Der taubstumme Held in dem amerikanischen Spielfilm "Das Herz ist ein einsamer Jäger" hat keine Probleme mit seiner Stummheit. Er ist hochintelligent, beherrscht die englische Sprache und das Absehen vom Munde geradezu perfekt und hat im übrigen immer einen Schreibblock dabei. Zu diesem greift er, wenn er sich hörenden Mitmenschen verständlich machen will.
Als ich (als voll ausgebildeter Grund-, Haupt- und Realschullehrer) mein Probejahr in der Schule für Hörgeschädigte absolvierte und zum ersten Mal vertretungsweise eine Unterrichtsstunde in einer Gehörlosenklasse geben mußte, waren die Schüler sehr entgegenkommend. Sobald ich etwas nicht verstand (weder artikulierte Worte noch Gebärden), gingen sie an die Tafel und schrieben.
Ein Kollege schwärmt bis heute von einem kleinen Versuch, den er ganz spontan in einer Gehörlosenklasse durchführte: Er benutzte den Tageslichtschreiber als Kommunikationsmittel. Sowohl er selbst als auch die Schüler schrieben abwechselnd ihre Äußerungen auf Folie, und alle lasen den projizierten Text auf der Wandfläche über der Tafel.
Fazit dieser drei Beispiele: Die Schriftsprache ist in vielen Fällen das entscheidende Bindeglied in der Kommunikation zwischen Hörgeschädigten und Hörenden. Voraussetzung ist natürlich die möglichst gute Beherrschung der deutschen Sprache. (Ich vermeide hier bewußt den Begriff "Lautsprache", da "Laut" automatisch Assoziationen mit der Artikulation herstellt.) Bekanntlich liegt aber gerade hier die eigentliche Schwierigkeit. Mangels auditiven inputs ist die Sprachkompetenz Hörgeschädigter oft stark eingeschränkt. Es ist naheliegend, bei der Kompensation der Defizite bei den Ursachen, also beim mangelhaften auditiven input, anzusetzen. Cochlear Implants, Hörgeräteversorgung, Hörtraining, Absehübungen - alles zielt darauf ab, das mangelhafte Gehör zu restaurieren oder zu kompensieren. Die Erfolge dieser Bemühungen sind unterschiedlich, und es wird zu allen Zeiten eine Gruppe von Schülern übrigbleiben, bei denen all diese Bemühungen wenig fruchten.
Doch auch und gerade diejenigen, die definitiv gehörlos sind und bleiben werden, haben den unbändigen Wunsch, mitzubekommen, was und wie Hörende miteinander sprechen. So beschwert sich die taubstumme Mutter bei der hörenden Tochter, als diese ein minutenlanges Gespräch in wenigen gebärdeten Sätzen zusammenfaßt (Maria Wallisfurth, Sie hat es mir erzählt). Und wer schon einmal für Gehörlose gedolmetscht hat, wird die Erfahrung gemacht haben, daß Gehörlose zuweilen das Dolmetschen in Laustsprachbegleitenden Gebärden dem DGS-Dolmetschen vorziehen, obwohl - nein, gerade weil - sie eine eingeschränkte Sprachkompetenz haben. Nach den Gründen gefragt, anworten sie, daß sie gerne einmal sehen möchten, was Hörende so äußern, und zwar in allen Feinheiten.
In allen Feinheiten? Da wird es Grenzen geben. Viele Elemente der Sprache wie z.B. ironische Bemerkungen dürften Gehörlosen nur schwer zu vermitteln sein. Aber den Aufbau von Sätzen zu erleben und verfolgen zu können, das ist doch auch schon etwas! Was aber LBG-Dolmetschen auch nicht vermitteln kann, sind grammatische Feinheiten wie Flexionsendungen, Konjugation starker Verben, Pluralformen usw. Und hier kommen wir wieder zurück zur geschriebenen Sprache. Die kann zwar auch nicht den Ton vermitteln, der die Musik macht, aber doch wenigstens alle grammatikalischen und syntaktischen Details sichtbar machen.
Normalhörende Laien, d.h. Menschen, die mit Hörgeschädigten kaum Kontakt hatten, meinen üblicherweise, wer nicht hören könne, müsse eben viel lesen. Daß gerade dies für viele Hörgeschädigte aufgrund der eingeschränkten Sprachkompetenz nicht möglich ist, muß erst erläutert werden. Ähnlich wie der Hauptmann von Köpenick zwischen allen Stühlen sitzt, weil er ohne festen Wohnsitz keine Arbeit und ohne Arbeit keine Wohnung bekommt, stehen Hörgeschädigte vor dem Dilemma, ohne Sprachkompetenz nicht lesen, aber ohne zu lesen die Sprachkompetenz nicht verbessern zu können.
