Sabine Fries (gehörlose Gehörlosenseelsorgerin):
Abendandacht anläßlich der 2.
Deutschen Kulturtage der Gehörlosen in der Dresdener Annenkirche am Sonnabend, den
25.10.1997
(gehalten in DGS - in der Deutschen Gebärdensprache)
Liebe Gehörlosengemeinde!
Der Bibeltext von der Heilung des Taubstummen ist unser Evangelium. Das haben die Gehörlosenpfarrer und früher auch die Lehrer uns immer wieder gesagt. Jesus heilt einen Taubstummen, und die meisten von uns, die wir hier sitzen (mich eingeschlossen) sind ebenfalls taub, nicht stumm, aber doch gehörlos, wie wir heute sagen. Vielleicht wissen einige von den Älteren noch, daß früher am 12. Sonntag nach Trinitatis, am heutigen Sonntag also, immer ein großes Kirchfest in den Gehörlosengemeinden gefeiert wurde. In der Berliner Gehörlosengemeinde war das jedenfalls so üblich. Heute feiern wir unseren "Tag der Gehörlosen" ja immer im September oder neuerdings auch die Kulturtage im Oktober, zuerst in Hamburg vor 4 Jahren und jetzt in Dresden.
Ich habe mir für den heutigen Gottesdienst überlegt, ob wir nicht inzwischen das Evangelium von der Heilung des Taubstummen mit anderen Augen lesen als unsere Vorfahren. Vieles hat sich seitdem geändert, auch für uns Gehörlose. Wir bekommen mehr Informationen, die jüngeren unter uns haben heute beruflich viele andere Möglichkeiten, wir sind selbstbewußter geworden. Wir schämen uns nicht mehr, in der Öffentlichkeit unsere Gebärdensprache zu benutzen. Für mich war es eine spannende Sache, noch einmal genau auf den Text zu schauen und zu überlegen, was er mir heute zu sagen hat. Der alte Bibeltext und wir hier im Gottesdienst zu den Kulturtagen. Wie paßt das zusammen? Paßt es überhaupt noch? Für uns als Gehörlosengemeinde gibt es viele gute Gründe, heute mal genau auf die alte Geschichte von Jesus und dem Taubstummen, wie sie uns Markus erzählt, zu schauen und zu überlegen, was sie mit uns heute zu tun hat.
Jesus ist unterwegs und reist in das Gebiet der zehn Städte, also östlich des Jordans. Ein Ortsname wird nicht genannt, wir wissen nur, da irgendwo mittendrin kommt er in ein Dorf, und dort begegnet ihm der Taubstumme. Die Leute bringen ihn zu Jesus. Sie haben von seinen Wundertaten gehört und wollen nun sehen, was er mit dem Taubstummen anfängt. Taub zu sein vor 2000 Jahren, das war bestimmt ein hartes Schicksal. Ich weiß, heute benutzen wir das Wort "Schicksal" nicht mehr so gerne. Aber die Situation des Taubstummen damals war bestimmt ein echtes Schicksal. Ich möchte es mir lieber nicht vorstellen: Einsam und isoliert in einem Dorf zu hocken, von anderen Menschen als Außenseiter beäugt und, da der Sprache nicht mächtig, auf eine Ebene mit Tieren gestellt, ein Dorfidiot eben. Taubstumme damals hatten keine oder nur wenige Rechte. Sie durften nicht heiraten, konnten keinen richtigen Beruf erlernen und sogar die Teilnahme am Abendmahl blieb ihnen lange Zeit verwehrt. Wir alle wissen, warum das so war: Taubstumme galten lange Zeit als bildungs- und kommunikationsunfähig. Schulen für uns gibt es erst seit ca. 200 Jahren und noch später dann auch Gehörlosenvereine und Gemeinden mit ausgebildeten Gehörlosenpfarrern.
