Im Jahre 1998 rückte der Film "Jenseits der Stille" - die Geschichte von Lara, Tochter gehörloser Eltern - in den Blickpunkt des öffentlichen Interesse: er wurde für den Oscar nominiert. Die Mutter von Lara wurde von Emmanuelle Laborit gespielt, einer französischen Gehörlosen. Emmanuelle Laborit hat mit ihren heute ca. 28 Jahren ein erstaunliches Leben hinter sich, das sie in ihrem Buch "Der Schrei der Möwe" dokumentiert hat. So hat sie beispielsweise als erste Gehörlose in Frankreich den renommierten "Prix Molière", den angesehensten französischen Theaterpreis, erhalten und hat als erste französische (gebürtige) Gehörlose ein Buch geschrieben, eben "Der Schrei der Möwe".
Durch das ganze Buch zieht sich Emmanuelles Identifikation mit einer Möwe. Es beginnt damit, dass ihr Schrei als Neugeborene wie der einer Möwe klang und sie deshalb den Spitznamen "Möwe" erhielt. Sie bezieht später ihr Verhalten immer wieder auf das einer Möwe, die Ihr als Identifikationsfigur dient.
In ihren ersten sieben Lebensjahren versuchten ihre Eltern auf den Rat der Ärzte hin, sie ausschliesslich mit oralen Methoden zu erziehen. Im Frankreich der siebziger und achtziger Jahre herrschte wohl die gleiche Situation wie in Deutschland: bloss keine Gebärden, die würden ja nur den Lautspracherwerb be- und verhindern. Die Eltern waren zunächst geschockt und wollten es nicht wahrhaben, dass ihre Tochter gehörlos ist. Sie mussten sich langsam darauf einstellen und waren zunächst nicht in der Lage, auf Emmanuelle so einzugehen, dass ein echter Kontakt möglich war.
Emmanuelle erhielt dann Sprachtraining, um die Lautsprache zu lernen - Lippenablesen und Artikulation. Aber sie beschreibt, dass ihre geistige Entwicklung kaum voranging, solange sie keine Gebärden kannte und kennen durfte. Sie beschreibt das, was in ihrem Kopf bis dahin vorgeht, als "Chaos". Sie lebt mit großen Ängsten und mit einem Unverständnis der Welt. Einzige Lichtblicke sind die wenigen Situationen, in denen ihre Umwelt auf sie und ihre Taubheit eingeht, und das sind offensichtlich wirklich wenige. Ihr Vater konnte beispielsweise bis zu ihrem siebten Lebensjahr kaum mit ihr kommunizieren, obwohl er es gerne getan hätte. Aber es fehlte die passende Sprache...
Die passende Sprache zur Kommunikation mit ihren Eltern und der Umwelt überhaupt erhielt Emmanuelle mit sieben Jahren, ziemlich zufällig. Ihr Vater hört im Radio erstmals von einem Mann, der in Gebärdensprache spricht. Der Mann hat an der Gallaudet-Universität in Washington studiert und in der Nähe von Paris ein Gehörlosentheater gegründet. Emmanuelles Vater erkennt die Chance für seine Tochter und besucht ab dann mit ihr die "Stätte der Verständigung zwischen Eltern und Kind". Emmanuelle lernt dort die französische Gebärdensprache und tritt in ein neues Leben ein: "Es ist wie eine erneute Geburt, ein neues Leben." Fortan macht sie große Fortschritte in ihrer persönlichen Entwicklung und in ihrer Wahrnehmung und dem Verständnis der Welt. Auch die bis dahin nicht vorhandene Kommunikation mit dem Vater wird durch die Gebärdensprache endlich möglich.
Ein zweiter wichtiger Punkt in Emmanuelles Leben ist der einmonatige Besuch von Washington, insbesondere der Gallaudet Universität. Sie erfährt, was im Leben einer Gehörlosen alles möglich ist und entwickelt daraus einen Stolz auf ihre Gehörlosigkeit und ein starkes Selbstbewusstsein. Das zuvor verschlossene und stille Mädchen wird "geschwätzig", da jetzt auf einmal Mittel zur Kommunikation vorhanden sind und auch Kommunikationspartner.
Nach der Rückkehr aus Washington entschliesst sich Emmanuelle, ihrer kleinen Schwester Marie die Gebärdensprache beizubringen, um sie als Spielkameradin und Gesprächspartnerin zu haben. Marie wächst durch Emmanuelle zweisprachig auf und wird zeitweise zu ihrer besten Freundin, engste Vertraute und - natürlich - Dolmetscherin. Das Verhältnis zwischen den Schwestern bleibt nicht frei von Spannungen. Marie merkt schnell (mit sechs Jahren!), dass Emmanuelle sie "benutzt", was aber letztlich nichts an ihrer Freundschaft ändert.
