Deaf Again
(veröffentlicht in DAS ZEICHEN, Heft Nr. 42, Dezember 1997, S. 615 ff.)

Mark Drolsbaugh, "Deaf Again", Handwave Publications, 203 Seiten,
ISBN 0-9657460-1-1 (Paperback, englisch). U.S. $16,95.

Erhältlich von:
Handwave Publications,
1201 Bethlehem Pike
North Wales, PA 19454
USA


Auf den ersten Blick sind die Erlebnisse von Mark Drolsbaugh so wie diejenigen vieler anderen Gehörlosen in den USA auch. Oral aufgewachsen, auf eine Mainstream-Schule gegangen, im Alter von über 20 Jahren Gallaudet University besucht, dort die amerikanische Gebärdensprache (ASL) und die Welt der Gehörlosen entdeckt --- Beispiele wie dieses gibt es viele.

Wer so denkt, hat jedoch etwas Wichtiges übersehen: Mark ist ein gehörloses Kind gehörloser Eltern, die stets ASL für die Kommunikation untereinander und mit anderen Gehörlosen benutzt haben. Zu allem Überfluß wurde er hörend geboren und verlor sein Gehör erst im Alter von 6 Jahren über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg.

Diese Faktoren tragen zu einer einmaligen Perspektive bei: hörendes Kind, schwerhöriges Kind, ertaubter Jugendlicher und schließlich gehörloser Erwachsener und Mitglied der ASL-Gemeinschaft und Gehörlosenkultur. Nicht zuletzt deswegen wurde das Buch von der gehörlosen Internet-Gemeinschaft, wo Mark sich durch viele anregende und teilweise kontroverse Diskussionen auf der Mailingliste "DEAF-L" bereits einen Namen gemacht hat, mit Spannung erwartet. Gleich vorweg gesagt, die hohen Erwartungen an das Buch haben sich erfüllt.

Für Mark Drolsbaugh beginnen die Schwierigkeiten in der Schule in der ersten Klasse. Nach einer Aktivität mit den Schülern aus einer anderen Klasse kommt bei den Lehrern der Verdacht auf, daß er einen Hörverlust haben könnte. Da seine Eltern selber gehörlos sind, obliegt seinen hörenden Großeltern müttlicherseits die Verantwortung für die Kommunikation mit der Schule und überhaupt seine gesamte Ausbildung.

Für seine Großeltern ist der Hörverlust ein großer Schock. In der Folge stellen sie ihn den unterschiedlichsten Ärzten, Audiologen und Sprecherziehern vor, um den Hörverlust abzuwenden oder gar rückgängig zu machen. Mark wird durch diese Aktionen dahingehend geprägt, daß er seine Gehörlosigkeit verleugnet und um jeden Preis versucht, als hörende Person durchzugehen. Er schreibt dazu:

"Their [the grandparents'] actions were saying 'we love you, we'll do anything to help you hear like normal people do.' Unbeknownst to them, the mixed message I received was 'we love you, but ... deafness is awful, and we have to fix you.'"

Diese Einstellung zieht auch nach sich, daß Mark der Zugang zu ASL verweigert wird:

"In the frenzied quest for normal hearing, doctors and so-called experts bombarded us with the old 'it's a hearing world' routine. This meant I needed to wear hearing aids and work on my speech at all times, never signing. The doctors told my hearing grandparents to make sure my deaf parents didn't use sign language with me, because they felt it would cause me to lose my speech, a supposedly crucial element of my development. The experts had spoken, and that was that. [...]"

Das Erstaunliche daran ist, daß seine gehörlosen Eltern nicht widersprechen. Hier war wahrscheinlich das noch weitgehend vorhandene Restgehör und bereits vorhandene Lautsprache der ausschlaggebende Faktor:

"Surely, they [my parents] could have told everyone to back off and just leave me alone with my deafness. However, my residual hearing and speech at the time were just so close to that of a hearing person (back then, I could still hold a decent phone conversation, even if sometimes I had to ask people to repeat things a few times). If I had been born completely deaf, perhaps, this would have been a totally different story. [...]"

