Audismus pur
Veröffentlichung in FORUM, Zeitschrift des
DFGS
Hören und Hörschädigung. Unter diesem Titel hat der
Paritätische Wohlfahrtsverband Hessen eine CD-ROM herausgegeben, die "Informationen
und Unterrichtshilfen für allgemeine Schulen" anbieten will. "Ziel dieser
multimedialen Anwendung ist es, den guthörenden Menschen unserer Gesellschaft
die Schwierigkeiten und Probleme hörgeschädigter Menschen näherzubringen."
Sicherlich ein sinnvolles und ehrenwertes Ziel. Wenngleich der hellhörige
Hörgeschädigte – um mit der CD zu sprechen: der "zart besaitete Mensch mit
labilem Selbstgefühl" – schon hier ein wenig stutzig wird. GUThörend, hörGESCHÄDIGT,
Schwierigkeiten und Probleme – das sieht nach einem klaren Weltbild aus, in
dem die Rollen eindeutig verteilt sind. Aber überwinden wir unser labiles
Selbstgefühl und ziehen andere Saiten auf. Das alles ist doch ganz normaler
Sprachgebrauch.
Das erste, was man beim Betrachten der
Internetseite
zur CD zu hören bekommt, ist die Weisheit "Ob einer schlecht oder gut
hört, kann man nicht den Ohren ansehen." Wohl wahr, obwohl – wenn Hörgeräte
nicht gerade unter der Haarpracht versteckt werden, sieht man schon etwas!
Schon wieder kommen die zarten Saiten zum Vorschein, sorry! Starten wir doch
einfach mal die CD. Als Vorspann erscheint das hinlänglich bekannte Zitat
von Helen Keller, dass Blindheit von Dingen und Taubheit von Menschen trennt,
gefolgt von dem Spruch "nicht-hören-können macht einsam". Und das muss man
gesehen haben:
Parallel zum abebbenden Schall verschwindet auch die Schrift
langsam im Dunkel. Einsam im Dunkeln! So kann es einem ergehen, wenn man eben
nicht GUThörend ist. Kein Wunder, dass "Spätertaubte zehnmal mehr zum
Selbstmord neigen als der allgemeine Bevölkerungsdurchschnitt." Was weder
witzig noch falsch ist, aber in die Grundstimmung und Sichtweise dieser CD
passt.
Aber sehen wir uns die CD einmal unvoreingenommen – soweit
das möglich ist – an! Bei den verkündeten edlen Absichten und Zielen kann
doch nicht alles negativ sein. Ist es auch nicht.
Lehrer an Regelschulen, die das Thema "Hören und Hörschädigung"
im Unterricht behandeln, vielleicht weil sie ein hörgeschädigtes Kind in der
Klasse haben, finden auf der CD reichlich Anregungen und Unterrichtsmaterial.
Der medienkritische Betrachter wird sich fragen, warum der größte Teil der
CD nicht über die Funktionalität eines "electronic book" hinauskommt.
Wenn denn nur Textseiten auf dem Monitor dargestellt werden, warum nicht gleich
eine Print-Version? Lesen auf Papier ist allemal angenehmer als auf dem Monitor,
und auf irgendwelche Animationen wie einschwebende Überschriften kann man
gut verzichten. Und wenn denn schon diese Form der Darstellung gewählt wurde,
warum gibt es dann keine Hyperlinks (Querverweise) im Text? Das Medium Computer
kommt erst da so richtig zum Zuge, wo auf der CD echte Multimedialität genutzt
wird in Form von Animationen, Sound und Videos.
Die CD ist untergliedert in die Bereiche Schule, Soziales
und Biologie. Unvermeidlich im Bereich Biologie das Thema, das erstaunlicherweise
gerade an Hörgeschädigtenschulen besonders populär ist: die Funktionsweise
der Hörorgans. Was sonst im Unterricht nur anhand von Schaubildern und Modellen
veranschaulicht werden kann, wird auf der CD mit Hilfe von Animationen verdeutlicht.
Wie ein Film halt!
Hier können natürlich nicht die Animationen gezeigt werden,
die Schallwellen und die Bewegungen des Trommelfells. Ein echter Vorteil der
CD, zumal wenn man bedenkt, dass jeder Schüler sich die Filmchen auf dem eigenen
PC ansehen kann.