Mit elf Jahren kam Emmanuelle ins Gymnasium. Dort wurde ausschliesslich oral unterrichtet, Gebärden waren ausdrücklich verboten. Die mittlerweile sehr selbstbewusste und zielsichere Emmanuelle fühlt sich provoziert. Ab diesem Moment wird sie zu einer energischen und leidenschaftlichen Kämpferin für die Gebärdensprache. Das fängt in der Schule an, auf dem Schulhof und hinter dem Rücken der Lehrer, und setzt sich bis ins Erwachsenenalter fort. Zeitweilig schwänzt Emmanuelle die Schule nur aus Protest gegen den oralistischen Unterricht.
Ihre zunehmend auflehnende Haltung gegenüber dem Oralismus und den Hörenden allgemein verstärkt sich in der Pubertät - verständlicherweise. Sie erzählt von ihrer ersten Liebe und der Ablehnung des Freundes durch die Eltern, was ihre "Revolten" nur verstärkte. Sie verlebt im Alter von 13 bis 17 Jahren eine aufregende Jugend mit Alkohol, unschuldigem Aufenthalt in einer Gefängniszelle wegen erschreckendem Verhalten von Polizisten, Herumziehen in Metrostationen, politischer Demonstration (für die Anerkennung der Gebärdensprache) und auch mit erschreckenden Erlebnissen sexueller Belästigung. Sie schildert auch ihre Erlebnisse der Ablehnung ihrer gehörlosen Clique durch Hörende, die sie "rasend" machen. Sie will nicht als Behinderte oder gar als "abartig", sondern als ganz normaler Mensch gesehen werden, der lediglich eine andere Sprache benutzt als die Hörenden.
Mit 17 besinnt sie sich nach turbulenten Jahren darauf, dass sie ihren Schulabschluss machen will, um anschliessend überhaupt berufliche Chancen zu haben und eventuell auf die Universität gehen zu können. Sie arbeitet und erhält eine kleine Rolle in einem Film. Sie arbeitet viel, um ihr Abi zu schaffen und liest für eine Gehörlose auch ausserordentlich viel.
Bei ihrer ersten Abi-Prüfung im Alter von 19 scheitert sie. Sie arbeitet hart, um es mit 20 dann doch zu schaffen. Vor der zweiten Abi-Prüfung erhält sie das Angebot, die Hauptrolle der Sarah im Theaterstück "Kinder des Schweigens" zu spielen (auch bekannt als oskar-prämierter Film "Gottes vergessene Kinder"). Sie schafft mit der Theaterrolle als Perspektive ihr Abitur. Anschliessend beginnt die harte Arbeit der Proben für das Theaterstück. Die Premiere und die anschliessenden Vorstellungen sind ein voller Erfolg, so dass das Stück fast zwangsläufig für den Molière-Preis vorgeschlagen wird, mit Emmanuelle Laborit als Theater-Neuentdeckung 1993. Sie erhält den Preis und schildert in rührender Weise die Preisverleihung. Taschentücher bereithalten!
"Der Schrei der Möwe" ist ein sehr interessantes und lesenswertes Buch. Für Gehörlose, weil es eine "ihresgleichen" geschrieben hat und um sie geht, für Hörende, um mehr über die Welt der Gehörlosen zu erfahren. Allerdings ist das Buch nicht immer einfach zu verstehen. Das kommt zum einen daher, dass Emmanuelle Laborit offensichtlich über sehr gute Lautsprachkompetenz verfügt, zum anderen wurde ein Teil des Buchs aus der Gebärdensprache in Schriftsprache übersetzt. Dabei muss zwangsläufig einiges davon verloren gehen, was Emmanuelle ursprünglich sagte. Manchmal kann man diese Stellen deutlich erkennen, da dort nur einzelne Wörter im Text stehen, eben kein Subjekt-Prädikat-Objekt usw. Leider auch keine Mimik und Gestik...
Auch eine Diskussion über eine mögliche CI-Implantation findet in der Familie Laborit statt. CI wird von Emmanuelle - erwartungsgemäß - völlig abgelehnt, ausser für Erwachsene, die sich selbst bewusst dafür entscheiden. Ausserdem bringt sie sehr deutlich zum Ausdruck, für wie wichtig sie die Gebärdensprache für die Entwicklung eines gehörlosen Kindes hält. Alles in allem ist das Buch eine kämpferische Fürsprache für die Gehörlosen und die Gebärdensprache in der Welt der Hörenden und der Lautsprache. Ich habe es verschlungen und kann es nur weiterempfehlen.
Xaver Geiger
06.06.2000
Emmanuelle Laborit: "Der Schrei der Möwe"
Verlag Bastei Lübbe
ISBN 3-404-61349-X
Taschenbuch, DM 12,90