(Computer-) Power to the Deaf - Teil 7
veröffentlicht in hörgeschädigte kinder 3/98


Nili, das kleine Nilpferd
Träumen sollte man noch können, Visionen entwickeln, Hirngespinste, Utopien gar! Die dürfen aber schon zielgerichtet sein. Wäre es nicht traumhaft, wenn hörgeschädigte Kinder sich selbständig Wissen aneignen könnten, unabhängig von Lehrern und Eltern, kostenlos, an jedem beliebigen Ort der Welt, also auch zu Hause, aber eben nicht nur dort? Und warum sollte man nicht modernste Technik für diesen Zweck einsetzen? Der leidige Methodenstreit der Pädagogen könnte dabei ebenfalls außen vor bleiben - die deutsche Sprache ist schließlich Bildungsziel für alle Hörgeschädigten, unabhängig von Hörstatus, CI, Gebärden usw. Wenn man so will: Die Schriftsprache ist der kleinste gemeinsame Nenner.

Nach solchen Tagträumen keimt unwillkürlich der Wunsch, einen Versuch zu unternehmen, den Traum in die Realität umzusetzen. Und genau das haben wir getan. Wir, das war eine Gruppe von StudentInnen der Hörgeschädigtenpädagogik der Universität Hamburg mit mir als Lehrbeauftragtem.

Den organisatorischen Rahmen bildete ein Kompaktseminar. Das Seminar "Didaktische, kommunikative und erzieherische Perspektiven des Computereinsatzes bei hörgeschädigten Kindern" fand in der Woche vom 6. - 10.10.1997 in der Schule Marcusallee, Schule für schwerhörige und gehörlose Kinder, in Bremen statt. Die Seminargruppe hatte sich dafür entschieden, ein Projekt durchzuführen, das die Vermittlung sprachlicher und sachlicher Inhalte anstrebte, auf der Basis der Technik von Internetseiten. Das Arbeitsergebnis sollte dann ganz real hörgeschädigten Kindern im Internet zur Verfügung gestellt werden.

Diese Perspektive, etwas zu erstellen, das nicht nur eine Trockenübung darstellte, sondern tatsächlich veröffentlicht werden sollte und das tatsächlich hörgeschädigten Kindern nutzen und ihnen Freude bereiten konnte, trug sicherlich zur Motivation aller Teilnehmer bei. Ich muß aber hinzufügen, daß es in dieser Gruppe überdurchschnittliche Kenntnisse und Begabungen gab, sowohl im Hinblick auf Computer als auch in künstlerischer und pädagogischer Hinsicht.

Um allen Teilnehmern eine "handwerkliche" Grundlage zu vermitteln, begann ich mit der Einführung in die Benutzung eines HTML-Editors. HTML (Hypertext Markup Language) ist die Programmiersprache, auf der die Seiten des WWW (World Wide Web) basieren. Springender Punkt hierbei sind Verknüpfungen, die vom Text oder von Grafiken ausgehen und zu anderen Seiten irgendwo im Netz führen. Man braucht HTML jedoch nicht mühsam zu erlernen, da es Editoren gibt, die das Programmieren automatisieren. So kann man Seiten intuitiv zusammenstellen, wie mit einem Textverarbeitungsprogramm. Und tatsächlich bieten manche Textverarbeitungsprogramme wie z.B. Word for Windows 97 die Möglichkeit, Texte in HTML-Seiten zu konvertieren. Wir benutzten ein Programm, das es für beide Plattformen, für PCs und Macs gibt: Claris Home Page. Es gibt aber mittlerweile eine kaum noch zu überblickende Vielzahl von Editoren.

