualen Schulversuch weitere Alternativen zur Beschulung bestehen bleiben. Es müßte eine Vergleichsklasse an der gleichen Schule existieren, die personell und materiell gleichwertig versorgt wird - ansonsten kann von einem Schulversuch keine Rede sein.

Der Vertreter der CSU betonte, daß auch bei einem bilingualen Schulversuch die untere Klassenbildungsgrenze bei 6 Schülern bestehen bleibt. Wenn jedoch nur 5 Schüler zusammenkommen würden, wird man Wege finden.

Gegen Ende der Diskussion ging es darum, daß seitens der Schulträger und der Schule eine Bereitschaft vorhanden sein müßte, gehörlose Lehrer für den DGS-Unterricht einzusetzen, um somit nicht nur die Sprache, sondern auch die damit verbundenen kulturellen Werte der Gehörlosen und die Lebensrealität Gehörloser zu vermitteln. Die Schulleitung meinte daraufhin, daß infolgedessen ein ungleicher Wettbewerb zwischen hörenden und gehörlosen Lehrer/innen mit abgeschlossenem zweiten Staatsexamen stattfinden wird, den sie nicht befürworten kann.

Zusammenfassend stellte der Moderator Peter Donath fest, daß die Nürnberger Gehörlosenschule prinzipiell offen ist für einen bilingualen Schulversuch, jedoch verschiedene Voraussetzungen dafür erfüllt werden müßten. Dies wären eine entsprechende Klassenstärke der Versuchsklasse, eine entsprechende Kompetenz der Lehrer/innen und eine offene Form der Elternberatung. Über weitere Voraussetzungen muß in folgenden Gesprächen noch diskutiert werden. 


Zusammenfassung der Diskussion: Evelyn Ueding
Wissen und Wissensvermittlung sind wichtige Zukunftsressourcen