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Interview mit Martina Bergmann
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift DAS ZEICHEN
DZ: Martina,
herzlichen Glückwunsch! Seit einigen Wochen steht unumstößlich fest, dass
deine ABM-Stelle, die du zur Zeit noch innehast, im nächsten Jahr in eine
unbefristete Anstellung umgewandelt wird. Somit bist du die erste Gehörlose,
die eine Anstellung auf Dauer in einem Museumspädagogischen Dienst erhält,
um Führungen für Gehörlose in Deutscher Gebärdensprache anzubieten. Wie ist
dieser Erfolg möglich geworden? M.B.: Zunächst war das Ganze überhaupt nicht
geplant, ich bin da einfach so reingerutscht. Ich hatte schon immer Interesse
an Kunst und habe mich von klein auf mit Kunst beschäftigt. Zunächst hatte
Herr Sello hier an der Kunsthalle in Hamburg - er ist der Leiter der Pädagogischen
Abteilung der Kunsthalle - die Idee, Führungen von Gehörlosen selbst durchführen
zu lassen. Führungen mit Dolmetscher gab es ja schon aufgrund des Engagements
von Angela Müller, die auf einer ABM-Stelle den Zugang von Behinderten zu
Museen verbessern sollte. Damals habe ich von einigen Gehörlosen erfahren,
dass derartige Führungen tatsächlich so drei bis vier Mal im Jahr stattgefunden
haben. Und dann ist die Idee entstanden, diese Führungen
anders aufzuziehen. Vertreter vom Hamburger Gehörlosen-Verband, anderen Behinderten-Verbänden
und der Gehörlosen-Schule wurden von der Pädagogischen Abteilung zu einem
Treffen eingeladen. Gemeinsam wurde überlegt, was machbar ist, und Herr Sello
hat seine Vorstellungen dargelegt. Er hat erzählt, dass er sich für die Zukunft
vorstellen könnte, für verschiedene Behindertengruppen Führungen anzubieten.
Der Vertreter des Hamburger Gehörlosen-Verbandes
war zu diesem ersten Treffen nicht gekommen. Nichtsdestotrotz war Herrn Sello
bekannt, dass es im Louvre in Paris spezielle Führungen von Gehörlosen für
Gehörlose gibt, und er hatte die Idee, dieses Modell eventuell auf Hamburg
zu übertragen.
DZ: Wann
war das? M.B.: Das war 1994. Ein Problem war, dass es damals wie heute keine
Gehörlosen gab, die Kunstgeschichte studiert hatten. Allerdings war bei dem
ersten Treffen eine Vertreterin der Hamburger Gehörlosenschule dabei, die
ich persönlich kenne. Sie hat in dem Gespräch erwähnt, dass sie Kontakt zu
einer Gehörlosen hat, die vielleicht Interesse an solchen Führungen hätte.
Sie hat mir dann von diesem Gespräch erzählt. Zunächst war ich von dieser
Idee gar nicht so begeistert, weil ich dachte: Ich habe nicht studiert, wie
soll ich da eine Führung machen? Ich fand es generell spannend, mir Kunst
anzugucken, aber ich hatte überhaupt keine Erfahrung, wie man so etwas vermitteln,
wie man Führungen gestalten könnte. Und deshalb habe ich die Entscheidung
zunächst vor mir hergeschoben. Nach einigen Monaten hat dann aber eine Freundin
für mich bei Herrn Sello angerufen, wir haben ein Treffen vereinbart, ich
bin in die Kunsthalle gefahren, und wir haben uns zum ersten Mal darüber ausgetauscht,
wie diese Führungen überhaupt laufen könnten. So hat das damals angefangen.
Und dann habe ich tatsächlich im Januar 1995 die
erste Führung gemacht. Damals hatte ich ein komisches Gefühl. Ich kannte die
Leute nicht, und für die Gehörlosen war es auch eine neue Erfahrung. Als die
Führungen noch gedolmetscht wurden, waren ganz andere Gehörlose gekommen.
Bei meiner ersten Führung waren hingegen nur ganz wenige Gehörlose dabei.
Ganz, ganz langsam zeigten dann mehr Gehörlose Interesse, aber mein Ziel war
ja, dass ’Otto-Normal-Gehörlose' kommen sollten, weil gerade sie in der Regel
nicht besonders viel über Kunst wissen, und gerade für sie wollte ich Führungen
anbieten und ihre Neugier wecken. In
der Anfangszeit fanden neun Mal im Jahr Führungen statt und zwar immer donnerstags
abends - es war so ein bisschen wie ein Kurs für Gehörlose. Das Programmangebot
war unterschiedlich: Entweder haben wir uns Ausstellungen oder Teile fester
Sammlungen angeguckt. Mein Problem war
zunächst, wie ich den Stoff aufbereiten sollte. Mein ’Chef' hat mir ein paar
Tipps und sehr viel Material und Bücher gegeben, die ich dann mit nach Hause
genommen habe, so dass ich mich dort vorbereiten konnte. Zunächst war ich als freie Mitarbeiterin an der
Kunsthalle angestellt; das heißt, ich bin neun Mal im Jahr für die Führungen
von Nürnberg nach Hamburg gekommen. Im Winter und im Sommer gab es jeweils
eine Pause. Nach einiger Zeit kamen
immer mehr Führungen hinzu - zum Beispiel Führungen für Schulklassen der Gehörlosenschule
- und für mich wurde es zusehends mühseliger, so oft zwischen Nürnberg und
Hamburg hin- und herzupendeln, zumal die Fahrerei auch sehr viel Zeit in Anspruch
nahm. Nach zwei, drei Jahren habe ich zum ersten Mal überlegt, ob ich nicht
nach Hamburg umziehen soll. Dies war eine sehr schwere Entscheidung für mich,
weil ich in Nürnberg eine Arbeit hatte und mir unsicher war, ob ich meinen
sicheren Job aufgeben sollte, um nach Hamburg zu ziehen, wo es eh schon sehr
viele Arbeitslose gibt. Ich schrieb
etliche Bewerbungen, um in meinem erlernten Beruf - ich bin Technische Zeichnerin
- einen Job zu bekommen. Als sich dies als absolut aussichtslos erwies, bin
ich in Hamburg zum Arbeitsamt gegangen. Dieser Besuch war ein sehr wichtiger
Schritt, da ich zuvor keine wirkliche Vorstellung davon hatte, was überhaupt
laufen kann. Ich habe zunächst angegeben, dass ich Arbeit als Technische Zeichnerin
suche. Der Baubereich ist aber auch in Hamburg zurückgegangen, so dass es
keine Stellenangebote gab. Dann fragte
mich mein Sachbearbeiter, warum ich denn überhaupt nach Hamburg ziehen wollte?
