Hier ist der Leserbrief, der abgelehnt wurde:
Zur Diskussion "Neue Wege des Spracherwerbs Hörgeschädigter" zwischen Dr.G.Diller und Dr.U.Horsch, in HÖRPÄD 3/1997:
Sind HAD (Hearing Acquisition Device) und HASS (Hearing Acquisition Support System) von den Theoretikern im Gebiet der Perzeption des Hörens vorgestellt und mit LAD (Language Acquisition Device) und LASS (Language Acquisition Support System) parallelisiert worden? In Dillers Ausführungen über HAD und HASS erkenne ich keine wirklich nennenswerte Parallele zu LAD and LASS, was ich darunter verstehe. Die Parallelbeschreibungen von LAD und HAD auf Seite 171 wirken zu künstlich konstruiert, um die Analogie zwischen Hören und Sprache zu erzwingen und auch um politisch die ausschließlich hörgerichtete Sprachanbahnung mit Hilfe von LAD und LASS zu begründen.
Audition und Sprache sind zu grundverschieden, um von LAD und LASS die Entwicklung des Hörens oder der auditiven Perzeption abzuleiten. Zuvorderst muß die Sprache erworben werden, aber das Hören nicht. Gibt es in der Sprache parallele Meilensteine im "Erwerb" der Audition? Wörter und Grammatik einer Sprache müssen "gelernt" werden (mit Hilfe von LAD), aber die verschiedenen Klänge bzw. Sprechlaute als Komponenten der Geräuschwelt können nicht auf die gleiche Stufe mit den zu erwerbenden linguistischen Elementen gestellt werden. Auch die Wahrnehmungs- und Erkennungsfähigkeiten werden nicht "erworben", sondern sind schon da, sobald die Hörorgane entwickelt sind. Die anatomische Entwicklung der Nervenfortsätze, die von sensorischer Stimulation abzuhängen scheint (das ist noch nicht endgültig erwiesen), kann nicht mit LAD parallelisiert werden. Andernfalls würden andere Gebiete, die das Gehirn beanspruchen und vom Kinde im Laufe seines Wachstums erworben werden (wie Sehen, Gleichgewicht, Fühlen, Laufen, Fangen und Werfen usw.) eigene parallele 'ADs und 'ASSes haben!
LASS ist meines Erachtens nur eine Beschreibung, wie dem Kind eine Sprache von außen dargeboten wird. Es ist keine pädagogische Richtschnur, wie und was gemacht werden muß, um es sprachlich zu "fördern", auch nicht einen Sprachbehinderten. Vor allem weiß man, daß das Kind die Sprache dennoch vollkommen erwerben wird, wenn viele oder gar alle Elemente des Supportsystems fehlen. Nur muß die Sprache in der Umgebung gesprochen (oder gebärdet) werden und die dafür nötigen Sinnesorgane funktionieren. Z.B. die Motherese kann ohne Schaden fehlen und deren Gebrauch wurde als unwesentlich für Spracherwerb von einigen Forschern bezeichnet (E.Newport, H.Gleitman & L.Gleitman (1977), Mother I'd rather do it myself: Some effects and non-effects of maternal speech-style, in: C.Snow (ed.): "Talking to children: Language input and acquisition", Cambridge University Press). Meine Frau und ich gebrauchten kaum Motherese mit unserem Sohn, und er versetzte schon als Dreijähriger viele in Erstaunen mit seinem Wortschatz und seiner Satzkomplexität.
Eine spezielle Didaktik für den lautsprachlichen Ersterwerb bei tauben Kindern aus dem zu entwickeln, was als LASS beschrieben wird, ist deshalb nicht angebracht und sicherlich nicht erfolgreich. Diller und Horsch scheinen zu versuchen, LASS mit der speziellen Didaktik "hörgerichtete interaktive Sprachanbahnung" zu verbinden. Aber die schon 45 Jahre alte Methode hat sich nicht als erfolgreicher als der zweitsprachliche Erwerb einer Lautsprache bei tauben Kindern tauber Eltern und jetzt bei schwedischen tauben und schwerhörigen Schulentlassenen (Siehe Teuber, HÖRPÄD. 3 & 4/1996) erwiesen. Man lasse lieber beim tauben Kinde sein LAD in einer voll zugänglichen und unzweideutigen sprachlichen Umgebung Wirken - was eben nur die Gebärdensprache bewerkstelligen kann.
Die Forschung an LASS hat sich auf direkte sprachliche Interaktion mit dem Kind konzentriert, was etwas Wichtiges übersieht, nämlich die passive Beobachtung der sprachlichen Umwelt seitens des Kindes. Das Kind, wie die Erfahrung zeigt, erwirbt sehr viel Sprache von der Interaktion zwischen Drittpersonen und auch von Radio und Fernsehen. Das ist sehr kritisch für taube und schwerhörige Kinder und fehlt ihnen gewöhnlich in einem monolingualen Milieu. Keine monolinguale lautsprachliche Anbahnungsmethode kann ihnen eine solche Gelegenheit bieten.
Die hörgerichtete Sprachanbahnung bietet dem tauben und schwerhörigen Kind stets unvollkommene Sprachvorbilder, auch mit bestem Hörgerät. Des Kindes LAD erkennt die unbetonten, schlecht hörbaren, grammatikalischen Elemente der Lautsprache nicht und analysiert die Lautsprache anders als bei Hörenden. Sogar bei fast-hörend Schwerhörigen merkt man schon das Fehlen oder den unsicheren Gebrauch der grammatikalischen Wortendungen, Artikel und Präpositionen in den mündlichen und schriftlichen Äußerungen.
Außerdem erkenne ich in der Diskussion eine Antipathie gegen die Gebärdensprache (es wird nur noch von 'die Gebärde' geredet). Diller und Horsch scheinen fest zu glauben, daß LAD nur für Lautsprachen gilt (wie auch zu ersehen in der Überschrift "Wie das Kind SPRECHEN lernt. Anmerkungen zu Theorien des SPRACHerwerbs" von Horsch in HÖRPÄD. 2/1997). Alle von Horsch erwähnten amerikanischen Linguistiker (Bruner, Chomsky und Pinker) bejahen, daß LAD auch für Gebärdensprachen wirkt. Darauf hat Herr Klingl im Anschluß der Diskussion (S.200) auch hingewiesen. Der Furor danach erklärt sich eher aus der Antipathie gegen die Gebärdensprache.
Dillers Charakterisierungen von taubspezifischem Bilingualismus in Tab.5 und im Text sind nicht richtig und politisch motiviert. Deshalb kennt er kein Spracherwerbsmodell für die Gebärdensprache. Denkt er denn, daß sie nie natürlich erworben wird und dafür LAD nicht zuständig ist? Außerdem muß die Tabelle mit Angaben der gegenwärtigen Realitäten und Leistungsergebnisse bei der Mehrheit tauber Kinder ergänzt werden.
Zuallerletzt, wie würde die Theorie aussehen, wenn es sich herausstellt, daß die Lautsprache auch ohne Hören gelernt werden kann? Ich kenne einige Fälle.
Hartmut Teuber
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