„Zurück ins Mittelalter“ hatte ich einen Reisebericht betitelt, den ich vor fast 20 Jahren für die DGZ geschrieben hatte. Frisch aus den USA zurück erschien mir hier in Deutschland alles so furchtbar rückständig, besonders im Hörgeschädigtenbereich. Um die in Amerika schon längst praktizierte Dolmetscherausbildung kennen zu lernen waren wir damals hinübergeflogen. Wenn es nur das gewesen wäre, was wir an Eindrücken sammeln konnten! Da begrüßten uns im Gallaudet College doch tatsächlich hörende Sekretärinnen mit Gebärden, wenn wir den Raum betraten (schon mal an einer deutschen Schule erlebt?), ein Gehörloser war Schulleiter – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen – und eines meiner Mitbringsel war das Lehrwerk „American Sign Language – a teacher’s resource text...“ von Dennis Cokely und Charlotte Baker. Nicht nur, dass es die ASL zweifelsfrei gab (die Begriffe DGS und LBG mussten wir erst noch einführen, und ihre Existenz wurde damals sogar noch von den meisten Gehörlosen selbst bezweifelt), die Sprache wurde systematisch gelehrt, basierend auf linguistischen Forschungen und Erkenntnissen. Zusätzlich gab es, in jede Lektion eingewoben, Hintergrundwissen über die Gemeinschaft der Gehörlosen und ihre Kultur. Umwerfend fortschrittlich!
Jetzt endlich können wir auch in Deutschland, was die Vermittlung von Sprache und Kultur Gehörloser betrifft, das dunkle Zeitalter verlassen. Basierend auf den amerikanischen Vorbildern (Jens Hessmann ist die Übersetzung von „Signing Naturally“ zu verdanken), den Gebärdensprachforschungen am Hamburger Institut und nicht zuletzt auf den langjährigen Erfahrungen der gehörlosen DGS-Kursleiter ist der „Grundkurs Deutsche Gebärdensprache“ entstanden. Bislang liegt die Stufe 1 vor, bestehend aus einem Lehrbuch, einem Arbeitsbuch und entsprechend einem Lehr- und Arbeitsvideo. Geplant sind darüber hinaus eine CD-ROM mit dem kompletten Vokabelverzeichnis (was den Vorteil der schnelleren Erreichbarkeit der Gebärdenfilme hat) und eine Fortsetzung in Form von Stufe 2 des Grundkurses und natürlich eines Aufbaukurses.
Der Grundkurs richtet sich logischerweise an Leute, die die DGS erlernen wollen, überwiegend also an Hörende. Immens wichtig ist aber auch der Bereich, der sich an die gehörlosen Gebärdenkursleiter wendet. Diese sind bisher nur in Ausnahmefällen pädagogisch und/oder linguistisch geschult. Den DGS-Dozenten in Hamburg erging es ursprünglich nicht anders – schließlich musste ein Lehrbetrieb aus dem Nichts erschaffen werden, mit Gebärdensprachkundigen, die aufgrund der derzeit vorherrschenden Philosophie gar keine pädagogische Ausbildung haben konnten. Insofern wissen die gehörlosen Autoren sehr wohl, vor welchen Problemen der „normale“ gehörlose Kursleiter steht.
Es mutet geradezu rührend an, wenn Heiko Zienert auf dem Lehrervideo Ratschläge gibt wie:
„Wenn Du am Anfang des Unterrichts ein wenig Angst hast – das ist normal.“
Auch die Hinweise darauf, dass der Unterricht sauber vorbereitet werden muss, dass man flexibel sein, aber den Überblick nicht verlieren darf, dass man selber als Lehrer wichtig ist – sie erscheinen dem Pädagogen banal, sind für gehörlose Laien, die üblicherweise DGS-Kurse leiten, aber von großer Bedeutung. Mag sein, dass der Hinweis, DGS ohne Stimme zu lehren und sich zu keiner Ausnahme verführen zu lassen, heutzutage eine Selbstverständlichkeit ist. Als „Mann der ersten Stunde“ (um nicht zu sagen „Dinosaurier“ ;-) erinnere ich mich jedoch an die Grundsatzdebatten, ob Gebärdenkurse nun mit oder ohne Stimme durchgeführt werden sollten. Man wollte ja schließlich als Gehörloser nicht als taubSTUMM erscheinen. Ich wünschte, ich hätte damals an stimmlosen DGS-Kursen teilnehmen können. Dann hätte ich sie sicherlich schneller und vor allem besser erlernt.