Ich antwortete, zum einen aus privaten Gründen und zum zweiten, weil ich in
Hamburg Museumsführungen durchführe und mir diese Fahrerei von meinem Heimatort
nach Hamburg auf die Dauer zu anstrengend wird. Deshalb wollte ich mich erkundigen,
was es allgemein für Möglichkeiten für mich gibt. Als der Sachbearbeiter von
den Führungen hörte, wandte er ein, das sei doch eine sehr interessante Sache
und warum ich das denn nicht im Rahmen einer ABM-Stelle weitermachen könnte.
Naja, ich hatte ja damals in Nürnberg eine feste Stelle, und es machte wenig
Sinn für mich, nach Hamburg umzuziehen und meine feste Stelle gegen eine ABM-Stelle
einzutauschen. Da wäre ich ja spätestens nach zwei Jahren wieder arbeitslos,
und das war für mich zunächst undenkbar. Später hat sich das Arbeitsamt dann - zunächst
ohne mein Wissen - mit Herrn Sello in Verbindung gesetzt und ihm verschiedene
Vorschläge vorgetragen. Herr Sello fand die Idee, dass ich auf einer ABM-Stelle
bei der Pädagogischen Abteilung der Kunsthalle arbeiten soll, ganz toll, was
mich schon ziemlich erstaunte, denn ich war von dieser Möglichkeit nach wie
vor nicht überzeugt. Also habe ich die Entscheidung wieder vor mir hergeschoben
... Im Laufe der Zeit habe ich meine
Meinung dann geändert, bin innerlich aber immer skeptisch geblieben; ich habe
damals in Nürnberg im Stadtentwässerungsbetrieb gearbeitet, bin dort zum Personalrat
gegangen und habe erzählt, dass ich überlege, nach Hamburg zu ziehen, um dort
eine ABM-Stelle anzunehmen. Und so habe ich mich entschlossen, es einfach
auszuprobieren. Zum damaligen Zeitpunkt war ich bereits seit vier Jahren freie
Mitarbeiterin, und ich wollte nun versuchen, diese bisherige Tätigkeit im
Rahmen einer ABM-Stelle weiterzuführen. So würde ich mir auch noch andere
Sachen aneignen können, und vor allem könnte ich auch versuchen, noch mehr
auf die Bedürfnisse der Gehörlosen einzugehen bzw. neue Gruppen anzusprechen,
zum Beispiel auch gehörlose Senioren. Nach dem ersten ABM-Jahr bekam ich ohne Probleme ein zweites Jahr bewilligt.
So langsam wurde mir klar, dass der ganze Bereich, alles, was ich im Laufe
dieser zwei Jahre aufgebaut hatte, den Bach runtergehen würde, wenn sich nicht
rechtzeitig vor Ablauf des zweiten Jahres eine Lösung fand. Ich bekam Kontakt
zu einer Mitarbeiterin der Kulturbehörde, die sich gut im Gehörlosenbereich
auskennt, da sie auch im privaten Umfeld Kontakt mit Gehörlosen hat; sie kann
auch ein bisschen gebärden. Sie wurde zu einer sehr wichtigen Ansprechpartnerin
für mich und durch sie kam der Stein erst so richtig ins Rollen. Auch sie
war der Meinung, dass diese ganze Aufbauarbeit nicht nach zwei Jahren wieder
in sich zusammenstürzen darf. Allerdings musste sie etwas in der Hand haben,
das heißt, sie brauchte den Nachweis, dass die Gehörlosen tatsächlich ein
Interesse an meinen Führungen hatten. Und so schrieben alle möglichen Gehörlosen-
und sonstigen Fachverbände aus Hamburg und ganz Deutschland Briefe an die
Hamburger Kulturbehörde, wie toll und interessant doch dieses Angebot in Gebärdensprache
für die Gehörlosen sei! Auch einzelne Gehörlose haben sich, ohne dass ich
es wusste, an die Behörde gewandt. Diese Kampagne hat sicherlich den Ausschlag
gegeben, um der Hamburger Kulturbehörde vor Augen zu führen, dass diese ABM-Stelle
in anderer Form weitergeführt werden muss. Dass sie es schließlich eingesehen
hat, liegt sicherlich auch daran, dass diese Hamburger Behörde eine wirklich
offene Einstellung gegenüber Gehörlosen hat. In Nürnberg beispielsweise hätte
ich mir so was nie vorstellen können, die sind einfach ganz anders drauf.
Hier in Hamburg hingegen gibt es ein Interesse für Minderheitengruppen - meiner
Meinung nach schon traditionell verbunden mit einer Handelsstadt -, auch der
Gebärdensprache gegenüber ist man sehr positiv eingestellt. Dieses Verständnis
für Gehörlose ist sicherlich auch durch das Hamburger Institut für Deutsche
Gebärdensprache geweckt worden, das ja bereits seit einigen Jahren existiert.
Tja, und dann habe ich einfach riesiges
Glück gehabt: Die Hamburger Fachbehörden verfügen über einen begrenzten Pool
an Stellen für Schwerbeschädigte. Bei einer Überprüfung der Rentenbezüge stellte
sich heraus, dass ein Stelleninhaber zwischenzeitlich verstorben war. Diese
Stelle wurde sofort für mich reserviert. Und nun finanziert das Arbeitsamt
ein drittes ABM-Jahr, da seitens der Kulturbehörde die Zusicherung gegeben
wurde, mich im kommenden Jahr auf eine unbefristete, feste Stelle zu übernehmen.
Wie gesagt, ich habe riesiges Glück
gehabt, trotzdem denke ich aber auch, dass die Hamburger Behörden die Wichtigkeit
meiner Arbeit eingesehen haben, so dass die freigewordene Stelle umgehend
an die Kulturbehörde angegliedert wurde. Und somit war ich zur richtigen Zeit
am richtigen Ort, nachdem ich zuvor das Risiko auf mich genommen hatte, nicht
genau zu wissen, was in der Zukunft passieren würde und trotzdem meinen Weg
zu suchen und meine Interessen zu verfolgen.
