Die Welt mit den Augen verstehen
Eine Sammlung der Erfahrungen von Gehörlosen, Schwerhörigen, CI-Trägern und von Eltern
Leseproben
aus Kapitel 1 "Berichte und Gedanken von Eltern gehörloser Kinder":
Als ihre Mutter bin ich sehr stolz auf meine Tochter und ihre Leistungen, aber mehr als alles andere bin ich ihr dankbar, daß sie mir so viele Dinge beigebracht hat, die ich sonst nie erfahren hätte. Sie befähigte mich dazu, besser zu verstehen, was wirklich wichtig ist im Leben. Durch unsere Beziehung bin ich gewachsen und bereichert worden, mehr, als ich es jemals für möglich gehalten hätte.
Es gibt ein altes Sprichwort: "Sei vorsichtig, was du dir wünschst," was bedeutet, daß das, was du glaubst zu wollen, nicht immer das Beste für dich ist. Ich möchte es so abwandeln: "Sei vorsichtig, nicht etwas zu verpassen, was du dir nie gewünscht hättest." Leben ist voller Überraschungen, und ich weiß, ich habe das meiste in den schwierigsten Umständen gelernt.
aus Kapitel 2 "Gehörlose Erwachsene - ihre Erfahrungen und Ansichten":
Für viele Eltern ist die Erfahrung, ein gehörloses Kind zu haben, eine traumatische und manchmal tragische Erfahrung. In dieser Hinsicht geht mein Herz zu ihnen, weil sie genauso Opfer sind wie ihre gehörlosen Kinder. Schließlich war auch ich ein gehörloses Kind mit hörenden Eltern und ich weiß, was sie durchgemacht haben. Trotzdem, eine entscheidende Sache muß bedacht werden, dieser Verlustgedanke liegt nur bei Eltern und anderen hörenden Menschen, weil sie groß wurden und ihr Hören so sehr schätzten. Sie glauben, daß eine Welt des Schweigens unfaßbar und schrecklich ist. Sie übertragen den Wert des Hörens auf gehörlose Kinder.
Von Geburt an gehörlose Kinder haben jedoch nicht die Erfahrung oder Erinnerung, hören zu können und leiden deshalb nicht an derselben Verlustempfindung oder Tragödie. Sie denken sich einfach ihre eigenen Wege aus, Sinn aus der Welt zu ziehen und damit fertig zu werden, mit natürlichen Mitteln, indem sie ihre Augen benutzen.
aus Kapitel 3 " Worte von Schwerhörigen über ihr Leben":
Stellt euch uns so vor:
Es ist ein tobender Schneesturm draußen. Es ist 20 Grad unter Null und das Thermometer fällt und fällt. Dort stehen zwei Häuser, nur wenige Meter voneinander entfernt. Die Häuser sind riesig, sie bieten genügend Platz für Hunderte von Menschen. Während du in die Fenster des einen Hauses schaust, siehst du einige Leute in einem hell erleuchteten Raum, die lachen und reden. Ihnen ist warm und trocken und sie schlürfen Heißes aus einem Becher und haben viel zu essen. Im anderen Haus ist die Szene so ziemlich genau dieselbe, außer das die Menschen nicht reden, sondern miteinander gebärden. Nun sind da die schwerhörigen Menschen, draußen zwischen den beiden Häusern. Während wir an Türe und Fenster klopfen und hereingelassen werden wollen, werden wir widerwillig angeschaut (wenn überhaupt) und abgewiesen - von beiden Häusern. Es ist genügend Platz für jeden da, aber sie wollen uns nicht hereinlassen. Das ist das Gefühl, das wir Schwerhörigen üblicherweise vermittelt bekommen durch einen großen Teil der Gesellschaft - sowohl der hörenden als auch der gehörlosen.
aus Kapitel 4 "Umgang mit dem Cochlear Implant":
Meist ernte ich "hilfloses Schulterzucken", wenn ich erkläre, daß ich mich bewußt für ein Leben mit der Taubheit ohne CI entschieden habe. Bin ich nun deswegen ein hoffnungslos stures Menschenexemplar, eine "Ewiggestrige", der man "Manna und Nektar" vergeblich anbietet? So denke ich, daß im Grunde nicht das Taubsein an sich das große Problem ist, sondern, welche innere Einstellung ich dazu habe.
Die Erfahrungen in der Hypnose und viele, viele Bücher haben auch meine Weltanschauung verändert. Heute sehe ich, daß all unsere Leiden nicht sinnlos über uns hereinbrechen, sondern daß es wichtige Lernerfahrungen sind für den Reifungsweg unserer Seele. In diesen Prozeß möchte ich nicht künstlich eingreifen. Gerade mein langer Weg durch die Taubheit zeigt, wie sehr sich die innere Einstellung von totaler Abwehr gegen die Taubheit bis zur bedingungslosen Annahme verändern kann - ich sehe es als meinen Weg des Erwachsenwerdens. Daß heute dieses echte Annehmenlernen durch das CI abgestoppt wird, finde ich eigentlich schade. Zumindest denke ich, daß auch solch eine Einstellung nicht abgewertet werden sollte, sondern daß sie genauso viel Anerkennung verdient wie das Wiederhören mit dem CI! Empfehlungen für "jedermann" gibt es sicherlich nicht, aber lebenswert kann auch ein Leben mit der Taubheit sein!