Bevor ich in nostalgischer Gefühlsduselei, seligen Erinnerungen und überschwänglichem Lobgesang versinke, will ich doch einige kritische Anmerkungen loswerden. Es ist nicht zu übersehen, dass das Lehrwerk in Hamburg entstanden ist. Unvermeidlich, dass neben überregionalen, also „echten“ DGS-Gebärden, auch lokale Gebärden einfließen. Aus diesem Grunde wird ausdrücklich auf die Notwendigkeit der Flexibilität und des Einfügens eigener bzw. der jeweiligen lokalen Gebärden hingewiesen. Lokalkolorit à la „Ich brauche drei Schlösser an meiner Tür, weil ich in St. Pauli wohne“ belebt den Kurs.
Allerdings taucht dann im Vokabelverzeichnis Altona statt St. Pauli auf. (Aber wer im Rest Deutschlands braucht schon die Hamburger Stadtteile?) Zugegeben, ein kleiner und unwichtiger Fehler, und eine der ganz wenigen Ausnahmen dazu. Nun ja, auch bei einer großen Anzahl von Autoren und Mitarbeitern gilt wohl noch: Nobody is perfect.
Eine verwechselte Vokabel ist banal. Aber wenn schon in der zweiten Lektion der Begriff „Universität“ auftaucht, in einer Zahlenübung „6 Universitäten – 2 Schulen“ und in den folgenden Lektionen dann die Begriffe „Semester“, „Wohnheim“ und „Wohngemeinschaft“, dann weiß man, dass hier auf das Hamburger Kursmaterial zurückgegriffen wurde. Im Gegensatz zu den Hamburger DGS-Kursen haben die Kurse irgendwo in deutschen Landen, geleitet von einer gehörlosen technischen Zeichnerin, besucht von hörenden Kollegen und Eltern Gehörloser – um es einmal schematisch zu überspitzen – nicht die Universität im Hintergrund. An dieser Stelle hätte man sich schon ein wenig mehr Flexibilität von den gehörlosen Autoren gewünscht.
Dem eigentlichen Kurs geht zur Einführung in die Thematik ein Quiz voraus („Was wissen Sie über die Kultur Gehörloser?“). Keine schlechte Idee, nur bleibt dem Abgefragten fraglich, warum z.B. die DGS sich nur in der Gehörlosengesellschaft und in Gehörlosenfamilien entwickelt hat und nicht in Gehörlosenschulen und -internaten. Dass dort die DGS systematisch unterdrückt wurde, ist hinlänglich bekannt. Nur – gehören Gehörlosenschulen und –internate nicht auch zur Gehörlosengesellschaft? Warum sonst setzen sich erwachsene Gehörlose so vehement für die Erhaltung „ihrer“ Schulen ein? Von wem haben die gehörlosen Lehrer Massieu und Clerc ihre Gebärden gelernt, und vor allem wo? Die Antwort „Schule“ im Quiz schlichtweg als falsch abzutun, ist offensichtlich falsch. Und ist man humorlos, wenn man die Antwort „eine Art Affensprache“ (auf die Frage „Was ist die DGS?“) schlichtweg albern und deplaciert findet? Und wenn schon absurd, dann auch richtig: In Gehörlosengesangsvereinen werden Sprache und Kultur der Gehörlosen tradiert!
Diese „Scherz“-Antworten mögen ja noch Geschmackssache sein. Komplizierter wird es, wenn es wirklich um Inhaltliches geht. „Welche Gruppe steht im Mittelpunkt der Gehörlosengemeinschaft?“ Einzig richtige Antwort: „frühertaubte Gehörlose“. Da kommen gleich zwei Fragen auf: Was bedeutet „im Mittelpunkt stehen“ und was sind „frühertaubte Gehörlose“? Bedeutet „im Mittelpunkt stehen“ die Mehrheit der Gruppe, oder bezieht es sich auf die Führungspersonen? Gehören die Taubgeborenen zu den „Frühertaubten“ dazu? Sie sind doch nie ertaubt! Und bis zu welchem Alter zählt man „frühertaubt“? Gut, statt „frühertaubt“ hätte man einfach „prälingual taub“ o.ä. nehmen können, aber was ist denn nun mit dem Mittelpunkt? Bei der anfangs erwähnten Amerikareise war für mich unübersehbar, dass die Führungsschicht der amerikanischen Gehörlosen sich zusammensetzt aus Spätertaubten, gehörlosen Kindern gehörloser Eltern und aus Juden. Aus historischen Gründen sind in Deutschland erblich Taube und Juden über Jahrzehnte ausgefallen. Erst langsam erholt sich die deutsche Gehörlosengemeinschaft von diesem Einschnitt und zeigt wieder Strukturen, die den amerikanischen ähneln. Betrachtet man zudem die bunt gemischte Vielfalt der Gehörlosengemeinschaft, fällt es schwer, Spätertaubte, Resthörige, Schwerhörige, CODAs usw. aus dem „Mittelpunkt“ auszusortieren. Wenngleich die Antwort „frühertaubte Gehörlose“ im Radio-Eriwan-Sinne „im Prinzip richtig“ ist – bei der Vorstellung, dass das Quiz zu Beginn eines DGS-Kurses durchgeführt wird und alle anderen Antworten als FALSCH abgeschmettert werden, wird einem schon ein wenig mulmig.