DZ: Wie
erklärt sich dein persönliches Interesse für Malerei und Kunstgeschichte?
M.B.: Ich denke, das hat ganz klar was mit meinem Elternhaus und meiner Erziehung
zu tun - meine Eltern haben sich immer für Kunst und klassische Musik interessiert.
Mein Papa hat selbst gemalt, so als Hobby, aber er hat mich gar nicht so sehr
beeinflusst. Meine Mutter hat sich ebenfalls sehr stark für Kunst interessiert,
ist oft in Ausstellungen oder Sammlungen gegangen, und sie ist eine eifrige
Klavierspielerin. Und ich erinnere mich daran, dass wir, als ich noch klein
war, sonntags häufig ins Museum gegangen sind. Aber eigentlich war ich davon
nicht wirklich begeistert, sondern fand diese Museumsgänge eher langweilig
und hatte keine Lust. Aus heutiger Perspektive denke ich, dass sie dennoch
wichtig waren, um so eine Art Grundlage zu bekommen, um zu erkennen, dass
Kunst eben auch interessant sein kann. Damals wirkte in den Museen alles riesig
auf mich, wunderbar luxuriös. Im Vergleich dazu kam mir mein Zuhause klein
und piffig vor, im Museum konnte man rumlaufen, einen Kaffee trinken und Leute
beobachten. In meiner Erinnerung ist alles groß und weiträumig, aber die Kunst
an sich, die da rumhing, hat mich nicht sonderlich interessiert. Etwas später hat meine Mutter zum zweitenmal
geheiratet, und mein Vati, der zweite Mann meiner Mutter, hat mich nicht nur
auf künstlerischem Gebiet, sondern auch in anderen Bereichen stark beeinflusst.
Er ist mit mir sehr oft auf Flohmärkte gegangen, hat sich da umgesehen und
mich immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass nicht alles, was dort rumliegt,
Schrott ist, sondern dass es sich lohnt, genau hinzugucken, und dass man dann
Sachen aus ganz verschiedenen Stilrichtungen entdecken kann. Und mein Vati
hat auch ganz viel selber gemacht, Regale, Figuren oder Lampen. Dabei spielte
immer Stoff eine wichtige Rolle. Er hat einfach eine andere Sicht der Dinge
gehabt. Mit sieben war ich - in den 60er Jahren - in Essen
im Folkwang-Museum, das ist ein sehr interessanter Bau, der allein von der
Architektur her schon ziemlich außergewöhnlich ist. Der Innenraum war für
mich als Kind äußerst imposant und vor allem hingen dort jede Menge Bilder,
von denen mir viele gezeigt wurden. Alles lief in Lautsprache, das war zwar
total mühsam, so nach dem Motto: Jetzt guck mal her, nun guck dir das mal
an! - aber als Kind habe ich das nicht bewusst abgespeichert. Aber irgendwie
habe ich das wohl doch in mir behalten. Dann waren wir in Berlin, wo wir später
lebten, häufig im Museum. Für mich als Kind, als Jugendliche war das überwältigend.
Also, wenn ich jetzt so zurückschaue, dann denke
ich, war das schon eine starke Beeinflussung, die mich sehr geprägt hat. Früher
habe ich zwar immer gejammert, ich will das nicht, ich will lieber spielen.
Aber ich musste da halt mitdackeln. Meine Schwester musste auch immer mit.
Und meine Tante Karola hatte ein Möbelgeschäft,
in dem sie Bauhaus-Möbel und Design verkauft hat. Sie ist eine der wichtigsten
Personen, die mich beeinflusst haben. Das war so in den späten 60er Jahren,
daran erinnere ich mich auch noch. Es war nicht nur ein Möbelgeschäft, sondern
quasi auch so ein Dritte-Welt-Laden mit Kunst aus Südamerika, Afrika und Indien.
Durch diesen Laden habe ich auch viel kennen gelernt, allein auch ein Gespür
dafür bekommen, was es alles an Formen gibt. Es war halt kein einfacher konservativer
Laden mit schweren Möbeln, sondern eine ganz bestimmte Mischung aus kleinen
und größeren Objekten, Kelimteppichen und Bildern an der Wand zum Beispiel,
und eben diesen Bauhaus-Möbeln. In der
Schule ist zum Thema Kunst ja so gut wie gar nichts passiert. Die Lehrer haben
halt gesagt, ja, ihr müsst mal malen, dann haben alle irgendwie gemalt und
das war's dann. Da war keinerlei Hintergrund, der vermittelt wurde, überhaupt
nichts. Später in München auf der Realschule musste ich für die Prüfung im
Fach Kunsterziehung nicht nur malen, sondern mir auch Theorie aneignen. Ich
weiß noch, da hatte ich so einen Stapel Papiere, und ich musste alles Mögliche
über Romanik, Gotik, halt die wichtigsten Stilmerkmale der unterschiedlichen
Epochen auswendig lernen. Das war supertrocken, ich habe diese Texte gelernt,
aber ein Gefühl dafür oder ein wirkliches Verständnis, wie das aussieht, oder
auch, was damals geschichtlich passiert ist, darüber hatte ich überhaupt keine
Vorstellung. Dieser Unterricht hat uns Schülern nichts gebracht. Dabei hat
München doch so hervorragende Museen! Ich habe mich eigentlich nie bewusst auf Kunst
gestürzt, das lief immer so nebenher. Ab und zu habe ich mal privat ein Buch
gelesen und auch nachgefragt, wenn ich was nicht verstanden habe. Moderne
Kunst war für mich total unverständlich. Zum Beispiel Joseph Beuys, den guckt
man sich an und denkt: Was soll das denn? Mein Cousin Guido hat mich in dieser
Hinsicht sehr beeindruckt. Er ist ein paar Jahre älter als ich und war schon
immer ein verrücktes Huhn: Der hat sich echt immer die wildesten Sachen ausgedacht
und mich mitgezogen. Als ich 22, 23 war, war Guido in der Schweiz, in Basel,
und ich habe ihn dort besucht. Wir sind dann auch in das Basler Kunstmuseum
gegangen, dort gibt es einen Raum mit Werken von Joseph Beuys. Ich hatte zwar
von Beuys gehört und Sachen von ihm gesehen, aber als ich dort seine Sachen
sah, fand ich sie äußerst merkwürdig. Guido hingegen betrat den Raum und rief:
Ach, ich liebe Joseph Beuys! Und ich stand da und dachte, der gute Guido ist
mal wieder irre geworden. Am Boden lagen arme, kranke, kaputte Äste, mit Filz
umwickelt. Das Ganze sah eher wie in Papier eingepackte Baguettes aus, nur
dass es sich hier um Filz handelte, grauen Filz. Typisch für Beuys, nur konnte
ich damit überhaupt nichts anfangen, ich habe absolut nichts verstanden. Nichtsdestotrotz
war das für mich ein ganz wichtiger Start in die moderne Kunst, dank Guidos
Erklärungen habe ich begriffen, worum es eigentlich geht, dass moderne Kunst
nämlich einen stark komprimierenden Charakter hat, dass sie einfach das Denken
anregen will und dass es ganz wichtig ist, spontan auf die Sachen zuzugehen
und sie sich anzugucken. Beispielsweise diesen kaputten Ast in seiner Kaputtheit
wahrzunehmen und dass er durch den Filz geschützt wird. Und dann eben zu allem
eigene Bilder zu entwickeln. Das war eine ganz wichtige Erfahrung für mich.
