Aus "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (Leitartikel): Nicht in jedem Fall

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zum integrativen Unterricht der behinderten Schulkinder

Niemand wird daran zweifeln, daß der gemeinsame Unterricht behinderter und nichtbehinderter Kinder und Jugendlicher im Einzelfall gelingen und auch eine bereichernde Erfahrung für alle Beteiligten sein kann. Niemand wird aber auch bestreiten, daß eine Integration Behinderter um jeden Preis nicht nur für die nichtbehifiderten Schüler von Nachteil sein, sondern auch Entwicklungsfähigkeit und Selbstbewußtsein des Behinderten erheblich schwächen kann.

Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb trotz des grundgesetzlich festgeschriebenen Verbots der Benachteiligung Behinderter zu Recht abgelehnt, daraus einen generellen Anspruch auf integrativen Unterricht abzuleiten. In den meisten Bundesländern gibt es neben Sonderschulen inzwischen Integrationsklassen an allgemeinbildenden Schulen oder auch Klassen mit einer lernzieldifferenten Integration. Kaum noch wird ein Schüler leichtfertig auf die Sonderschule verwiesen. Zumeist wird die Möglichkeit sonderpädagogischer Förderung an der allgemeinbildenden Schule geprüft. Vor allem bei Schwerst- und Mehrfachbehinderungen oder anderen ausgeprägten Verhaltensauffälligkeiten, die eine soziale Integration nahezu unmöglich machen oder spezielle sonderpädagogische Einrichtungen verlangen, entspricht der gemeinsame Unterricht nicht dem Wohl des Behinderten. Entscheidend ist eine genaue Gesamtbetrachtung des einzelnen Falles und der für ihn in Frage kommenden Schule mit ihren Fördermöglichkeiten. Die Entscheidung darf weder dem Schüler noch dessen Eltern, noch der Schulverwaltung allein überlassen werden. Es liegt auf der Hand, daß Länder mit einem wenig differenzierten Schulsystem dem integrativen Unterricht den Vorzug geben.

Häufig handelt es sich dabei um eine, oberflächlich besehen, äußerst behindertenfreundliche Ideologie, die den integrativen Unterricht als Grundlage für eine ohnehin utopische Chancengleichheit behinderter Kinder und Jugendlicher mißversteht. Ein genereller Anspruch auf integrativen Unterricht würde die Sonderschulen in besonderer Weise schwächen, da alle leichtbehinderten Schüler andere Schulen besuchten. Zurück blieben dann schwer- bis schwerstbehinderte Schüler, die tatsächlich ausgesondert würden, weil die Lernleistung der leichter Behinderten fehlte.
 

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