Die gestellte Aufgabe konnte nur arbeitsteilig bewältigt werden. Das hatte den Vorteil, daß die unterschiedlichsten Begabungen genutzt werden konnten. Auch Teilnehmer ohne Vorkenntnisse im Computerbereich konnten Aufgabenbereiche übernehmen, die zum Erreichen des gemeinsamen Ziels unumgänglich waren. Zudem war selbständiges Arbeiten erforderlich, und die StudentInnen lernten eine Arbeitsform kennen, die sich von dem sonst in Hörgeschädigtenschulen üblichen lehrerzentrierten Frontalunterricht wohltuend unterschied. Meine Tätigkeit als Lehrbeauftragter reduzierte sich mehr und mehr auf die Rolle des Beraters im Hintergrund. Und genau hierin sehe ich eine große Chance des Computereinsatzes bei hörgeschädigten Kindern: Er könnte beitragen zu einem Umdenken und eine Grundhaltung fördern, die das hörgeschädigte Kind nicht mehr nur als Objekt pädagogischer Bemühungen sieht, sondern als selbstverantwortliches Subjekt, das bei der Formulierung seiner individuellen Bildungsziele durchaus ein Wörtchen mitzureden hat. Solch hehre Ziel verbal zu verkünden, dürfte kaum nachhaltig wirken. Arbeitsformen zu erproben, die zu diesen Zielen hinführen, dürfte dagegen auch bei StudentInnen anschaulicher und einprägsamer sein.

Nach einer relativ kurzen Phase der Orientierung und des Brainstormings hatte eine Studentin "Nili, das kleine Nilpferd" erfunden. Sie hatte den Anfang einer Geschichte geschrieben und einen kleinen Nili am Computer gemalt. Die Gruppe beschloß, diese Anregung aufzugreifen und als Thema des Projekts zu übernehmen.

Folgende Arbeitsbereiche und Tätigkeiten wurden entweder von einzelnen StudentInnen oder kleinen Untergruppen übernommen. Es wurden

- Texte geschrieben

- Bilder am Computer gemalt

- Texte mit einem Texterkennungsprogramm eingescannt und nachbearbeitet

- Texte sprachlich vereinfacht

- Erläuterungen geschrieben

- Bilder ausgewählt und eingescannt

- Bilder zu kleinen Animationen verarbeitet

- HTML-Seiten mit Rahmenlayout zusammengestellt

- das Internet nach Flußpferd-Seiten durchkämmt

- Seiten mit Sachinformationen über Nilpferde zusammengestellt

- ein Gruppenfoto mit einer digitalen Kamera erstellt und umformatiert.

Diese unterschiedlichen Tätigkeiten mündeten letztlich in einem Gemeinschaftswerk: "Nili" ist die Geschichte eines neugierigen Nilpferdkindes, das seine Umgebung erforschen will und dabei verschiedene Tiere trifft. Der Ausgangspunkt des Projekts war deshalb das Schreiben einer kindgerechten, kinderbuchmäßigen Geschichte, die für (hörgeschädigte) Kinder einen Leseanreiz darstellt. Nun muß man bedenken, daß StudentInnen nicht professionelle Kinderbuchautoren sind. Und es ist auch nicht zu erwarten, daß ein aus hörgeschädigtenpädagogischer Sicht perfekter Text entsteht. Aber angesichts der Tatsache, daß die Geschichte tatsächlich hörgeschädigten Kindern zugänglich gemacht werden sollte, bestand doch eine starke Motivation, den Text ansprechend zu gestalten.

Da auch in Texten mit einfacher Sprache Begriffe auftauchen, die hörgeschädigten Kindern unbekannt sind, mußte die Möglichkeit geschaffen werden, Worterklärungen einzublenden. Dies war in unserem Projekt die wichtigste lernprogrammäßige Funktionalität. Genau dafür bieten sich HTML-Seiten mit ihren unbegrenzten Verknüpfungsmöglichkeiten an. So wurde den Textseiten eine Seite mit Worterklärungen beigefügt. Beide Seiten erscheinen gleichzeitig in einem Rahmengefüge auf dem Bildschirm, die Erläuterungsseite unter der Textseite. Wörter oder Wendungen, zu denen es Erläuterungen gibt, sind farblich und durch Unterstreichung hervorgehoben. Klickt man sie an, wird in Sekundenschnelle das untere Fenster im Rahmen so weit gescrollt, daß die Erläuterung für das Wort, ggf. auch ein Bild, sichtbar wird. Auf diese Weise können Schüler Texte selbständig erlesen. Versuche mit ähnlichen Übungen haben gezeigt, daß sie dies auch mit Begeisterung tun.