Und nach wie vor finde ich seine Äußerung in Form eines Kunstwerks "Wer
nicht denkt, fliegt raus" ganz klasse.
Beuys ist ja im Zweiten Weltkrieg mit dem Flugzeug über dem Kaukasus
abgestürzt. Er wurde schwer verletzt gefunden, und zwar von ganz einfachen
Leuten, Nomaden. Sie haben ihn mit Fett eingerieben und in Filz gewickelt,
deshalb ist dieses Material für ihn später auch so wichtig geworden. Die Nomaden
haben für alles Mögliche Filz verwendet, für Zelte, für Kleidung und so weiter.
Beuys hat später wie gesagt viel mit Filz gearbeitet und dadurch auch seine
Erlebnisse verarbeitet. Dieser Besuch
des Basler Museums mit Guido war für mich eine Art Schlüsselerlebnis. Danach
bin ich mit einem neuen Verständnis und viel mehr Offenheit an Kunst herangegangen,
auch an moderne Kunst. Ich habe mir noch mehr Literatur dazu geholt und versucht,
mir nach und nach die verschiedenen Gebiete anzueignen. Und so ist es im Prinzip
bis heute. DZ: Bist du eigentlich manchmal stinksauer, dass dir nicht die
Möglichkeit offen stand, Kunstgeschichte zu studieren? M.B.: Bei mir war es
halt so wie bei allen Gehörlosen damals: Es war normal, dass Gehörlose nicht
studieren können, es gab kein Abitur für Gehörlose. Und damals hätte ich auch
sicherlich gar nicht den Mut für ein Studium gehabt. Eigentlich wusste ich
auch gar nicht, was ich nach meinem Realschulabschluss werden wollte. Archäologin
wäre mein Traumberuf gewesen, ich fand Geschichte schon immer gut und Geschichte
war auch mein stärkstes Fach in der Schule. Aber es war ja klar, dass ich
nicht studieren kann, die Lehrer hatten gesagt: Zum Studium braucht man Abitur,
also kam das für mich nicht in Frage. Geschichte hat mich privat immer sehr
interessiert, ich habe mir privat auch sehr viele Geschichtsbücher gekauft,
aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, Geschichte zu studieren und Kunstgeschichte
schon gar nicht.
DZ: Das
heißt, du empfindest es nicht unbedingt als Nachteil, dass du dir dein ganzes
Wissen autodidaktisch erwerben musstest? M.B.: Doch, ein bisschen habe ich
schon das Gefühl, weil ich halt viel nachholen muss. Auch wenn ich in meinem
Leben viel nebenbei erfahren habe, so gibt es sicherlich ganz, ganz viele
Sachen, die ich jetzt nachholen muss. Aber ob es wirklich ein Nachteil ist?
Ehrlich gesagt, bin ich mir da gar nicht so sicher. Manchmal finde ich es
auch ganz gut, nicht studiert zu haben. Der Kunstpädagoge Alfred Lichtwark
hat zum Beispiel gesagt, dass Leute, die Kunstgeschichte studiert haben, eher
so Theoretiker sind und alles bis ins kleinste Detail durchdringen wollen,
dass ihnen dafür aber manchmal Spontaneität und Lockerheit fehlen. Und dass
sie im Kopf ein bestimmtes Raster haben, welches sie auf Kunst anlegen. Und
das ist bei mir vielleicht nicht so, ich habe kein festes Raster im Kopf,
sondern gehe eher ein bisschen spontaner an die Sachen ran, was ja durchaus
auch ein Vorteil sein kann. Jetzt ist
es so, dass ich alles, was ich an Wissen für die Führungen nachhole, an die
Bedürfnisse der Gehörlosen anpasse. Das klappt bisher ganz gut.
DZ: Wie
bereitest du dich denn auf eine Führung vor? M.B.: Ich lese vorher sehr viele
Bücher. Wir haben hier in der Kunsthalle ja eine wahnsinnig große Bibliothek.
Ein Grundlagenwissen habe ich häufig, aber für spezielle Führungen muss ich
mir dann noch viel zusätzliches Wissen aneignen. Ich schreibe mir die wichtigsten
Punkte raus und versuche dann, das Ganze in Gebärdensprache zu übertragen.
Beim Übertragen von schriftlichem Wissen in Gebärdensprache muss ich dann
immer ein bisschen umdenken. Dann kann es auch passieren, dass Gehörlose bestimmte
Fragen stellen und Hintergrundwissen erfragen. Um hierauf entsprechend antworten
zu können, muss ich immer sehr gut vorbereitet sein. Deshalb überlege ich
mir auch schon vorher, was wohl für Fragen kommen könnten und versuche, Antworten
zu finden. In der Regel ist es ja so, dass Gehörlose kein Hintergrundwissen
haben, was mich manchmal auch ein bisschen traurig macht. Wenn ich beispielsweise
die Zeit "vor Christus" oder "nach Christus" erwähne und
dann die Frage kommt: Was heißt das denn? Häufig haben sie das entweder vergessen
oder in der Schulzeit nie etwas darüber erfahren. Oder es gibt ja auch bestimmte
Bezeichnungen für Epochen, bestimmte Kunststile, die in einer Zeit vorherrschend
waren, und die bestimmte Bezeichnungen haben, und das ist eine wichtige Hilfe.
