(Computer-) Power
to the Deaf (5)
veröffentlicht in hörgeschädigte
kinder, heft 3/97
Multimediale Kreativität von schwerhörigen
SchülerInnen mit Zusatzbehinderungen
Was kann man von Schülern erwarten, die nicht nur unterschiedliche
Grade der Hörschädigung, sondern außerdem Lernbehinderungen
und z.T. psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten aufweisen?
Ist High-Tech für sie nicht eine hoffnungslose Überforderung?
Die Startkarte zur eigentlichen Ägypten-Abteilung.
Auf einem von einem Schüler eingescannten Foto der Erde sind Textfelder
und Tasten zum Weiterblättern angebracht. Die Taste unten in der Mitte
ist eine verkleinerte Darstellung des "Klassenstapels". Genau dorthin führt
sie, wenn man sie anklickt. Ein Klick auf die Kartenfläche führt
zur Auswahl für den Ägyptenbereich. Jeder Tastenklick wird von
einem von den Schülern selbst definierten Sound begleitet.
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"Wir wollen eine CD-ROM machen!"
Diese Ankündigung war für die SchülerInnen schon recht verblüffend.
Nicht etwa, daß ihnen Computer-CDs unbekannt gewesen wären -
die niedrige Erwartungshaltung, die man ihnen entgegenbringt, hatten sie
voll verinnerlicht. Sie waren selbst davon überzeugt, daß sie
etwas so Anspruchsvolles, das vor ihnen noch nie jemand an der Schule gemacht
hatte, wohl kaum würden bewältigen können.
Der "Klassenstapel" verzweigt (die Namen
sind Tasten) zu den "privaten" Stapeln der SchülerInnen. Das Anklicken
der Glühbirne blendet Erläuterungen ein, und die Taste mit dem
Skarabäus-Käfer führt zurück in die Ägypten-Abteilung.
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Bevor ich das eigentliche Unterrichtsprojekt beschreibe, muß ich
auf die Voraussetzungen eingehen. Das Projekt wurde im Rahmen des Modellversuchs
"Computerspiele - spielerische und kreative Anwendungen..." durchgeführt.
Dieser Modellversuch findet in Bremen an einer Reihe von Schulen statt.
Die Leitung liegt bei der Landesbildstelle Bremen, und die Bremer Schule
für Schwerhörige und Gehörlose nimmt an diesem Versuch teil.
Die Betonung liegt in unserem Fall auf den "kreativen Anwendungen", was
durchaus nicht bedeutet, daß Spiele ausgeschlossen würden. Die
von uns benutzte "kreative Anwendung" ist das Programm "HyperStudio". Es
handelt sich um ein amerikanisches Autorenprogramm, das als einziges seiner
Art für beide gebräuchlichen Plattformen (Macintosh und Windows)
zur Verfügung steht. An den Bremer Schulen wird zwar überwiegend
mit Macintosh-Computern gearbeitet, da viele Schüler jedoch privat
mit Windows-PCs arbeiten, sollte die Arbeit plattformübergreifend
sein. Die Schüler lernen zwar Englisch, aber mit englischsprachigen
Programm-Menüs wären sie hoffnungslos überfordert. Aus diesem
Grunde hatten wir die Macintosh-Version vorab eingedeutscht. Bei "HyperStudio"
handelt es sich um ein Programm, mit dem man ohne Programmierkenntnisse
Präsentationen mit Tasten, Textfeldern, Bildern, Sounds und Filmen
erstellen kann. Man kann sich das Prinzip vorstellen wie eine Sammlung
beliebig vieler farbiger Karteikarten, in denen man blättert und von
denen aus man die verschiedenen Funktionen startet. Dieses Programm bietet
sich deshalb an, weil es auch von Laien zu bewältigen ist und relativ
schnell zu Erfolgserlebnissen führt.
Von dieser Seite aus sind alle Ägyptenstapel
der Schüler zu erreichen. Zusätzlich lassen sich abgespeicherte
Internetseiten und zwei digitalisierte Mini-Filmchen aus "Asterix und Cleopatra"
und zwei arabische Lieder abspielen. Man kann zudem zu zwei Spielen zum
Thema Ägypten (The Secrets of Luxor und Giza) überwechseln, ein
Malbuch ausdrucken oder sogar einen Bastelbogen für den Kopf eines
Pharaos ausdrucken (aus dem Internet aus einem amerikanischen Museum heruntergeladen).