Anders ist es wohl bei den Verhaltensweisen in bezug auf Gehörlose, die als „akzeptabel“ oder „nicht akzeptabel“ klassifiziert werden. Im Film werden unterschiedliche Situationen dargestellt, verbunden mit der Frage, welches Verhalten bei Gehörlosen als akzeptabel gilt. Standardsituation: Gehörlose stehen zusammen und unterhalten sich. Die Räumlichkeit ist so eng, dass man nicht hinter ihnen vorbeigehen kann. Wenn man nun zwangsläufig zwischen den Gebärdenden hindurchgehen muss, sollte man a) sich kurz entschuldigen, b) sich bücken und „unterdurch tauchen“ oder c) ohne eine Gebärde der Entschuldigung einfach zwischendurch gehen? Ich muss wohl eingestehen, dass ich mich jahrzehntelang falsch verhalten habe. Schon die Entschuldigung würde das Gespräch ablenken, also durchgehen, so schnell wie möglich. Das erscheint einem Hörenden rüpelhaft. Umso wichtiger, ihm hier Werte und Normen der Gehörlosenwelt zu vermitteln.
Der Aufbau des Lehrwerks richtet sich an alltäglichen kommunikativen Bedürfnissen aus, die eben dann auftreten, wenn Hörende Gehörlosen begegnen. Logischerweise beginnt es also mit „Sich vorstellen“ und „Persönliche Informationen austauschen“, es folgen dann die Themen Umgebung, Wohnen, Familie und „was man tut“. Solch ein Kursaufbau erscheint auch einem Anfänger ganz logisch. Denkt man jedoch an die Anfänge zurück, fallen einem Lektionen ein, die nach Kapiteln des Gebärdenbuchs ausgerichtet waren. Nie werde ich den „Bananenmilchkaffee“ vergessen, der der Erheiterung und Auflockerung dienen sollte, und nie die Holländischseminare, die ich eher ersatzweise und aus Verzweiflung darüber besuchte, dass die angebotenen Gebärdenkurse wahrhaftig nicht zur Kommunikation mit Gehörlosen befähigten. (Die Holländischkurse natürlich auch nicht, aber die waren wenigstens für den Urlaub hilfreich.) Erst vor diesem Hintergrund wird der gewaltige methodische Sprung nach vorn deutlich. Kursleiter haben natürlich alle Freiheiten, den Kurs zu modifizieren. Aber selbst, wenn sie ihn aufgrund mangelnder Erfahrung von vorne bis hinten unverändert übernehmen, wird ihr Kurs sicherlich von Lernerfolgen gekrönt sein, und Kursleiter und Lernende werden den Autoren dankbar sein.
Der Grundkurs orientiert sich an der echten Sprache und an der echten Lebenswelt Gehörloser. DGS wird in den Strukturen vermittelt, die linguistisch weitgehend untersucht und belegt sind.
Die Sprache wird auf zwei Ebenen vermittelt.
Erste Ebene:
Basis ist der Dialog, d.h. die natürliche kommunikative Situation. Im Kurs wird in Satz- und Sinnzusammenhängen gebärdet. Wesentlichster Bestandteil ist das lebendige und ganz reale Gespräch. Zum Vertiefen und zum wiederholenden Üben dienen Videos.
Zweite Ebene:
Die Darstellungsweise im Buch bedient sich sogenannter Glossen, d.h. es werden nicht deutsche Sätze, sondern – mit Hilfe deutscher Wörter – die Strukturen der DGS dargestellt.
Selbstverständlich gehört zu jeder Lektion ein Vokabelanhang mit gezeichneten Gebärden.
