Sehr geehrte Damen und Herren,
es ist ein Verdienst der „Geschichtswerkstatt der Gehörlosen“an diejenigen bedeutenden Gehörlosen zu erinnern, die besonders im pädagogischen Bereich Großes geleistet haben. Natürlich habe ich im Rahmen meiner Ausbildung auch viel über die Entwicklung und Geschichte der Taubstummenpädagogik erfahren, aber eben doch ganz selten etwas über die Leistungen gehörloser Pädagogen. Ich muss gestehen, dass Karl Heinrich Wilke mir völlig unbekannt war.Und wenn meine Kolleginnen und Kollegen ehrlich sind, müssten sie dies auch für sich zugeben. Um so erstaunter bin ich – wie wir eben erfahren haben – welche Bedeutung dieser Kollege über die Gehörlosenbildung hinaus gehabt hat. Als Gehörloser wusste er am besten, wie wichtig Anschauung für das Verstehen der Welt nicht nur für gehörlose, sondern auch für hörende Schüler ist.Auf diese Weise sind doch viele Impulse von der Gehörlosenpädagogik ausgegangen. Um so wichtiger ist es, immer wieder daran zu erinnern. Wir sollten uns nicht einbilden, das Rad neu erfinden zu müssen. Dies gilt auch für Methoden im Unterricht für Gehörlose. Ein Blick in die Geschichte zeigt uns, dass vieles schon einmal vorhanden war und lediglich in Vergessenheit geraten ist.
In ein paar Tagen, habe ich festgestellt, werde ich 31 Jahre an der Ernst- Adolf- Eschke- Schule tätig sein. Kein Wunder, meine grauen Haare beweisen es, dass ich nicht mehr zu den Jüngeren gehöre. Der Vorteil ist aber, dass ich einen Zeitraum überblicken kann, der in der Tat einen Wandel in der Pädagogik, nicht nur unserer Schule, gebracht hat.
Als ich am 1. Juni 1969 meine Arbeit in der Eschke-Schule begann, hatte ich die Aufgabe, im Kindergarten Vorschüler zu unterrichten. Wie war die Situation? Es gab Kindergruppen unterschiedlichen Alters von 4 bis 6 Jahren, wobei der damals tätige Kollege sich in seiner Arbeit hauptsächlich auf Absehübungen mit der Gruppe beschränkte, die eingeschult werden sollte. Bezogen auf die Entwicklung von Sprache gab es außer Bildern und dazugehörende Schriftkarten, welche die Bedeutung der Bilder bezeichneten, keine anderen wesentlichen visuellen Hilfen, vor allem keine, die der Kommunikation dienen konnten.Jede männliche Person war ein Papa und jede weibliche eine Mama .Bei der Einschulung beherrschten die guten Schüler ungefähr 50 deutsche Wörter.
Das Fingeralphabet war damals in der Bundesrepublik fast völlig unbekannt. Ich habe es während meiner Ausbildung durch Dr. Reinhart Graf in Köln kennengelernt und zusammen mit ihm auf einer privaten Forschungsreise 1968 nach Moskau die Anwendung im Unterricht für Gehörlose gesehen. In der Benutzung des Fingeralphabetes sah ich eine Möglichkeit für gehörlose Kinder, sich wenigstens schriftsprachlich auszudrücken.Sie konnten den eigenen Namen mitteilen und man konnte ihnen den Namen fremder oder bekannter Menschen zufingern oder Dinge benennen, von denen sie die Bezeichnung wissen wollten. ; denn die Hand hat man ja immer dabei. Als ich das FA 1970 an unserer Schule im Kindergarten einführte, gab es viel Widerstand und scharfe Diskussionen unter den älteren Kollegen. Obwohl mir die Einführung des FA viel Ärger einbrachte, habe ich in dieser Form weiter gearbeitet und fand bei den Erzieherinnen große Unterstützung, weil sie die Nützlichkeit des FA in der Praxis täglich erlebten. Leider lehnen immer diejenigen Neuerungen ab, die über keine Erfahrungen in der Anwendung, zum Beispiel des Fingeralphabetes, verfügen. Ich musste auch erfahren, dass man in der Gehörlosenpädagogik keine Veränderungen durch Revolution erreicht, sondern nur durch Evolution mit viel Geduld und Ausdauer. Auf diese Weise ist ganz allmählich – ausgehend von der Vorschule- das FA in die Schule gekommen und wurde zum Glück von jüngeren Kolleginnen und Kollegen aufgegriffen und in die Unterrichtsarbeit einbezogen.