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Den Anstoß zu dem Projekt lieferte der Geschichtsunterricht in der
Klasse. Das Thema "Ägypten" bietet sich geradezu an, die verschiedensten
Bestandteile multimedial zu verknüpfen. Allerdings muß ergänzt
werden, daß diese 8./9. Klasse bisher noch keinen Geschichtsunterricht
erteilt bekommen hatte. "Ägypten" war das erste Geschichtsthema überhaupt,
und allein die Tatsache, daß die SchülerInnen nun auch das Fach
Geschichte hatten - wie die Haupt- und Realschüler - erfüllte
sie schon mit einem gewissen Stolz. Und "Ägypten" mit Tutanchamuns
Fluch, dem Bau der Pyramiden, dem Totenkult usw. war natürlich ein
faszinierendes Thema.
Zwei Schüler setzten das Alphabet aus
Hieroglyphen zusammen. Während der resthörige Schüler sich
überwiegend dem grafischen Bereich zuwandte, übernahm es sein
schwerhöriger Klassenkamerad, für jede Hieroglyphe die entsprechende
Tonaufnahme zu machen. Klickt man eine Hieroglyphe an, wird der Buchstabe
hörbar. Auf den folgenden Karten dieses Stapels müssen dann die
Namen der SchülerInnen in Hieroglyphen-Schreibweise erkannt bzw. geraten
werden.
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Um zu diesem Thema eine multimediale Präsentation anzufertigen, mit
SchülerInnen, denen vorab alle erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten
fehlten, bedurfte es natürlich eines umfangreichen Zeitrahmens. Die
Klasse führt in diesem Schuljahr einen "Berufsschultag" durch, der
jeweils einen ganzen Wochentag (6 Unterrichtsstunden) umfaßt. Hier
ergab sich zufällig eine Zeitlücke von einem Vierteljahr, die
wir für unser Projekt nutzten. Konkret: Wir konnten an 11 Tagen jeweils
6 Stunden an dem Projekt arbeiten. Das mag auf den ersten Blick gewaltig
erscheinen. Gemessen an den umfangreichen Aktivitäten war die Zeit
jedoch knapp bemessen.
Ein Schüler scannte die Broschüre
eines Museums ein, in dem im Stil eines Daumenkinos die Mumifizierung dargestellt
wurde. Der Text wurde schlicht und einfach in ein Textfeld hinein abgeschrieben.
Auch das für für manche Schüler schon eine Herausforderung.
Auf dieser Startseite wurden zusätzlich
Tasten zum Abspielen kleiner Filme (per Internet aus einem Hamburger Museum)
und für Querverbindungen zu Internetseiten mit Röntgen- bzw-
Computertomographie-Aufnahmen von Mumien eingebaut.
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Eine unserer Zielvorstellungen war es, die Schüler weitgehend selbständig
arbeiten zu lassen. Die Vorplanung lag jedoch zwangsläufig in unseren
Händen, d.h. in den Händen der Unterrichtenden. Anfangs mußte
jede einzelne Unterrichtsstunde exakt strukturiert sein, und zwar für
jede(n) einzelne(n) der SchülerInnen. Das war differenzierter Unterricht
in extremster Form. Vorweg ging jedoch eine Einweisung im herkömmlichen
Frontalunterricht. Die SchülerInnen mußten zuerst die Handhabung
des Multimediaprogramms erlernen. Da ließ es sich nicht vermeiden,
daß alle SchülerInnen im Gleichschritt und mit Hilfe eines an
den Lehrercomputer angeschlossenen Tageslichtprojektors lernten, z.B. Tasten
neu zu erstellen, sie zu formatieren, mit Funktionen zu versehen (umblättern
zur nächsten Seite, dabei einen Sound abspielen und den visuellen
Effekt "Aus- und Einblenden" benutzen), farblich zu gestalten und zu positionieren.
Diese traditionelle frontalunterrichtliche Phase war für alle Beteiligten
schon ein wenig anstrengend. Es folgten dann weitere Einweisungen in Kleingruppen.
So mußten die SchülerInnen u.a. den Umgang mit einem Farbscanner
(zum Einlesen von Bildern), einer digitalen Kamera, dem Mikrofon und einem
Sound-Aufnahmeprogramm und einer Videokamera erlernen.