Ein Navigationsrahmen als dritter Rahmen im Gefüge ermöglicht es, von einer Seite zu einer beliebigen anderen überzuwechseln, auch zu den Seiten mit Sachinformationen zum Thema "Flußpferde". In diesem Bereich hatten die StudentInnen sich bemüht, Sachtexte zu Themen wie "Was frißt ein Flußpferd?" oder "Wo lebt das Flußpferd" kindgerecht und sprachlich vereinfacht darzustellen. Auch hier gibt es viele Bilder, in diesem Fall aber nicht selbst gemalte, sondern Fotos. Und natürlich steht auch wieder der Rahmen mit Worterklärungen zur Verfügung.

 

Gemessen an echten Lernprogrammen ist die Funktionalität von "Nili" arg eingeschränkt - auf das Einblenden von Worterklärungen. Nur an einer Stelle, beim Sachtext "Wo lebt das Nilpferd", ist eine "clickable image map" eingefügt - eine Karte von Afrika, auf der man den Nil anklicken kann. Es folgt dann eine positive Rückmeldung, und falls man daneben klickt, eine negative.

 

 

Aber wesentliche Merkmale eines echten Lernprogramms fehlen, wie z. B. Hilfefunktionen, Protokollierung des Lernfortschritts und entsprechend gezielte Wiederholungen oder zusätzliche Übungen. Was allerdings nicht bedeutet, daß es nicht möglich wäre. Es wäre halt nur aufwendiger und würde den Rahmen eines Seminars sprengen. Und selbst ein oft angeführter angeblicher Nachteil von Lernsoftware könnte mühelos aus dem Weg geräumt werden: der nicht vorhandene Kontakt zu einer Bezugsperson. Selbstverständlich können Lernprogramme im Internet mit direkter Einbeziehung eines Lehrers ablaufen, ob nun durch email oder per chat, d.h. mit schriftlichem Dialog. Und auch der eingeengte Rahmen von sturen Pauk-Programmen, die auf die Ja-Nein-Alternative oder auf Multiple-Choice-Auswahlen beschränkt sind, kann auf diese Weise gesprengt werden. Der Kreativität in bezug auf das Schreiben von Texten, Malen von Bildern usw. sind keine Grenzen gesetzt.

Nun macht der Einsatz eines Mediums ja eigentlich erst dann Sinn, wenn sich neue und zusätzliche Bildungsmöglichkeiten ergeben, d.h. wenn das Medium unumgänglich ist. Bilder malen kann man immer noch kreativer auf Papier als auf dem Bildschirm, und zum Schreiben von Texten reicht auch ein Heft. Wozu also der aufwendige Einsatz von Technik? Kehren wir zum einleitend dargestellten Traum zurück, der mit "Nili" ein Stück weit realisiert oder zumindest erprobt werden sollte!

"Nili" befindet sich jetzt tatsächlich im Internet (http://www.taubenschlag.de/nili). Hat die Schule Internetanschluß, kann der Lehrer auf Mitnahme und Installation eines Programms verzichten. "Nili" kann wie der Igel im Märchen triumphieren: "Ich bin schon da!" Auch ein Buch oder sonstiges Material sind nicht erforderlich. Wer allerdings den Text lieber in gedruckter Form liest, der druckt ihn sich eben aus. Wo nun die Schule sich befindet, ist letztlich auch gleichgültig. Und selbst, wenn Sie mit Ihrem Kind Urlaub in Neuseeland machen: "Nili" ist schon da. Erster Vorteil also: die universelle Erreichbarkeit. Dazu gehört auch, daß "Nili" auch zu Hause weitergelesen werden kann. Man braucht nicht einmal das Lektüreheft mitzunehmen.

Liest ein Lehrer "Nili" mit seinen Schülern, wird sich zwangsläufig eine in den meisten Fällen ungewohnte Arbeitsform einstellen. Es wäre widersinnig, im "Gleichschritt" den Text zu lesen. Vorteil zwei also: eine Auflockerung der Arbeitsformen.