Wir waren damals die einzige Gehörlosenschule in der Bundesrepublik – abgesehen von der DDR – die das FA systematisch im Unterricht anwendete. Aus heutiger Sicht mag das etwas lächerlich aussehen, aber es war dennoch ein Fortschritt für uns in der unterrichtlichen Arbeit. Alle großen Dinge haben einmal klein angefangen. Die Ablehnung des FA übrigens kam aber nicht nur von den älteren Lehrern, sondern die erwachsenen Gehörlosen wollten auch nicht den Sinn und Nützlichkeit des FA einsehen. Auch bei ihnen musste man lange Überzeugungsarbeit leisten, oft auch ohne Erfolg.
Nachdem ich 1975 im Herbst eine erste Klasse übernommen hatte und deshalb intensiver mit der unterrichtlichen Arbeit in der Schule zu tun bekam, stellte sich die Frage: Mit welcher Methode man die Schüler an die deutsche Sprache heranführen sollte. Natürlich war es für mich als Kind gehörloser Eltern kein Problem, Gebärden zu benutzen. Bereits mit meiner Examensarbeit zur Gehörlosenlehrerprüfung hatte ich mich in Form von Filmaufnahmen mit den gebärdensprachlichen Äußerungen erwachsener Gehörloser beschäftigt. Es war die erste Arbeit in Deutschland, die sich 1969 empirisch mit dem Thema auseinander setzte.Deshalb war ich auch der Auffassung, dass gehörlose Schüler, ohne Umweg über den späteren Kontakt zu erwachsenen Gehörlosen, die Gebärden der Gehörlosensprach- gemeinschaft schon in der Schule lernen sollten. Diese sollte natürlich der Lehrer vermitteln. Aber wie viele Lehrer konnten das damals? Die Ausbildung der Lehrer kannte nur den oralistischen Weg. 1976 fragten mich Eltern, die erhebliche Kommunikationsprobleme mit ihren gehörlosen Kindern hatten und sich aus deren Welt ausgeschlossen fühlten, u.a. Herr Kiele, wo sie Gebärden lerne könnten.Spontan antwortete ich: Bei mir! Es gab übrigens damals in der gesamten Bundesrepublik noch keine Gebärdenkurse. Tatsächlich war der Anfang in Berlin. Fast alle jüngeren Kollegen unserer Schule besuchten regelmäßig meine Kurse, so dass auf diese Weise an der Ernst-Adolf-Eschke-Schule die Gebärde den Weg in den allgemeinen Unterricht fand. Auch damals waren einige Gehörlose skeptisch und sagten, die Hörenden könnten keine Gebärden lernen. Dazu gehören auch einige, die sich heute zu den Vorkämpfern der Gebärdensprache zählen. Die Zeit hat mir Recht gegeben. Auch der Gebrauch der Gebärden in der Sendung“ Sehen statt Hören“ war keine Selbstverständlichkeit.
Das haben wir gegen den Willen des bayerischen Redakteurs durchgesetzt. Die Erarbeitung des Gebärdenlexikons und die Einrichtung der Forschungsstelle für Gebärdensprache durch Professor Prillwitz setzten eine Bewegung in Gang, die den Gehörlosen erst bewusst machte, dass ihre Sprache tatsächlich eine Sprache ist. Wie gesagt : Alles hat seine Wurzeln, die auch die Pädagogik in der Schule veränderten, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart. Mit der Übernahme des Amtes als Schulleiter der Ernst-Adolf-Eschke-Schule hatte ich mehr Einfluss auf die personelle, aber auch auf die inhaltliche Gestaltung der Schule. Als Schulleiter konnte ich das Verständnis bei der Schulaufsicht und den zuständigen Verantwortlichen beim Senator für den Gebrauch von Gebärden als Kommunikationsmittel im Unterricht wecken. Überzeugungsarbeit nach Außen war sehr wichtig, um nach Innen Sicherheit zu haben.
Wir waren lange Zeit die einzige Ausbildungsschule für Lehreranwärter im Fachbereich Gehörlosenpädagogik, und es war zunehmend selbstverständlich, dass die Lehreranwärter Gebärdenkenntnisse mitbrachten. Auf diese Weise wuchs eine junge Lehrergeneration heran, für die Gebärden , aber nicht nur Gebärden, zur einer unterrichtlichen Kommunikationsform gehören.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass bei allen Veränderungen der letzten Jahre alte Werte der Gehörlosenpädagogik ihre Bedeutung behalten. Dazu gehört auch der Bereich der Artikulation. Die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind in jedem Falle besser, wenn sich unsere Schüler verständlich in gesprochener Sprache äußern können.