Jeder Schüler hat zur Selbstdarstellung
seinen eigenen "privaten" Stapel angefertigt. Hier waren der Phantasie
und dem Spieltrieb keine Grenzen gesetzt. Über die Taste mit dem Filmsymbol
wird ein Film mit einer kurzen Vorstellung des Schülers gestartet.
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Es stellte sich heraus, daß die SchülerInnen im Umgang mit diesen
Geräten recht geschickt waren. Allerdings ist es für sie einfacher,
ein Mikrofon und das Soundprogramm zu benutzen, als einen Text zu sprechen.
Obwohl die Texte von uns vorab sprachlich vereinfacht wurden, hatten die
Schüler große Mühe, sie zu lesen. Die Aufnahmen mußten
mehrmals wiederholt werden, und was im Endeffekt nur einzelne Minuten an
Tonaufnahmen sind, hat bei der Erstellung mehr als einen ganzen Vormittag
gedauert. Bei den Videoaufnahmen war es nicht anders. Die Aufnahmetechnik
ließ sich schnell bewerkstelligen, aber auch nur einen winzigen Text
zur Selbstdarstellung zu verfassen ("Mein
Name ist..., ich wohne in...") bedurfte intensiver Hilfe. Behinderungen
und Leistungseinschränkungen der SchülerInnen waren halt schon
vorhanden. Nur stellten sie eben durchaus kein Hindernis dafür dar,
mit ihnen auch Anspruchsvolleres zu bewerkstelligen.
Nach der allgemeinen Einführungsphase folgte die individualisierte
Arbeit. Grundsätzlich erhielten die SchülerInnen die Arbeitsaufträge,
jeweils zwei HyperStudio-Stapel zu erstellen: einen zum Thema Ägypten
und einen "privaten" zur Selbstdarstellung. Bei der Auswahl der Ägypten-Themen
hatten die SchülerInnen weitgehende Freiheit. So wählte Sandra
beispielsweise das Thema "Cleopatra", weil sie von dieser schillernden
Figur fasziniert war.
So splitternackt, meinte Sandra, dürfe
Cleopatra auf keinen Fall bleiben.
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Also wurde sie kurzerhand angezogen. Mit
Überblendeffekt beim Wechsel von einer Karte zur nächsten erfolgt
das Bekleiden dann wie im Trickfilm.
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Und so ganz ohne Sandras geliebte Afghanen
sollten Cleopatra und Mark Anton auch nicht bleiben. Also wurden zwei Afghanen
eingesetzt.
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Sandra, die aufgrund ihrer Behinderung anfangs mit dem Computer nur wenig
anzufangen wußte und ständig den Monitor betastete, war jetzt
in der Lage, Bilder zu scannen, zu bearbeiten und auch eigene Bilder am
Computer zu malen. Es war allerdings erforderlich, ihr die Freiheit zu
lassen, die Themen selbst auszuwählen. So fand sie den eigentlichen
Zugang zum neuen Medium durch ihre Lieblingstiere, Ponies und Hunde, die
sie mit Begeisterung malte und die dann Eingang fanden in ihren "privaten"
Stapel. Sandra, die im Zusammenhang mit ihrer Behinderung in ihrer Entwicklung
stark retardiert ist und den Wunsch hat, noch möglichst lange Kind
zu bleiben, nahm Anstoß an einer historischen Darstellung Cleopatras,
in der diese unbekleidet in Erscheinung tritt. Kurzerhand hat Sandra ihr
ein Kleid gemalt. Und mit Hilfe eines Überblendeffekts und der Taste
"Anziehen" wird Cleopatras Kleid langsam eingeblendet. So ganz nebenbei
kommen auch verborgene psychische Bedürfnisse hier zu ihrem Recht.
Wichtig war es auch, den SchülerInnen Zeit und Muße zu lassen.
Das galt nicht nur für Sandra, die eben trotz ihrer 16 Jahre und trotz
des eigentlichen Themas "Ägypten" nach Herzenslust ihre Afghanen malen,
scannen und in Cleopatra-Bilder einsetzen durfte. Selma nutzte auch intensiv
die Malfunktion von HyperStudio. Sie benutzte sogar die Lupenfunktion,
um möglichst pixelgenau zu malen. Und "Zeit lassen" bedeutete nicht
nur, daß sie im wahrsten Sinne des Wortes stundenlang malen durfte,
nein, sie verzichtete fast jedesmal auf die Pausen und malte und arbeitete
durch! Die Schüler waren mit einem solchen Eifer bei der Sache, daß
Peter am letzten Tag vor den Weihnachtsferien fragte: "Und was sollen wir
in den Ferien machen? Können wir nicht in die Schule kommen und weiterarbeiten?"