Hierfür habe ich ein spezielles Info-Papier entwickelt, das an Gehörlose ausgeteilt
wird, und wo sie immer wieder nachlesen können, was unter Romanik zu verstehen
ist, was unter Gotik, wann die Renaissance vorherrschend war und so weiter.
Das ist so eine Art Orientierungshilfe, die ich für Gehörlose entwickelt habe.
DZ: Wie gehst du mit dem Problem nichtvorhandener Fachgebärden um? Ist das
tatsächlich ein Nachteil? M.B.: Das ist oft sehr schwierig. Meistens benutze
ich dann das Fingeralphabet, aber es ist natürlich sehr schwer, sich auf diese
Weise die Bezeichnungen zu merken. Einfacher ist es, wenn man das Schriftbild
sieht, dann vergisst man nicht, was es heißt. Es gibt ganz, ganz viele Fachbegriffe,
zu denen es noch keine Gebärden gibt. Teilweise versuche ich dann, selber
Gebärden zu erfinden, das heißt, ich überlege zunächst, was dieser Begriff
inhaltlich meint, und dann denke ich mir ein Gebärdenzeichen aus, das zu diesem
Inhalt passt. Bei Führungen benutze ich dann diese neuen Gebärden und gucke,
ob die Leute das verstehen beziehungsweise ich frage auch nach, ob sie mit
diesen Gebärden einverstanden sind oder nicht. Manchmal kommen wir dann auch
so in einen kleinen Austausch. Diese Fachgebärden müssten wirklich mal ernsthaft
gesammelt und auf eine CD-ROM gebrannt werden, so dass auch für diesen ganzen
Bereich ein Lexikon entwickelt werden könnte. Hierzu würde ich gerne mit ein
paar Leuten zusammenarbeiten.
DZ: Es
geht doch aber eigentlich nicht nur darum, neue Gebärden einzuführen, sondern
viel wichtiger ist doch, die Bedeutung zu vermitteln. Du hast eben erwähnt,
dass du dir teilweise neue Gebärden ausdenkst, nehmen wir jetzt beispielsweise
den Begriff "Gotik": Du denkst dir hierzu eine Gebärde aus und zeigst
sie während der Führung, aber dadurch wissen die Gehörlosen ja noch lange
nicht, was Gotik eigentlich bedeutet. M.B.: Ja, das stimmt, ich muss dann
erklären, warum ich mir gerade diese Gebärde für Gotik überlegt habe, dass
gotische Fenster beispielsweise sehr viel höher sind oder auch Gebäude insgesamt
sehr viel höher sind und auch sehr viel machtvoller. Die Leute damals sollten
zu den Kirchen aufschauen. Wenn ich dann derartige Erklärungen gebe, verstehen
sie in der Regel, worum es geht. Gestern wurde ich beispielsweise während
einer Führung gefragt, warum ich "Renaissance" so und nicht anders
gebärde. Da habe ich ihnen halt erklärt, dass die Renaissance eine Zeit des
Aufbruchs war, dass eingefahrene Gedankenbahnen verlassen wurden. Und dies
galt nicht nur für die Kunst, sondern auch für die Wissenschaft.
DZ: Worauf
legst du bei deinen Führungen besonderen Wert? M.B.: Für mich ist besonders
wichtig, dass die Leute den Inhalt verstehen, dass sie mitbekommen, was ich
ihnen erzähle. Dass es nicht so trocken ist. Dass ich meine Themen nicht nur
abhake, sondern dass wirklich ein Dialog entsteht. Ich möchte nicht, dass
es solche Formen wie damals in der Schule annimmt: Die Leute sitzen da, nicken
freundlich und sagen: Wie schön, jetzt haben wir wieder etwas dazugelernt!
Es geht nicht allein darum, etwas dazuzulernen, sondern mir ist wichtig, bei
Gehörlosen ein Gefühl für Kunst zu entwickeln, ein Interesse für Kunst zu
wecken. Nicht nur für alte, sondern eben auch für moderne Kunst. Dass sie
nicht mehr sagen: Igitt, ist das alles eklig - oder: Igitt, das will ich gar
nicht sehen, sondern dass sie eben auch moderne Kunst in der ihr eigenen Ästhetik
begreifen. Gerade moderne Kunst kann ja tatsächlich eklig sein, dann gilt
es, diese Ekligkeit und Hässlichkeit zu verstehen, sie zu akzeptieren und
für sich zu verarbeiten. Hierfür ist natürlich ein gewisses Hintergrundwissen
vonnöten. Wie sieht die Gesellschaft aus? Wie sieht die Zeit aus, in der wir
leben? Welchen Veränderungen ist sie unterworfen, wie verändert sich die Welt?
Hierüber muss man einiges wissen, um Veränderungen, die ja auch in der Kunst
stattfinden, zu begreifen. Und dann
kann man eben auch in einen Dialog geraten beziehungsweise auch in eine politische
Diskussion, weil Kunst ja natürlich auch oft Kritik an politischen Verhältnissen
beinhaltet oder provozieren will. Manchmal
passiert es, dass Gehörlose, die kommen, überhaupt keine Ahnung von Kunst
haben, absolute Laien sind, aber dann während der Führung ganz spontane Sachen
erzählen. Das ist sehr wichtig für mich, weil ich eben nicht so etwas wie
eine stinknormale Schlossführung machen will, wo nur einer etwas äußert und
das bin ich, sondern dass sie jederzeit spontan ihre Meinung sagen können.
Manchmal haben sie Angst, sind unsicher, so nach dem Motto: Darf ich das?
Ist das richtig? Ist das falsch? Dann sage ich immer: In der Kunst gibt es
kein "Richtig" oder "Falsch", sondern jeder muss sich
seine eigenen Gedanken machen, seine Gefühle äußern und dabei geht es nicht
um "gut", "schlecht" oder "schwarz-weiß".