Texte wie Bücher oder Artikel in Zeitschriften zu lesen kommt zudem einem Monolog gleich, einem einsamen Vergnügen. Anders sieht es aus beim Dialog zwischen zwei oder mehreren Gesprächspartnern. Unterschiedliche Meinungen können aufeinanderprallen, man kann sich verabreden, Gefühle äußern, Trost zusprechen, Scherze machen oder sich streiten. Das mag jetzt banal erscheinen, aber gerade dies ist der Bereich, in dem die Behinderung "Hörschädigung" sich in psychosozialer Hinsicht am stärksten auswirkt. Weniger innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft, massiv dagegen im Kontakt zu Hörenden.
Was liegt näher, als die Kommunikation auf den Sinnesbereich zu verlagern, in dem Hörgeschädigte nicht behindert sind: auf den visuellen. Natürlich tun es die oben erwähnten traditionellen Hilfsmittel wie Stift und Schreibblock oder die Schultafel auch. Aber warum einfach, wenn es auch kompliziert geht? Das mag mancher Leser denken, wenn ich jetzt für den Einsatz vernetzter Computer plädiere. Ich werde mich bemühen, die immensen Vorteile der komplizierteren Vorgehensweise darzustellen.
Mit Computern kann man nicht nur Texte verarbeiten, layouten, drucken usw., man kann mit ihnen auch hervorragend kommunizieren. Die Kommunikation im weltumfassenden Sinne à la Datenautobahn soll hier nicht zur Sprache kommen. (Das bleibt einem weiteren Artikel vorbehalten.) Vielmehr möchte ich Kommunikation im ganz kleinen Rahmen, nämlich innerhalb des Klassen- bzw. Computerraums, darstellen. Es handelt sich hier um eine Art von schriftlicher Kommunikation, wie sie vom Schreibtelefon her bekannt ist. Allerdings mit einigen entscheidenden Unterschieden.
Wenn eine Schule über mehr als einen Computer verfügt, liegt es nahe, diese miteinander zu vernetzen. Diese Möglichkeit ist unabhängig von der Computerplattform (PC oder Macintosh) gegeben, beim Macintosh ist sie allerdings bereits im System vorhanden und kann von jedem Laien installiert werden. Die Vernetzung bedeutet zunächst, daß die Computer per Kabel miteinander verbunden sind und daß eine Software installiert ist, die den Zugriff von einem Rechner auf den anderen ermöglicht. Darüber hinaus gibt es Programme, die das Versenden von Nachrichten von einem Rechner zum anderen erlauben. Dieser Nachrichtenversand läuft dann wie ein interner Postversand ab, d.h. zeitversetzt. Einen Brief kann ich irgendwann einmal, evtl. erst nach Tagen oder Wochen, beantworten. Interessanter ist deshalb die simultane Kommunikation, die, um beim Beispiel Post zu bleiben, wie der Telefonverkehr abläuft. Die Gesprächspartner sitzen zur gleichen Zeit am Rechner und führen ein Gespräch.
Es gibt für diesen Zweck eine Vielzahl von Programmen. Ich beschränke mich auf die Auswahl von 3 Programmen für den Macintosh.
1. Broadcast
Broadcast ist geradezu ein Oldtimer (aus dem Jahre 1988). Es handelt sich um eine Auswahlerweiterung, mit der Nachrichten von einem Rechner aus entweder an ausgewählte oder auch an alle anderen Rechner versandt werden können. Die potentiellen Empfänger können den Empfang grundsätzlich zulassen oder auch unterbinden.
Die Nachricht erscheint auf dem Monitor des Empfängers in einer Dialogbox mit den Tasten "OK" oder "antworten". Der Vorteil dieses Miniprogramms besteht darin, daß der Empfänger nicht zielgerichtet ein Kommunikationsprogramm gestartet haben muß, um die Nachricht zu empfangen. Er kann mitten in der Arbeit mit einem anderen Programm sein, und plötzlich erscheint, begleitet von einem Warnton, auf seinem Bildschirm die Dialogbox. Allerdings ist Broadcast eher für kurze Mitteilungen geeignet, da jede Nachricht nach dem Lesen sofort wieder weggeklickt wird.
Announcer ist da schon ein wenig komfortabler. Es ist als Shareware-Programm frei erhältlich, der Autor verlangt jedoch bei Gefallen und Benutzung 39$. Es besteht aus dem eigentlichen Programm und einem Kontrollfeld. Das Programm (Announce User) besteht im wesentlichen aus drei Textfeldern, von denen zwei zur Auswahl der Kommunikationspartner dienen und das letzte zum Schreiben der eigentlichen Nachrichten.
Im Kontrollfeld Announcer lassen sich diverse Voreinstellungen vornehmen, z.B. wieviele Nachrichten in die Warteschlange aufgenommen werden sollen, welche Aktivitäten trotz laufenden Programms erlaubt sein sollen (Uhr stellen, Neustart usw.), ob Ton-Nachrichten angenommen werden sollen und vor allem ob ein Protokoll der Nachrichten geführt werden soll.
Die Möglichkeit, eine gesprochene Nachricht aufzunehmen und zu verschicken, mag für schwerhörige Schüler reizvoll sein. Auch die Möglichkeit, Protokoll zu führen, bietet einen positiven Aspekt für den Einsatz im Unterricht. Insgesamt erweckt das Programm jedoch den Eindruck, daß es für die interne Kommunikation in großen Firmen konzipiert und geeignet ist.