Diese Karte hat Selma aus einem selbstgemalten
Bild (an dem sie stundenlang gefeilt hat) und "Clip-art"-Säulen zusammengesetzt.
Außer den Navigationstasten hat sie Tasten für ihren Vorstellungsfilm
und eine kurze Tonaufnahme eingesetzt.
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Das Ziel, je zwei Stapel zu erstellen, wurde von allen Schülern erreicht.
Diese Stapel mußten dann jedoch noch alle zu einem Gesamtwerk miteinander
verknüpft werden. Diese Arbeit führten wir mit einem besonders
geschickten und interessierten Schüler an einem Wochenende durch.
Das Portieren des Gesamtwerks auf die Windows-Plattform und das eigentliche
Brennen der CD waren dann die Arbeit der Lehrer. Dennoch ist das Endergebnis,
die selbst erstellte CD-ROM, letztlich das Werk der SchülerInnen der
Klasse 8/9 E. Die SchülerInnen haben allen Grund, auf ihr Werk stolz
zu sein. Natürlich haben sie nicht ein neues Unterrichtsprogramm zum
Thema Ägypten erstellt. "Sammelmappe Ägypten" nennt sich die
CD, und die verschiedenen Stapel (Hieroglyphen, Tutanchamun, Götter
und Göttinnen, Totenkult, Cleopatra) spiegeln halt das wider, was
die SchülerInnen zu leisten imstande waren: Bilder zu malen und zu
scannen, einfache Texte zu schreiben, Tonaufnahmen zu machen, kleine Filme
zu drehen und zu digitalisieren und all das am Computer zu kleinen Präsentationen
zusammenzustellen. Angesichts der Voraussetzungen kann man da nur das amerikanische
Schlagwort zitieren: "Deaf students can!" (Und hörgeschädigte
Schüler können es doch!)
Diese Fazit ist eigentlich schon voll ausreichend. Es muß allerdings
noch einiges ergänzt werden. War die Unterrichtsform anfangs noch
völlig lehrerzentriert, so wandelte sie sich im Verlauf der Arbeit
total. Die Schüler hatten ihre individuellen Zielvorstellungen und
arbeiteten daran sehr konzentriert und selbständig. Detaillierte Vorbereitung
und Planung waren nicht mehr erforderlich. Es fanden lediglich Besprechungen
im Stil von Redaktionskonferenzen statt, in denen die Ziele und Arbeitsabläufe
besprochen wurden. Dies ist umso erstaunlicher, als Arbeitsformen wie diese
aufgrund des Sozialverhaltens der Schüler vorher nicht denkbar gewesen
wären. Die SchülerInnen konnten jetzt miteinander Arbeitsabläufe
planen und sich gegenseitig helfen. (Erwin zeigt Selma schon mal, wie das
Scannen geht, und wenn Selma mit dem Scannen fertig ist, kann Sven weitermachen.)
Wichtig ist weiterhin das Lösen von den traditionellen Rollenvorstellungen.
Im Computerraum ist der Lehrer eben nicht immer der Besserwisser. Wenn
z.B. nach vier- oder fünfstündiger Arbeit "die Luft raus" war,
durften die Schüler sich auch mit Computerspielen wie "The Secret
of Luxor" oder "Giza" beschäftigen. Und für uns Lehrer, die wir
die Spiele ausprobiert hatten und trotz eingelegter "Nachtschichten" nicht
über einen bestimmten level hinausgekommen waren, war es schon verblüffend,
wie manche Schüler uns in kürzester Zeit überrundeten. Und
ohne eine unkonventionelle Zeitregelung wäre das ganze Projekt nicht
machbar gewesen. Eine solch umfangreiche Aufgabenstellung läßt
sich unmöglich in einen starren 45-Minutentakt einpferchen.
In technischer und organisatorischer Hinsicht waren unsere Vorbedingungen
sicherlich optimal, in bezug auf die SchülerInnen aber sicherlich
nicht ganz einfach. Wir können Kolleginnen und Kollegen, aber auch
Eltern, nur ermutigen, sich an ähnliche Projekte heranzuwagen. Denn
(s.o.) :
Deaf students can! Und dieses
Erfolgserlebnis brauchen sie dringend.
Anschrift des Verfassers:
- Bernd Rehling - 1.1.98 -