DZ: Wer
kommt überhaupt in deine Führungen? M.B.: Es gibt verschiedene Gruppen. Am
Anfang, während meiner vierjährigen Tätigkeit als freie Mitarbeiterin, waren
es größtenteils Erwachsene, also so 40-jährige Berufstätige, die donnerstags
abends bei den Führungen dabei waren. Jetzt
biete ich auch für gehörlose Schüler, für jüngere und ältere, Führungen an,
weil das für sie ein sehr wichtiger Erfahrungsprozess ist. Für mich selbst
natürlich auch, weil ich zunächst ja gar nicht wusste, wie eine derartige
Führung abzulaufen hat. Ich habe einfach alles ausprobiert, habe geguckt,
wie es klappt. Oft war ich selber aber auch unsicher und hab einfach nur beobachtet,
wie die Leute reagieren und anhand der Reaktionen habe ich gesehen, ob es
gut oder schlecht war. Bei den Schülern war es besonders wichtig zu gucken,
wie sie spontan reagierten und was sie spontan sagten. Da kam super viel,
aber es war sehr wichtig. Bei den Älteren läuft es wieder ganz anders, das
heißt, wichtig ist, sich an die jeweilige Gruppe anzupassen. Und als ich die ABM-Stelle bekam, hab ich mir
überlegt: Okay, was fehlt? Es gibt die Kinder und Jugendlichen von der Gehörlosen-schule,
es gibt die Erwachsenen, und es gibt die Senioren, die sich auch bei mir gemeldet
haben. Die meinten dann aber: Ich möchte nicht abends unterwegs sein müssen,
das ist mir zu spät, da ist es schon dunkel. Mir wäre vormittags lieber. Okay,
habe ich gesagt, alles klar, dann machen wir vormittags eine Veranstaltung
für Senioren. Zu diesen Führungen kommen manchmal auch Gehörlose, die vormittags
nicht arbeiten müssen, weil sie arbeitslos sind oder Schichtarbeit machen.
Ich denke, in der Zukunft werden sich
noch verschiedene neue Gruppen herauskristallisieren, zum Beispiel auch Gehörlose
mit einem Usher-Syndrom. Die können an normalen Führungen nicht teilnehmen,
weil ich dann viel zu schnell gebärde und auch viel zu entfernt stehe. Deshalb
werde ich spezielle Führungen für sie anbieten, bei denen ich langsamer gebärde,
näher dran bin und ihnen auch mehr Zeit lasse, um sich die Bilder oder Kunstwerke
in Ruhe anzusehen. Ich habe auch schon
angefangen, mit einer Gruppe arbeitsloser Jugendlicher ins Museum zu gehen.
Jugendliche, die nichts zu tun haben, und für die ich nachmittags eine Gruppe
anbiete. Und dann eben auch eine Gruppe für Kinder, die vielleicht Lust haben,
nachmittags zu malen. Hörende Kinder kommen ja schon nachmittags hierher und
nehmen an Malkursen teil, die vom Museumsdienst angeboten werden. So eine
Malschule könnte man natürlich auch für gehörlose Kinder anbieten. Auch gehörlose
Kinder denken ja bei einigen Bildern, die sie hier in der Kunsthalle sehen:
Das geht doch ganz einfach, das kann ich auch! Und wenn man dann sagt: Mach
doch mal!, dann merken sie ganz schnell, dass es ja doch nicht so einfach
ist: Wie macht man das denn? Und woher kriegt man denn die Ideen?
Für solch eine Malschule kämen natürlich nur kleine Gruppen in Frage.
Oder man könnte sich auch einem Malkurs mit hörenden Kindern anschließen,
für die ich dann gebärden würde. Und nach außen hin ist natürlich Öffentlichkeitsarbeit
ganz, ganz wichtig. Man kann ja auch auswärtige Gruppen nach Hamburg holen:
Sie reisen am Wochenende an und nehmen an Führungen teil, die ich am Samstag
oder am Sonntag anbiete. Oder Studierende vom Institut für Deutsche Gebärdensprache,
die Gebärdensprache lernen wollen, können ja auch an Führungen teilnehmen.
Kurzum: Es gibt schon ganz viele Gruppen
und in Zukunft werden es sicherlich noch mehr werden. Aber mir ist da noch was zum Thema "Interesse
für Malerei und Kunstgeschichte" eingefallen. Ich habe ja vorhin schon
erzählt, dass ich mit meinem Cousin Guido im Basler Kunstmuseum war. Neben
den Werken von Beuys erinnere ich mich an einen Raum, der mich besonders beeindruckt
hat: Er war sehr groß, ganz einfach, und dort hingen drei riesige Bilder von
Mark Rothko, gegenstandslos, in ganz eindrucksvollen Farben gemalt, orange,
braun, sanft gelbrot. Diese Bilder hatten einen ganz irren Einfluss auf den
Körper, sie strahlten eine ganz große Ruhe aus. Als ich sie mir anguckte,
war es für mich, als ob Musik von ihnen ausginge, Musik, die man über die
Augen wahrnimmt, und die den Körper beeinflusst, auf die man körperlich reagiert.
Wir saßen in der Mitte des Raums auf dem Boden und ich hab diese Gemälde einfach
auf mich wirken lassen, und Guido meinte dann: Siehst du, man muss Bilder
gar nicht immer erklären, sondern sie einfach auf sich wirken lassen. Für
mich war das eine ganz tolle Erfahrung: Man muss Kunst nicht erklären, man
muss Kunst fühlen, man muss Kunst wahrnehmen. Man muss sie auf sich wirken
lassen. Wären das jetzt ganz kleine Bilder gewesen, hätten sie wahrscheinlich
gar nicht auf mich gewirkt, aber dadurch, dass sie so überdimensional groß
waren, hatten sie halt eine ganz irre Wirkung, und da habe ich zum ersten
Mal wirklich so eine Ahnung gekriegt, was Kunst eigentlich sein könnte.