Nach der Diagnose wechselt Mark auf eine kleine Regel-Grundschule, wo er sich sehr wohl fühlt, sogar bis zu dem Punkt hin, wo er zwischen sich und den hörenden Schülern keinen Unterschied sieht und sich vollkommen als Hörender fühlt. Diese Gefühle erhalten allerdings einen merklichen Dämpfer als eine hörende bekannte seiner Mutter an seiner Stimme merkt, daß er einen Hörverlust hat. Von dort an wird ihm tief bewußt, daß er sich letzendlich immer von den Hörenden unterscheiden wird.

Nach der Grundschule besucht er die Germantown Friends School (GFS), einer der besten und anspruchsvollsten "High Schools" in Philadelphia. Nach seinem ersten Jahr dort findet seine Mutter eine Stelle an der Pennsylvania School for the Deaf (PSD). Dorthin nimmt seine Mutter ihn dann manchmal mit. Dies ist für Mark der erste wirkliche Kontakt mit gleichaltrigen Gehörlosen und ein unbescheibliches Gefühl:

"I have no idea of how I can adequately describe what it felt like the first time I was surrounded by a whole school of deaf children. It was an awakening, a rebirth of sorts, and all sorts of shackles broke free. [...] I genuinely felt a sense of freedom and involvement at PSD which I never experienced anywhere else. [...] No straining to read lips. No struggling to keep up with conversations going on between two or more people. No pressure to pass off as a hearing person. [...]"

Mark entscheidet sich, seine Eltern zu konfrontieren und um eine Versetzung von GFS nach PSD zu bitten. Zu seiner Konsternation gibt seine Mutter ein lautes und deutliches "Nein" als Antwort --- trotz all der sozialen Vorzüge ---, weil sie durch ihre Arbeit festgestellt hat, daß das akademische Niveau von PSD zu niedrig ist. In der 8. Klasse hat Mark bereits mehr Stoff bewältigt als die Schulabgänger von PSD.

Nachdem er als erster Gehörloser überhaupt an GFS einen Abschluß gemacht hat, ist es für ihn nicht klar, wie es weitergehen soll. Dadurch, daß Mark sich von Hörenden unterscheidet und daß es wegen seiner Pionierarbeit an GFS keine gehörlosen Vorbilder gibt, mit denen er sich identifizieren könnte, ist sein Selbstvertraün niedrig. Statt sich selbst hohe Ziele zu stecken, gibt er klein bei und eignet sich die Einstellung an, daß jede Art von Arbeit, sei sie noch so niedrig, für ihn ein Erfolg sei:

"If I landed any job at all, be it flipping burgers or washing windshields with a squeegee at street intersections, it would be not bad for a deaf guy. Eventually, I got a part-time job as a supermarket clerk. It was okay, nothing fancy. To me, it was the end of the road. Since the job was not bad for a deaf guy, I had made it in my career goal."

Der Wendepunkt in Marks Leben kommt, als eine hörende Frau namens Linda Baine ihn eigens im Supermarkt aufsucht, um ihm eine Stelle als Betreuer an der Pennsylvania School for the Deaf in einem der Internatsgebäude anzubieten. Ihr war bewußt, daß die gehörlosen Kinder nicht nur von Mark lernen könnten, sondern daß Mark umgekehrt auch von den Kindern lernen könnte, was es wirklich bedeutet, gehörlos zu sein und was eine gehörlose Identität bedeutet. Nach einigem Hin und Her entschließt er sich, dieses Angebot anzunehmen. Wie er selbst schreibt: "My life would never, ever be the same."

