Auszug aus dem SPIEGEL Nr. 45 vom 8.11.99, Seite 126:

AFFÄREN

 

 

Raffkes in Weiß

Gegen alle Standesregeln bessern Ohrenärzte ihr Gehalt auf.  Sie kassieren Provisionen für jedes Hörgerät bis zu 300 Mark pro Stück.

 

Der Gelsenkirchener Paul-Gregor Junke glaubte an "eine gesicherte Existenz", als er 1985 seinen Betrieb als Hörgeräteakustiker eröffnete. Schließlich leiden immer mehr Menschen an Schwerhörigkeit, und die Discos sorgen dafür, dass nach einer Untersuchung der Universität Gießen schon 6o Prozent der 20-Jährigen einen Hörschaden haben.

Wer Hörgeräte verkauft, so dachte Junke, hat einen krisenfesten Job, und anfangs lief es auch recht gut. Bald schon beschäftigte der Akustikermeister vier Mitarbeiter. Jetzt ist er pleite. Junke hatte nicht mit der Geschäftstüchtigkeit der Ohrenärzte gerechnet: Bis zu knapp 18000 Mark Provisionen musste er ihnen monatlich zahlen. Als er nicht mehr spurte, verschwanden auf wundersame Weise auch die Kunden.

Der Unternehmer aus Gelsenkirchen ist kein Einzelfall. Den meisten in der Branche geht es schlecht. Übereinstimmend machten fast alle die gleiche Erfahrung wie die Fiebing Hörtechnik in Oldenburg: "Ungefähr seit Dezember ging die Kundenzahl drastisch zurück."

Viele gaben auf. Im Sommer schloss Uwe Fiebing seinen Betrieb in Petershagen, seine Münchner Kollegin Johanna Vogt machte ihre einst florierende Filiale in Rosenheim ebenfalls dicht. Bei dem Osnabrücker Hans Dieter Gerland "ist der Umsatz um die Hälfte gesunken".

Der Grund der Misere: Viele Ärzte besorgen sich Hörgeräte mittlerweile vom Versandhandel, denn der lockt mit Provisionen.  Im Widerspruch zu den Standesregeln kassieren die Ärzte ab.

Weil das Geschäft mit den Versandhaus-Provisionen so reibungslos läuft, verlangen immer mehr Ohrenärzte eine ähnliche Gebühr auch von den örtlichen Akustikgeschäften. Patienten werden oft nur noch zu solchen Akustikern geschickt, die vorab ihr Einverständnis zur Provisionszahlung erklärt haben.

Notgedrungen lassen sich die meisten auf die Zahlungen ein. 200 bis 250 Mark nimmt der Doktor für das Kassenmodell, 300 Mark für das teure Hightech-Gerät. "Eine Lizenz zum Gelddrucken", beklagt der Hildesheimer Sven Bielenberg die offenbar gängige Praxis.

Laut Muster-Berufsordnung ist es Ärzten nicht gestattet, "vom Hersteller oder Händler eine Vergütung oder sonstige wirtschaftliche Vergünstigung anzunehmen".  Daran halten sich jedoch nicht alle, vielleicht sogar die wenigsten.

Um den Provisionszahlungen einen legalen Anstrich zu geben, schlossen im vergangenen Jahr Hamburger Akustiker ein Abkommen mit den Ohrenärzten ihrer Stadt: "HNO-Fachärztliche Qualitätssicherung" nennt sich die Vereinbarung: Der Akustiker schickt den Schwerhörigen zum Arzt zurück, der dann laut Vereinbarung "die Qualität der Anpassung und die Qualität des angepassten Hörgeräts" überprüft und 120 Mark pro Ohr kassiert.

Der Arzt musste auch schon früher das vom Akustiker angepasste Gerät überprüfen - ohne Provision.  Jetzt füllt er zusätzlich noch einen Fragebogen aus, schickt ihn an den Akustiker und kassiert für diese Maßnahme zur "Qualitätssicherung" eine Gebühr.

Das so genannte Hamburger Modell hat schnell Schule gemacht. So entwickelte etwa die Firma Kind Hörgeräte, mit fast 190 Filialen Marktführer in Deutschland, im vergangenen Herbst ein eigenes Modell der "Qualitätssicherung". Danach kassiert der Onkel Doktor 100 Mark pro Ohr.

Geschäftstüchtige Ärzte holen weit mehr heraus. Typisch, wenn auch besonders krass, ist der Fall Junke. Um an Kunden zu kommen, musste der kleine Mittelständler seinen ganzen Gewinn abliefern.

Eine Gelsenkirchener HNO-Ärztin kassierte von Junke durchschnittlich 10 000 Mark Provisionen pro Monat, ein Kollege von ihr rund 7500 Mark.  Bei einem Monatsumsatz von gut 40000 Mark konnte Junke die Abgaben nicht lange verkraften. "Das war ruinös", merkte er bald. Die erhoffte Umsatzsteigerung war ausgeblieben.

"Das ist sittenwidrig und ein klarer Verstoß gegen die Berufsordnung", sagt Junkes Anwalt Achim Herbertz. Rund 85 000 Mark Provisionen hat der Gelsenkirchener Akustiker an die beiden Ärzte gezahlt, die noch weitere 80 000 Mark angemahnt haben. Junke fordert seine bereits gezahlten Provisionen zurück.

Nahezu flächendeckend haben sich diese Praktiken ausgebreitet. Die beiden Versandhändler auric in Rheine und Sanomed in Hamburg sind clever, ihre Provisionsmodelle haben die Begehrlichkeit der Mediziner stimuliert. So wandte sich auric per Rundschreiben an Deutschlands Hals-Nasen-Ohrenärzte: Das Unternehmen versprach "ein interessantes angemessenes Honorar außerhalb des gedeckelten Krankenversicherungs-Budgets".

Das Oberlandesgericht Hamm befand, dass auric "die Ärzte zu einem gegen berufsrechtliche Vorschriften verstoßenden Verhalten auffordert".  Auric hat gegen das Urteil Revision eingelegt.

Die Krankenkassen haben sich bislang kaum um das Thema gekümmert. Ihnen war es egal, wer mitkassierte. Inzwischen dämmert ihnen, dass ihre Ausgaben steigen, wenn eine medizinische Verordnung mit einem zusätzlichen "finanziellen Anreiz verbunden" ist, so der Bundesverband der Innungskrankenkassen (IKK).

"Eine Hörgeräteversorgung über den Arzt", schrieb der IKK-Vorstandsvorsitzende Rolf Stuppardt vergangenen Monat dem Bundesgesundheitsministerium, könne "für die Gesetzliche Krankenversicherung teurer werden als bei dem herkömmlichen Versorgungsweg". Ein Verbot der Provisionspraxis wird nun diskutiert.

Denn auf die Einsicht der Ärzte darf niemand hoffen.  Die betroffenen Akustiker und ihre Anwälte haben da einschlägige Erfahrungen gemacht. Anwalt Herbertz: "Die Ärzte haben überhaupt kein Unrechtsbewusstsein."

HERMANN BOTT