DZ: Gut, jetzt spring ich gleich zu einer anderen Frage, die passt gerade so schön: Kunst von Gehörlosen - fühlt man die auch, fühlt man die anders? Siehst du Kunst von Gehörlosen anders als Kunst von Hörenden? M.B.: Das ist schwer zu sagen, ich bin da ganz vorsichtig. Ich möchte nicht sagen, dass die eine schlechter oder die andere besser ist. Ich glaube, dass Kunst eine beruhigende Wirkung haben kann, also ein Ausgleich sein kann, so wie vielleicht andere Leute abschalten können, wenn sie an ihrer Modelleisenbahn rumbasteln. Ich erinnere mich, dass beispielsweise die Ausstellung von gehörlosen Künstlern auf den Kulturtagen, dass die dort gezeigten Bilder alle einen bestimmten Schwerpunkt hatten und das war die eigene Gehörlosigkeit. Dass gehörlose Künstler ein derartiges Schwerpunktthema haben, finde ich gut und richtig. Nichtsdestotrotz fehlt mir da auch was: Mir fehlen Kreativität, Ideen, außergewöhnliche Formen, diesbezüglich gibt es da einfach noch nicht viel. Es gibt einige gehörlose Künstler, die wirklich technisch ganz perfekt malen können, aber da fehlt der Hintergrund, das heißt, ich bin mir nicht sicher, mit welchem Ziel sie malen, was sie mit ihren Bildern aussagen wollen. Sie sehen schön aus und haben eine schöne Wirkung, man braucht nicht viel zu denken, aber das reicht nicht, mir fehlt einfach so ein bisschen die Entwicklung neuer Ideen, von Provokation, neuer Formen. Aber das ist natürlich nur mein Eindruck, mein Gefühl oder auch mein privater Geschmack. Mit anderen Worten: Ich kann nicht sagen, dass Kunstwerke von Gehörlosen mich besonders beeindruckten oder eine besondere Wirkung auf mich hätten. Ich denke, da muss man einfach noch ein bisschen abwarten, was die Zeit so bringt, was da noch so kommt an gehörlosen Künstlern. Vielleicht ja auch schon bei den Dritten Deutschen Kulturtagen der Gehörlosen. Ich glaube, dass dieser Bereich noch ganz, ganz neu ist für Gehörlose und dass das ein Prozess ist, der noch am Anfang steht. Natürlich gab es auch früher schon gehörlose Künstler, aber das waren mehr so Landschafts- und Historienmaler, die ihre Maltechniken perfektioniert und realistische Abbildungen geliefert haben. Von ihnen kamen keine wirklich neuen kreativen Ideen, ich denke, das ist eine Frage der Zeit, da muss man einfach gucken, was die Entwicklung in den nächsten Jahren und Jahrzehnten so bringt.
DZ: Du
hast gerade schon die Dritten Deutschen Kulturtage der Gehörlosen in München
erwähnt. Du wirst dort ja auch einige Veranstaltungen anbieten, kannst du
dazu irgendwas verraten? M.B.: Ja, unter anderem werde ich eine Führung für
Kinder machen, die auch einen Malkurs umfasst. Das ist für mich ein ganz wichtiger
Punkt. Bei hörenden Kindern ist es ja nichts Besonderes, dass deren Eltern
sie in eine Malschule schicken. Aber bei gehörlosen Kindern kommen die Eltern
wohl nicht unbedingt auf die Idee. Und das möchte ich ändern. Ich möchte auch
diesen Kindern einfach eine Idee dafür geben, was Malerei sein kann. Und ich
möchte den Eltern zeigen, dass es vielleicht eine gute Idee sein kann, ihre
gehörlosen Kinder in eine Malschule zu schicken. Natürlich ist hierbei der
Wohnort ein Problem: Wenn die Kinder in einer Großstadt wohnen, wie München,
Köln, Hamburg oder Berlin, dann geht das natürlich, aber in kleineren Städten
oder auf dem Dorf gibt es keine derartigen Angebote.
Mir ist es wichtig zu zeigen, dass man gehörlosen Kindern über Gebärdensprache
ein Gefühl für Kunst vermitteln kann. So dass sie sich später vielleicht auch
in diese Richtung selber weiterentwickeln können. Ich finde, es ist ganz wichtig,
den Eltern zu zeigen, dass es möglich ist und den Kindern dadurch eine Chance
zu geben, so was machen zu können. Und ich denke, dass die Möglichkeit in
München eine sehr gute ist: Ich werde die Führung in der Neuen Pinakothek
machen, was ich sehr spannend finde, weil die gehörlosen Kinder dort beobachten
können, dass auch hörende Kinder Malkurse in Museen machen und dort selber
alles ausprobieren. Das würde ich den gehörlosen Kindern gerne als Vorbild
zeigen. Diese tolle Idee stammt übrigens von einem gehörlosen Ehepaar, das
mich gebeten hat, so etwas anzubieten, und ich habe das aufgegriffen. Meistens finden Veranstaltungen für Gehörlose
ja im Clubheim statt, da wird dann ein bisschen gemalt. Aber ich finde, dass
die Atmosphäre da überhaupt nicht stimmt. In einem realen Museum ist es viel
besser, da herrscht die entsprechende Atmosphäre, da sind riesig große Bilder,
und das ist ganz wichtig, um die Kinder zu motivieren. Und man kann dort viel
mehr erklären, meistens ist es ja so, dass die Kinder schnell was malen, aber
in einem Museum kann man halt auch auf die Bilder, die dort hängen, verweisen
und zeigen: Guck doch mal hier, und siehst du, was für Elemente dort enthalten
sind - und das ist eine sehr viel bessere Chance, als wenn man in ein Clubheim
geht, wo nichts ist, das man als Vorbild nutzen kann. In einer weiteren Veranstaltung im Rahmen der
Kulturtage werde ich meine hiesige Arbeit vorstellen. Und dann werde ich noch
eine Führung für gehörlose Jugendliche anbieten. DZ: Du hast vorhin ja schon
erwähnt, dass es im Louvre in Paris auch Führungen für Gehörlose gibt. Bestehen
eigentlich auf internationaler Ebene schon Kontakte zu irgendwelchen anderen
Museumsdiensten? M.B.: Bisher noch nicht, aber darum werde ich mich jetzt
kümmern. Ich habe erfahren, dass es im Metropolitan-Museum in New York einen
älteren gehörlosen Herrn gibt, der Führungen in Gebärdensprache macht, die
darüber hinaus für Hörende gedolmetscht werden. Das finde ich ganz interessant,
von derartigen Führungen hatte ich zuvor noch nie gehört. Im Guggenheim-Museum
in New York gibt es auch Führungen für Gehörlose. In beiden Museen sind es
freie Mitarbeiter. Wie es in Skandinavien oder beispielsweise auch in London
aussieht, weiß ich nicht. Ich fände es schon ganz wichtig, auf internationaler
Ebene Kontakte zu knüpfen, damit man sich austauschen und vor allem auch sehen
kann, wo sich was entwickelt.