Wenn die Schüler selbständig einen Text erarbeiten können, dann werden sie auch ihr individuelles Arbeitstempo einsetzen können - Vorteil drei!

Vorteil vier: "Nili" ist kostenlos!

Vorteil fünf: "Nili" setzt keinen Schüler unter Leistungsdruck.

Vorteil sechs: Vom Medium Computer geht für Kinder eine Faszination aus, die offensichtlich nicht so schnell "abgenutzt" wird und einen Motivationsgewinn darstellt, den man pädagogisch nutzen sollte.

Vorteil sieben: Von unseren "Nili"-Seiten aus führen Verknüpfungen zu umfangreichen Informationsseiten, z.B. in Zoos, in aller Welt.

Last but not least: Wenn Sie jemals mit gehörlosen Schülern gemeinsam einen Text gelesen haben, kennen Sie die "technische" Problematik dieses nur scheinbar simplen Vorhabens. Die Schüler können nicht gleichzeitig lesen und verstehen, was Lehrer oder Mitschüler äußern. Entweder lesen sie, oder sie schauen nach vorne. Und wenn sie lesen, ist es mühsam, ihre Aufmerksamkeit zurückzugewinnen - ein Vorgang, der sich beim Lesen eines Textes ständig wiederholt und sehr ermüdend wird. Die Überwindung dieser kommunikativen Barriere ist dann Vorteil Nummer acht. Bedenkt man weiterhin, daß nicht jeder Lehrer so mit seinen Schülern kommunizieren kann, daß er wirklich von allen perfekt verstanden wird, kommt diesem Punkt noch aus anderer Perspektive eine verstärkende Bedeutung zu.

Ich denke, die Vorteile von Lern- und Lesesequenzen im Internet liegen auf der Hand. Natürlich kann und sollte man weiterhin auch ganz normale Texte in Büchern lesen. Dieses Medium wird in seinem Bestand sicherlich nicht gefährdet werden. Andererseits werden Pädagogen sich schon bald dafür rechtfertigen müssen, wenn sie neue Medien à la "Nili" NICHT nutzen.

Nun will ich nicht den Eindruck erwecken, als sei "Nili" die ultima ratio der Lernprogramme für Hörgeschädigte. Computer sind eines von vielen Medien, und "Nili" ist nichts weiter als ein Experiment, durchgeführt von 9 StudentInnen und einem Lehrbeauftragten in vier Tagen - entstanden also in 40 "Tagewerken". Wenn Sie sich verdeutlichen, daß ganze Teams von professionellen Programmierern oft monate- oder jahrelang an Lernprogrammen arbeiten, wird wohl die Relation deutlich. Den Profis Konkurrenz zu machen - keine Chance! Aber das war auch nicht die Absicht. Gezeigt werden sollte lediglich, welche Möglichkeiten sich bieten, gerade für hörgeschädigte Kinder, und in welcher Richtung die mediale Entwicklung verlaufen könnte. Und nicht zuletzt: Daß es machbar ist, mit vertretbarem Aufwand spezielle Angebote für hörgeschädigte Kinder zu entwickeln.

Falls Sie zu denjenigen gehören sollten, die sich bereits ihre eigene Homepage im Internet "gebastelt" haben: Schwerer ist es auch nicht, so etwas wie "Nili" auf die Beine zu stellen. Und wenn Sie Ihre Fähigkeiten und Ihre Kreativität zum Wohle hörgeschädigter Kinder nutzen wollen, dann sehen Sie sich "Nili" doch einmal im Internet an und machen sich dann ans Werk. Wenn Sie nicht nur für die eigene Schublade (=Festplatte) produzieren wollen und keine eigene Website haben, dann steht Ihnen der "Taubenschlag" (http://www.taubenschlag.de) für diesen Zweck jederzeit zur Verfügung.

In diesem Sinne kann ich Ihnen nur viel Erfolg für Ihre kleinen und großen "Nili"-Nachfolger wünschen.

 
Bernd Rehling
rehling@taubenschlag.de
www.taubenschlag.de/bernd
Fax 04251 7406
ICQ-UIN: 1152654