Eindrucksvoll auch das "Lärmometer". Nachdem man
eine Grundeinstellung vorgenommen hat, kann man die Lautstärken unterschiedlicher
Schallquellen "genießen" – in Stereo. Der normalhörende User wird
spontan zum Lautstärkeregler greifen, wenn er Presslufthammer oder Düsenflugzeug
aktiviert hat.
Auch die Simulation von Schalleitungs- und Schallempfindungsschwerhörigkeit
im Vergleich zum normalen Gehör ist für den Laien, den normalhörenden Schüler
und seinen Lehrer, – und für ihn ist die CD ja gedacht – sehr erhellend.
Die Unterrichtseinheiten im Bereich Schule bieten konkrete
Hilfestellungen für die Gestaltung des Themas im Unterricht. Ein Video "Unterricht
an einer allgemeinen Schule" soll die Situation einer hörgeschädigten
Schülerin in der Regelschule darstellen. Per Lautstärkereduzierung wird verdeutlicht:
"So empfindet der Hörgeschädigte den Unterricht". (Unterrichtsthema:
Funktion des Hörorgans. So ein Zufall!) Außerdem werden einige kapitale Fehler
des Lehrers in bezug auf die hörgeschädigte Schülerin demonstriert:
Aber natürlich werden auch "Die 8 wichtigsten Verhaltensregeln
für die Kommunikation mit Hörgeschädigten" aufgezeigt (gut artikuliert
sprechen, Antlitzgerichtetheit, Blickkontakt usw.). Diese Regeln kann man
sich ausdrucken lassen. Auf dem Bildschirm werden sie in Form von Animationen
à la Comic dargestellt. Bei „Kurze und klare Sätze“ fliegen der Comicfigur
dann „ !A !B“ im Gegensatz zu "A,C,B;;;D,G" um die Ohren. Ob das
wirklich zur Verdeutlichung beiträgt? Und wenn zur Regel "nicht schreien"
ein riesiges A den Hörgeschädigten köpft, drängt sich die Frage auf, ob hier
die Animationen nicht zur puren Effekthascherei verkommen. Zumal die CD von
der Gestaltung und den Formulierungen der Texte her sicherlich nicht unter
der gymnasialen Oberstufe eingesetzt werden kann. Was sollen da diese kindischen
Animationen!
Im Prinzip hilfreich sind die Vorlagen, die über ein Extramenü
in einen Internetbrowser geladen werden. Man wünschte sich nur, dass sie ein
wenig aktueller wären. Zum Thema "Hörgeräte und Hörhilfen" wird
doch tatsächlich ein Plakat des Diakonischen Werks von 1988 angeboten. Das
in einer Zeit, wo doch die technische Entwicklung so rasant ist, alle Welt
von digitalen Hörgeräten schwärmt und die Miniaturisierung immer weiter fortschreitet.
Ein IdO-Gerät kommt folglich auf dem Plakat nicht vor, statt dessen ein altes
Taschengerät. Knopf im Ohr, Kabel am Kragen, so wie man es aus den sechziger
Jahren noch kennt. Solch ein Erbstück liegt bei mir noch im Schrank. Ich mag
es nicht einmal mehr in Sammlungen für Notstandsgebiete geben. Und hier wird
es Regelschülern als "Technik für Hörgeschädigte" präsentiert!
Das alles mag schon befremdlich wirken bei einer Produktion,
die den Anschein der neutralen Wissenschaftlichkeit erweckt. So richtig schlimm
wird es aber erst, begibt man sich in den Bereich Soziales auf der CD. Neben
den Unterabteilungen Früherziehung und technische Hilfen (s.o.!), die zweifellos
wichtig, aber leider nur als "Buch auf dem Bildschirm" abgehandelt
werden, tauchen die Rubriken "Hörschädigung als Lebensbeeinträchtigung"
und "Psychosoziale Auswirkungen" auf.