Natürlich muss in einem Anfängerkurs auch das Fingeralphabet vermittelt werden. Und was ebenfalls für Anfänger durchaus nicht einfach ist: das Zählen. Was Laien vielleicht anfangs befremdlich erscheinen mag, sind Übungen wie „Mal das!“ – losgelöst von jeder Gebärde. Da werden vom Kursleiter irgendwelche geometrischen Figuren mit den Händen in die Luft gezeichnet, und die Teilnehmer sollen sie dann in ihrem Arbeitsbuch nachzeichnen. Die pädagogische Begründung ist jedoch naheliegend: Da die Gebärdensprache eine visuelle Sprache ist (vergesst die Ohren!), muss die visuelle Wahrnehmung gezielt trainiert werden. Ob nun Gehörlose wirklich mehr oder besser sehen als Hörende, sei dahingestellt. Dass Hörende mit der Wahrnehmung von Gebärdenzeichen anfangs Mühe haben, ist dagegen Tatsache. (Im Gegensatz zum Hörtraining bei Gehörlosen verfügen die Hörenden sogar über das Sinnesorgan für das Sehtraining!) Mit dem Rezeptiven ist das Expressive untrennbar verbunden. „Gesichtstraining“ und „Gesichtsausdruck üben“ zielen auf grammatische Grundstrukturen wie Frage und Verneinung ab. Und wer, was bei den meisten Teilnehmern der Fall sein dürfte, vorab keinen Kurs in NVK (nonverbale Kommunikation) besucht hat, findet auch für diesen Bereich Übungen.
Insgesamt steht eine derartig große Auswahl unterschiedlicher Übungsformen zur Verfügung, dass dem pädagogischen Grundprinzip des Methodenwechsels in vorbildlicher Weise Rechnung getragen werden kann. Darüber hinaus werden alle theoretischen Fragen, von „Welche Hand soll ich benutzen?“ bis zu „Zeitbegriffen“ ausführlich und – für die hörenden Lernenden – gut verständlich erklärt. Theoretisch könnte man sich also auch mit den Büchern und Videos die Grundkenntnisse der DGS im Alleingang beibringen. Das würde aber weder sonderlich Spaß machen, noch ist das Lehrwerk für diesen Zweck gedacht. Die ausführlichen Erläuterungen sind wohl eher in dem Kontext zu verstehen, dass die Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden auch bis zum Ende des Kurses noch so eingeschränkt sein wird, dass sie für die Erläuterung theoretischen Hintergrundwissens nicht ausreicht. Insofern muss der Lernende sich einen Teil des Lehrstoffes lesend selbst aneignen.
Drei Beispiele für die methodische Vielfalt
Ganz nach dem amerikanischen Vorbild – und man kann es nur bejubeln! – sind in jede Lektion Informationen über Kultur und Gemeinschaft der Gehörlosen eingebunden („Was Sie noch interessieren wird“). So wird man in der ersten Lektion bereits mit der Frage konfrontiert, was die Gehörlosengemeinschaft ausmacht. Vielleicht hätte man ein wenig darauf achten sollen, dass die Thematik zum Inhalt der Dialoge passt. So folgt z.B. recht unvermittelt auf die Lektion „Über die Umgebung sprechen“ Jochen Muhs’ Darstellung der Gehörlosen im 3. Reich. Dabei hätte es so wunderbare Gelegenheiten zu harmonischer Verknüpfung gegeben: Da stellt eine gehörlose Mutter fest, dass ihr Kind leider hörend ist (für Hörende sicherlich unfassbar!).
Oder es wird über Familien gesprochen, und diverse gehörlose Familienmitglieder werden aufgezählt. Wo, wenn nicht hier, gibt es die Querverbindung zur Nazi-Vergangenheit! Vielleicht kann man beim nächsten Band ein wenig darauf achten, die einzelnen Module harmonischer miteinander zu verknüpfen.
Der „Grundkurs Deutsche Gebärdensprache“ hilft einem schmerzlichen Notstand ab. Endlich und erstmalig kann die DGS systematisch und mit Vergnügen gelehrt und gelernt werden. Geholfen wird nicht nur den Lernenden, sondern auch den Lehrenden, da diese in bezug auf das Lehren eben auch noch Lernende sind. Auch wenn hier und da noch kleine Verbesserungswünsche auftauchen – dieses Lehrwerk wird mit Sicherheit zum Standardwerk werden. Und um einen Bogen zum Anfang dieser Rezension zu schlagen: Endlich nicht mehr „zurück ins Mittelalter“, sondern mit Vollgas in die Zukunft.
Bernd Rehling