Was hatte sich noch verändert? Seit 1988 benutzen wir in den Vorklassen LBG, und soweit möglich, auch schon zum Teil DGS bei der Spracharbeit mit den kleinen gehörlosen Kindern. Im Gegensatz von vor 30 Jahren erlangen die Vorschüler bis zur Einschulung eine Kommunikationsfähigkeit, die damals auch unter größten Anstrengungen nicht erreicht worden wäre. Man kann sich mit den Sechsjährigen nun über alle möglichen Themen unterhalten. Natürlich geht so etwas nicht ohne Mitwirkung der Eltern, die möglichst schnell lernen müssen, mit ihren Kindern zu kommunizieren. Mit der finanziellen Unterstützung des Bezirksamtes Charlottenburg haben wir seit vielen Jahren Gebärdenkurse durchgeführt und auch erreicht , dass für die gehörlosen Eltern bei Elternversammlungen ein Gebärdensprachdolmetscher anwesend ist.
Durch die Beschaffung von privaten finanziellen Mitteln konnte ich bereits 1987 den Kauf von damals noch sehr teueren Computern initiieren, so dass inzwischen das Lernen und Arbeiten mit Computern von Klasse 1 bis zur 10 Klasse eine Selbstverständlichkeit geworden ist. Mit dem Internetanschluss haben jetzt auch die Schüler die Möglichkeit zu lernen, wie man sich weitere Informationen beschafft.
Seit dem Fall der Mauer im November 1999 existieren zwei Gehörlosenschulen nebeneinander mit zum Teil unterschiedlichen Aufgaben. Das Bildungsangebot für Gehörlose hat sich durch den Aufbau des Realschulzweiges an derAlbert Gutzmannschule in Berlin- Mitte erweitert und wird intensiv genutzt.
Die berufliche Bildung im theoretischen Bereich ist an der Ernst-Adolf-Eschke-Schule angesiedelt. Die Zahl der Berufsschüler ist erheblich angestiegen, so dass sie jetzt etwa 50 bis 60 Auszubildende beträgt. Der Unterricht findet überwiegend in Kooperation mit 12 Oberstufenzentren der verschiedenen Berufsfelder statt. Unsere Lehrerinnen und Lehrer begleiten die Auszubildenden in die Berufschule für Hörende und arbeiten in zusätzlichen Stunden auch in unserem Schulgebäude. Aufgrund des hohen Engagement der Kolleginnen schafften bisher fast 100 Prozent der Azubis einen Berufsabschluss.
In jüngster Zeit haben zwei Zahntechniker, zwei Friseurinnen, Technische Zeichnerinnen, Metallbauer sowie Tischler die Prüfungen bestanden.
Nicht zuletzt möchte ich bei den aufgezählten tiefgreifenden Veränderungen der pädagogischen Landschaft unserer Schule erwähnen, dass wir seit zwei Jahren-wahrscheinlich seit Karl Heinrich Wilke wieder zum ersten Mal,einen gehörlosen Gehörlosenlehrer haben, der Ihnen allen bekannt ist, Olaf Tischmann. Auch dies ist ein Zeichen für die gewachsene Bereitschaft der Gehörlosenpädagogik in Berlin, sich wieder für die Mitarbeit Gehörloser in der Schule zu öffnen und ich bin froh, diese Entwicklung unterstützen zu können.
Wenn wir den Blick in die Zukunft richten, so hoffen wir, dass unsere Absicht , einen bilingualen Schulversuch im Schuljahr 2001/2002 zu beginnen, Wirklichkeit wird.
Besucher unserer Schule sagen uns immer wieder, dass die Atmosphäre im Unterricht entspannt und freundlich sei und sind erstaunt, wie flüssig die Kommunikation zwischen Lehrern und Schülern verläuft. Mein Ziel war stets, dass unsere Schüler beim Verlassen der Schule große Selbständigkeit und ein starkes Selbstbewußtsein mitnehmen, um ein später selbstbestimmte Leben führen zu können. Ich glaube, dass sich auch in diesem Punkt ein Wandel ereignet hat.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit
Manfred Wloka