In der Rubrik "Hörschädigung als Lebenserschwerung"
werden aufgelistet: das Gespräch, Einschränkung der Umweltkontrolle, Einschränkung
der Sprachwahrnehmung, Freizeit, der Beruf und Straßenverkehr. Bei den "psychosozialen
Auswirkungen" gibt es natürlich auch nur: Ausfälle - die Alarmierungsfunktion,
die Orientierungsfunktion, die Kommunikationsfunktion und die soziale und
emotionale Wahrnehmungsfunktion.
Da kommt man als Hörgeschädigter schon ins Grübeln, was
es im eigenen Leben denn wohl noch an positiven Dingen gibt. Solch eine geballte
Ladung an Defiziten, Problemen und Ausfällen! Und anscheinend nichts Positives!
Aber da kommen doch Betroffene zu Wort, ganz authentisch. Schwerhörige allerdings
nur, und (fast) ausschließlich Akademiker. Sie werden interviewt zu Fragen
wie "Was macht die Hörschädigung mit Ihnen, innerlich?" – und das
beim Thema Beruf. Oder "Die Schwerhörigkeit kann man ja nicht sehen,
erzähl doch mal was drüber!" So kann man natürlich mit der Fragestellung
die Richtung vorgeben, und folgerichtig berichten die "Betroffenen"
überwiegend von leidvollen Erfahrungen.
Fazit
Auf der CD befinden sich einzelne brauchbare multimediale
Materialien. Auffällig ist jedoch die schon anfangs bemerkte ideologische
Einseitigkeit. Durchgängig herrscht eine Stimmung des Lamentierens über Defizite
und Probleme, Gestörtes und Schwächen. Hörgeschädigte sind eben Minusmenschen,
das Hörenkönnen ist das allerhöchste Gut. Wer bisher nicht wusste, was unter
dem Begriff Audismus zu verstehen ist, der hat mit dieser CD ein kaum zu übertreffendes
Anschauungsmaterial. Da die Autoren dieser CD Fachkollegen aus
Stegen
sind, ist kaum anzunehmen, dass ihnen nicht bekannt ist, dass es eine Gebärdensprache
gibt,
dass Gehörlose eine eigene Kultur-
und Sprachgemeinschaft sind, dass es im sportlichen Bereich Weltspiele der
Gehörlosen gibt, ein
Deutsches
Gehörlosentheater, Gebärdenfestivals,
Filme
mit Untertiteln,
Dolmetscher,
Internet-Chats usw. usw. Auch für den auf der CD bevorzugten Bereich der
Schwerhörigen
trifft dies sinngemäß zu. Keine Rede auch von den politischen Zielsetzungen
Hörgeschädigter. Und das in Hessen, dem Bundesland, in dem die Gebärdensprache
auf parlamentarischer Ebene erstmals anerkannt wurde!
Vielleicht fehlt den Autoren der Bezug zur Realität, sonst
müssten sie wissen, dass das Leben Hörgeschädigter durchaus nicht nur von
Defiziten und Problemen geprägt ist und dass es eine Vielzahl von Aktivitäten
und Veranstaltungen gibt, bei denen sie nicht weniger Lebensfreude empfinden
als Hörende. Wenn ein solch wesentlicher Bereich der Lebensrealität Hörgeschädigter,
nämlich die positive Seite der Medaille, völlig ausgeblendet wird, dann kann
diese CD ihrem eigenen Anspruch, nämlich in der Gesellschaft für bessere Kenntnisse
über und größeres Verständnis für die Minorität der Hörgeschädigten zu sorgen,
nicht gerecht werden. Im Gegenteil, sie sorgt gezielt für Desinformation,
indem sie zwar nichts Falsches darstellt, aber die Hälfte der Wahrheit unterschlägt.
Sicherlich hatten die Geldgeber vom Paritätischen Wohlfahrtsverband keinen
Einblick in diese Problematik. Immerhin hatten sie ja "Fachleute"
beauftragt. Die "Informationen und Unterrichtshilfen für allgemeine Schulen"
in der jetzigen Form sollten besser von Laien ferngehalten werden, da sie
kaum in der Lage sein dürften, Gutes auszuwählen und Fehlendes zu ergänzen.
Bleibt nur zu hoffen, dass, wie zugesagt, bei einer zweiten Auflage der CD
die gravierenden Mängel behoben werden.
Bernd Rehling
Fax: 04251 7406