Es würde mich allerdings nicht wundern, wenn schon die Gehörlosen damals taten, was sie heute noch tun: sich untereinander treffen und miteinander gebärden. Darüber wissen wir nichts. Der Bibeltext zeigt uns so, wie uns die Hörenden immer gesehen haben: Als arme Geschöpfe, sprachlos und einsam. Vielleicht hat das schon damals nicht gestimmt. Vielleicht gab es ja die gehörlosen Freunde, mit denen der Taubstumme vergnügt sein konnte, vielleicht haben ihn die Hörenden bei einem schönen Gebärdengespräch unterbrochen, um ihn ohne jede weitere Erklärung zu diesem Fremden namens Jesus zu schleppen. Wir wissen es nicht. mit seinen hörenden Mitmenschen hat es der Taubstumme damals jedenfalls nicht leicht gehabt. Taubstumm zu sein war ein hartes Schicksal.
Schauen wir auf heute. In welcher Situation leben wir Gehörlose? Die Technik hat sich verbessert, aber wir können immer noch nicht Musik hören, auch kein Vogelzwitschern oder die Stimmen unserer Kinder. Es gibt heute Schulen, Berufsschulen und Ausbildungsmöglichkeiten, Lehrer und Pfarrer für Gehörlose, trotzdem bleiben unsere beruflichen Möglichkeiten stark eingeschränkt. Es gibt Videotext im Fernsehen, aber immer noch sitzen wir in den Medien in der letzten Reihe. Wir haben unsere Vereine, Gemeinden, Veranstaltungen, wir können reisen und andere Gehörlose ohne Schwierigkeiten kennenlernen, trotzdem sind wir in unserem Lebensalltag unter Hörenden oft allein und isoliert. Wir bekommen Gehörlosengeld und freie Fahrt, aber um Anerkennung unserer Gebärdensprache und unserer Rechte, z.B. auf Dolmetscher, müssen wir jeden Tag aufs Neue kämpfen. Ja, es stimmt wohl, daß sich unsere Situation gebessert hat und sich immer noch bessert. Doch unsere Taubheit bleibt, das wissen wir, jedenfalls solange kein Wunder geschieht.
Unser Predigttext erzählt von dem Wunder, das Jesus vollbringt. Er steckte seine Finger in die Ohren des Taubstummen, strich Speichel auf die Zunge und sprach das bekannte Wort Effata (Öffne Dich). Sogleich konnte der Taubstumme wieder hören und sprechen. Die Leute staunten über dieses große Wunder und erzählten es überall herum. Trotz Jesu Schweigegebot. Sie waren so begeistert, daß sie einfach darüber sprechen mußten. Der Taubstumme konnte wieder hören und sprechen. Eine unglaubliche Geschichte. Ein unfaßbares Wunder.
Nur leider hat diese Geschichte für mich einen kleinen Haken. Der Taubstumme da, im Markusevangelium kann wieder hören. Wir nicht! Hören zu können - ein Wunder? Das Heil, auf das wir alle hoffen? Eigentlich kann ich mir das gar nicht vorstellen. Ich bin wie ich bin, nämlich so wie Gott mich geschaffen hat. Und ich glaube auch, daß Gott will, daß dieses Leben als Gehörlose mein Leben ist. Und das bedeutet: Alles, was die Taubheit mit sich bringt, gehört zu mir. Alles, die Gebärdensprache, die Gehörlosengemeinschaft, der komplizierte Alltag in einer hörenden Welt, die Grenzen der hörenden Welt, auf die ich tagtäglich stoße. Auch wenn es mich oft ärgert, nicht richtig hören zu können und eine ganze Menge zu verpassen, auch wenn ich sehe, mit welchen Schwierigkeiten andere Gehörlose zu kämpfen haben, merke ich: So richtig spricht mich das Wunder von der Heilung des Taubstummen nicht an. Es weckt zuviel Widerstände in mir, läßt mich an die Götter der Medizin, an Ohroperationen und technischen Schnick-schnack denken. Nein, von meinem Schöpfergott erwarte ich kein derartiges Wunder. Emmanuelle Laborit, die gehörlose Schauspielerin, bekannt aus dem Kinofilm "Jenseits der Stille", schreibt in ihrer Biographie:
Plötzlich hören zu können, bedeutet für einen Tauben eine andere Vorstellung von der Welt entwickeln zu müssen. Ich würde meine Identität verlieren, mein Gleichgewicht, meine Vorstellungskraft, mich selbst. Ich weigere mich, den Planeten zu verlassen.*
Ja, auch ich weigere mich, den Planeten zu wechseln. Ich möchte meine Identität behalten, mein Gleichgewicht, meine Vorstellungskraft. Ich bin heimisch geworden auf dem Planet der Gehörlosengemeinschaft. Deshalb ist mir das Evangelium von der Heilung des Taubstummen immer etwas fremd geblieben, etwa wie die Vorstellung einer Reise zu einem anderen Planeten. Heilung und Wunder berühren mich nicht, und im Grunde wünsche ich mir für uns heute eine andere Wendung des Textes. Und wenn wir genau hinschauen gibt es eine Schnittstelle zwischen dem alten Text und unserer Situation heute. Es ist nur ein kleiner Satz in unserem Predigttext. Wir erinnern uns: Ganz am Anfang, als die vielen Menschen den Taubstummen zu Jesus bringen und die Aufregung, das Gedränge groß ist, mitten in diesem Durcheinander also, da nimmt Jesus den Taubstummen beiseite und führt ihn ein Stück von der Menge fort. An einen Ort, wo Ruhe ist und wo auch Verständigung möglich ist.
Für mich ist das der Punkt in der Geschichte, wo ich gerne in die Rolle des Taubstummen schlüpfen würde. Noch vor dem großen Wunder. Das Wunder ist nicht wichtig viel wichtiger ist mir das Beiseitenehmen. Und ich stelle mir gerne vor, wie es ist, von Jesus beiseite genommen zu werden und Gelegenheit zu haben, mit ihm in Ruhe zu sitzen und zu reden. Was ich ihm zu sagen hätte? Nun, ich möchte es jetzt mal versuchen, indem ich in die alte Geschichte hineingehe und mich von Jesus beiseite nehmen lasse. Wir gehen ein wenig und setzen uns dann irgendwo hin. Dann würde ich Jesus ansprechen:
Schön, daß Du dir heute Zeit für mich nimmst, Jesus, und die Hörenden warten läßt. Normalerweise müssen wir Gehörlose nämlich warten, wenn die sich unterhalten. Wie oft stehen wir dann herum und kriegen nichts mit. Aber wir beide, wir können miteinander reden. Es ist nicht so schwer. Versuch's doch einfach mal mit Deinen Händen. Nein, berühren brauchst Du mich nicht, es genügt, wenn ich Dich gut sehen kann. Laß es Dir zeigen ... So ist es gut, deine Hände fliegen. Das Wunder geschieht, wir verstehen uns. Nun möchte ich Dir mal was gebärden: Jesus, Du kennst ja die Menschen und weißt auch, wie wir Gehörlose leben. Nimm uns so an, wie wir sind. Gott hat uns so geschaffen. Du brauchst uns nicht zu Hörenden zu machen. Wir können als Gehörlose leben. Hilf uns dabei. Laß uns all das wahrnehmen, was wir haben: unsere Gebärdensprache, unsere Gehörlosengemeinschaft, unsere Kultur. Gib uns Selbstbewußtsein und stärke uns für den Alltag in der hörenden Welt. Wir brauchen keine Wunder. Uns genügt der Respekt und die Rücksicht unserer Mitmenschen und das Wissen, daß Du uns beiseite nimmst und verstehst. Dafür danken wir dir heute.
Liebe Kulturtagsgemeinde, vielleicht könnte so unser heutiges Gebet zu Jesus aussehen?! Wir wissen, daß durch ein solches Gebet keine Heilung passiert doch vielleicht das Heil selbst: nämlich zu erfahren, daß Gott will, daß dieses Leben als Gehörlose unser Leben ist.
Amen.
Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, daß er die Hand auf ihn lege. Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heißt: Tu dich auf! Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig. Und er gebot ihnen, sie sollten's niemandem sagen. Je mehr er's aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.
* Emmanuelle Laborit, Der Schrei der Möwe, Bergisch Gladbach 1995, S. 78f.
- R. Ilenborg - 21.1.98 -