Der Rest des Buches beschreibt, wie sich der erstaunliche Wechsel von einer hörenden Identität zu einer gehörlosen Identität vollzieht und wie sich damit ein Wandel in Marks Selbstbewußtsein und seinen Karrierezielen vollzieht. Zum ersten Mal wird ihm wirklich klar, was in seinem Leben wirklich fehlte: eine Identität in einer Kultur, in der er sich wirklich wie zu Hause fühlt. Von dort ist auch der Titel des Buches "Deaf Again" inspiriert: In die Gehörlosenkultur durch seine gehörlosen Eltern geboren, hat er sie durch seinen eigenen Hörverlust verloren, nur um sie zwei Jahrzehnte später wieder zu entdecken.

Ein weiteres Schlüsselerlebnis ist für ihn die einwöchige Blockade der Studenten an der Gallaudet University im Rahmen der "Deaf President Now"-Bewegung im Jahre 1988, die maßgeblich zu seiner Identität als Gehörloser beiträgt. Des weiteren überzeugen ihn die Ereignisse jener Woche davon, selber an Gallaudet zu studieren. Zunächst macht er seinen Bachelor-Abschluß in Psychologie und studiert dann für seinen Masters-Abschluß als Berater an Schulen (school counseling and guidance). Nach dem Ende des Studiums tritt Mark eine Stelle als Psychologe an der Pennsylvania School for the Deaf in Philadelphia an, wo er bis heute arbeitet.

Bezüglich Kommunikation, Spontaneität in der Interaktion mit Menschen und Führungsqualitäten sind die Erfahrungen mit PSD, Gallaudet und schließlich wieder PSD für Mark eine Reihe von Offenbarungen, die weit über die eigene Identitätsfindung hinausgehen. So ist es nicht verwunderlich, daß er sich für den Einsatz von ASL bei gehörlosen Kindern so früh wie möglich stark macht.

Dennoch spielt die politische Seite der Gehörlosigkeit im Buch eine eher untergeordnete Rolle. Weitaus wichtiger sind die biographischen Aspekte und eine allgemeine positive Einstellung zur Gehörlosigkeit. Das Buch ist nicht nur einfach eine Autobiographie, sondern gleichzeitig auch ein Stück Lebensphilosophie aus Sicht eines Gehörlosens. Eines der eindrucksvollsten Beispiele findet sich gleich zu Beginn des Buches, wo Mark eine alte Zen-Weisheit zitiert:

"'Empty your cup so that it may be filled.' Deafness emptied my cup. The void in one area of my life allowed me to have enriching expriences in others."

Es gibt wohl kaum ein anderes Buch, in dem die Weisheit so sehr zutrifft wie in diesem. Von den lustigen Anekdoten bis zu ernsteren Ereignissen, die zum Nachdenken anregen, alle haben sichtbar zur Bereicherung von Marks Leben beigetragen. Überhaupt gibt es beim Lesen des Buches einiges zu lachen, wie zum Beispiel an der Stelle, wo beschrieben wird, wie eine psychotische, 140 kg schwere Frau nackt und schreiend durch den Supermarkt rennt. Mark hört sie natürlich nicht kommen und bekommt die Überraschung seines Lebens als sie plötzlich vor ihm auftaucht ...

Zusammengefaßt gesagt, dieses Buch ist sowohl eine hochinteressante Autobiographie als auch ein Stück Lebensphilosophie. Es ist vor allem für die Leute interessant, die sich mit dem Thema Identitätsfindung auseinandersetzen möchten. Auch für die Gehörlosen, die mit ihrer Identität zu kämpfen haben, könnte das Buch sehr hilfreich sein. Ich habe dort viele von meinen eigenen Erfahrungen um die Konflikte zwischen den Welten wiedergefunden --- es ist nur zu schade, daß es das Buch nicht schon vor 5 Jahren gab. Dazu kommt noch, daß das Buch in einem lockeren und flüssigen Stil geschrieben ist und sich dementsprechend leicht liest. Für diejenigen, die des Englischen mächtig sind, ist es unbedingt empfehlenswert.


Adresse des Verfassers:
Christian Vogler
511 S. 45th Street
Philadelphia, PA 19104
USA

E-Mail: cvogler@gradient.cis.upenn.edu
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