DZ: Wenn
du weltweit die Möglichkeit hättest, in irgendeinem Museum eine Führung anzubieten,
welches wäre das Museum deiner Wahl? M.B.: Im Moment wäre das sicherlich die
Tate Modern Gallery in der Mitte von London, dieses Museum wird jetzt gerade
eröffnet. Das riesige Gebäude ist ein altes Kraftwerk, das viele Jahre lang
brachgelegen hat. Und jetzt ist man halt auf die Idee gekommen, es zu renovieren
und zu einem Museum umzubauen. Es ist ein Museum für moderne Kunst.
Oder im Guggenheim-Museum in New York oder im San Francisco Museum
of Modern Arts wegen der Lage bzw. der Architektur würde ich auch gerne eine
Führung machen. Aber nun ja, man kann viel träumen und viele Ideen haben.
Momentan steht für mich das Londoner Museum auf jeden Fall an erster Stelle.
Vielleicht ergibt sich ja die Möglichkeit, mit einigen interessierten Gehörlosen
dorthin zu fahren. Aber auch die Eremitage in St. Petersburg will ich nicht
vergessen, weil dort eine der wichtigsten Sammlungen der Welt ist, die Katharina
die Große trotz der Armut Russlands von Friedrich dem Großen gekauft hat.
DZ: Um
noch mal auf deine Führungen hier in Hamburg zurückzukommen: Gibt es eine
spezielle Führung, die sich aus irgendeinem Grunde in deine Erinnerung eingegraben
hat? M.B.: Also, am Anfang waren meine Führungen wirklich grauslig. Ich war
irre aufgeregt und habe ständig den Faden verloren. Es war aber für mich wirklich
ein Prozess, in jeder Führung darauf zu achten, wie die Leute reagieren. Ständig
habe ich mich gefragt: Habe ich das gut erklärt, habe ich das gut erläutert?
Es war nicht einfach, den Stoff zu vermitteln, gerade auch im Zusammenhang
mit moderner Kunst. Toll war für mich, wenn die Leute untereinander ein Gespräch
anfingen. Viel später zum Beispiel bei den Werken von Reiner Ruthenbeck. Dessen
Objekt-Arbeiten zu erklären, ist ziemlich schwer, aber die Führung war super,
weil die Leute ganz viel diskutiert haben, auch untereinander, und das hat
mich irre gefreut, und es hat total viel Spaß gemacht. Oder zum Beispiel auch
die Ausstellung "Hypermental" hier in der Galerie der Gegenwart.
In dieser Ausstellung werden unter anderem Fotos von Vally Export gezeigt,
aus den 60er und 70er Jahren. Beziehungsweise eigentlich sind es keine Fotos,
sondern Stills aus einem Video: Eine Frau zieht auf der Straße einen Mann
an einer Hundeleine hinter sich her. Und die Leute, die da zugucken, sehen
zum Teil ärgerlich, ja wütend aus, andere sind eher belustigt. Das, was da
gezeigt wird, ist wirklich so ein Spiegel der Gesellschaft. Für mich war interessant,
wie die Gehörlosen auf diese Bilder reagieren. Manche haben gelacht, und ich
habe sie dann gefragt: Ja, sag doch mal was dazu, warum ist das witzig? Ich
wollte sie jetzt nicht wirklich provozieren oder bloßstellen, aber ich musste
sie schon ein bisschen anpiken, damit sie überhaupt reagieren: Stell dir doch
mal vor, deine Frau dackelt derart mit dir durch die Straße. - Und da haben
sie überhaupt erstmal angefangen nachzudenken, wie es wohl wäre, in einer
derartigen Situation zu sein. Und das ist für mich halt eine schöne Erinnerung,
so ins Gespräch zu kommen.
DZ: Wie
ist denn dein Austausch hier mit den übrigen Mitarbeitern an der Kunsthalle?
Soweit ich weiß, gibt es hier im Museumsdienst an die 50 freie Mitarbeiter,
die je nach Bedarf herangezogen werden. Bist du da so die außenstehende Exotin?
M.B.: Es gibt wenig Austausch. Die Leute sind sehr, sehr beschäftigt, wuseln
hier rum und sind schon wieder weg. Die meisten machen auch was mit Kindern
oder Jugendlichen, und ich hätte halt gerne einen Austausch mit den Leuten,
die Führungen für Erwachsene machen. Nur während Fortbildungsveranstaltungen
kann ich mich in Ruhe mit ihnen austauschen, mit ihnen reden.
DZ: Ist
im Zuge deiner Festeinstellung eigentlich gewährleistet, dass du einen bestimmten
Dolmetsch-Etat bekommst, damit du an Fortbildungen teilnehmen kannst? M.B.:
Ja, es gibt zum Beispiel Dolmetschstunden für Einführungen zu neuen Ausstellungen.
Kurz vor der Eröffnung der jeweiligen Ausstellung kommen Fachleute oder auch
der Kurator und erzählen, wie die Ausstellung gehängt wurde und was es zu
sehen gibt, erklären was zu den Bildern. Derartige Einführungen werden gedolmetscht.
Und es gibt Fortbildungen, an denen
ich teilnehme und die für mich gedolmetscht werden. Diese Veranstaltungen
sind allerdings eher pädagogisch ausgerichtet. Beispielsweise: Wie gehe ich
mit unruhigen Kindern um, die Museumsführungen eher langweilig finden.
Oder auch Veranstaltungen zur Öffentlichkeitsarbeit: Wie gestalte ich
Flyer oder Werbeprospekte. Dienstbesprechungen werden natürlich auch gedolmetscht.
DZ: Gibt
es Dinge, die du unbedingt noch realisieren willst, gerade auch, wo du jetzt
weißt, dass du eine Festanstellung erhalten wirst? M.B.: Eigentlich soll es
so weitergehen wie bisher. Allerdings kommen die Leute langsam auch auf die
Idee, sich die Dinge nicht nur angucken zu wollen, sie wollen sie auch in
der Praxis ausprobieren. Zum Beispiel verschiedene Drucktechniken oder auch
verschiedene Materialien zu erproben, also wirklich praktisch zu arbeiten,
diesen Bereich möchte ich noch weiter ausbauen. Hier möchte ich mich auch
noch selber fortbilden.
DZ:
Martina, ich wünsche dir noch viele spannende Führungen nicht nur in der Hamburger
Kunsthalle, sondern beispielsweise auch in der Tate Modern Gallery in London.
Vielen Dank für das Interview!