3. MacConference
MacConference ist von den drei Programmen am besten für den Unterricht geeignet. Es ist wie Announcer Shareware (nur 10$!). Es handelt sich "nur" um ein Programm, d.h. es arbeitet ohne spezielle System-, Auswahlerweiterungen oder Kontrollfelder. Dieses Programm kann gezielt im Deutschunterricht eingesetzt werden. Es muß auf allen Rechnern gestartet werden, und jeder Teilnehmer muß sich in die Konferenz einwählen. Obwohl es sich um ein amerikanisches Programm handelt und die Menüführung englisch ist, ist das Programm über klare Symbole auch für jüngere Schüler leicht zu bedienen. Auf dem Bildschirm befinden sich bis zu 4 Fenster, die wichtigsten davon das Konferenz- und das Nachrichtenfenster. In das Nachrichtenfenster wird der eigene Gesprächsbeitrag geschrieben und per Tastendruck an alle Konferenzteilnehmer verschickt. Dort (und im eigenen Konferenzfenster) erscheint dann dieser Beitrag über allen anderen Diskussionsbeiträgen. Alle bereits eingegangenen Beiträge bleiben also sichtbar. Man kann nachlesen, sich auf sie beziehen und Stellung nehmen. Das komplette Gespräch läßt sich zwar leider nicht abspeichern, aber immerhin doch ausdrucken, sodaß der Lehrer in einer folgenden Unterrichtsstunde das Protokoll vorlegen und mit den Schülern besprechen kann.
Hier sind wir wieder bei der Frage "Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht?" angelangt.
Vorteile der Kommunikation per Computer:
1. Der Lehrer und alle Schüler können gleichberechtigt am Gespräch teilnehmen.
2. Jeder Gesprächsteilnehmer kann seinen Beitrag in Ruhe vorbereiten, mühelos korrigieren und dann absenden.
3. Die Schüler können im Sinnzusammenhang und in echter Kommunikation sprachliche Besonderheiten wie Redewendungen, Wortspiele u.ä. kennenlernen.
4. Durch die verstärkte Motivation findet ein erheblich höherer Sprachumsatz statt.
5. Das sprachliche Vorbild des Lehrers (oder anderer hörender Gesprächsteilnehmer) ist ständig visuell präsent.
6. Das gesamte Gespräch kann protokolliert und sauber ausgedruckt werden.
7. Das Gesprächsprotokoll kann zur Reflektion und für weitere sprachliche Übungen genutzt werden.
Aus eigener Erfahrung nach dem Einsatz des Programms in verschiedenen Gehörlosen- und Schwerhörigenklassen kann ich hinzufügen, daß natürlich eine Phase des Kennenlernens des Programms und der Arbeitsweise unumgänglich ist. Dabei sollten die Schüler sich frei und ungebunden äußern können. In der weiteren Arbeit sind jedoch einige Spielregeln und pädagogische Leitlinien unverzichtbar. Auch dieser "Ehrenkodex" kann mit den Schülern gemeinsam erarbeitet werden:
1. Beleidigendes darf nicht geschrieben werden.
2. Unanständige Wörter sind tabu.
3. Es sollte ein Gesprächsfaden verfolgt werden.
4. Der Lehrer sollte, nach Absprache mit den Schülern, ein Thema vorgeben.
Unter gehörlosen Schülern ist die DGS-Redewendung "Kopf leer" weit verbreitet. Sie besagt letztlich, daß die Person inhaltlich nichts zu sagen hat. Leider ist auch dies oft eine Folge des mangelnden inputs. Das bedeutet in bezug auf die Kommunikation am Computer, daß die Schüler sich inhaltlich wenig zu sagen haben und über "small talk" kaum hinauskommen. ("Mir geht es gut, wie geht es Dir?") Eine Vorbereitung und Vorstrukturierung durch den Lehrer ist deshalb unumgänglich.
Die Zielrichtung derartiger Kommunikationsübungen ist also eine doppelte: sprachliche Kompetenz zu vermitteln und gleichzeitig zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit bestimmten Themen anzuregen.
Berücksichtigt man, wie selten die meisten gehörlosen Schüler lesen oder selber Texte schreiben, dann ist es äußerst erstaunlich, mit welcher Begeisterung sie am Rechner sitzen und lesen und schreiben. Sie sind so hochmotiviert, daß sie das Pausenzeichen ignorieren und in folgenden Stunden selber probieren, das Programm zu starten. Diesen Motivationsschub sollten Hörgeschädigtenlehrer nutzen, um ihren Schülern ein zusätzliches Werkzeug zum Sprachausbau und zur Erweiterung ihres Horizonts in die Hand zu geben.
Die hier besprochenen Programme können von mir bezogen werden (gegen Erstattung der Kosten für Porto und Diskette). Sharewaregebühren müssen unabhängig davon an die jeweiligen Autoren abgeführt werden.