NEUE WESTFÄLISCHE NR: 84, SAMSTAG, 8, APRIL 2000

Stille Netz-Power

Mit dem Internet begann für Susan von de Leent-Sturhan ein neues Leben: Die Gehörlose konnte endlich mit der ganzen Welt kommunizieren. Jetzt hat die 22-Jährige ihre eigene Computerfirma, ist Cybergirl und sammelt Unterschriften

Von Susanne Hillens

Reinhold Beckmann will sie, Joy und Amica auch ‑ dem heimischen Stadtblatt und dem Stern war sie schon eine Story wert: Susan van de Leent‑Sturhan kann sich über mangelnde Aufmerksamkeit seitens der medialen Öffentlichkeit nicht beklagen.

Dabei ist es in ihrem Leben nie so verlaufen wie zwischen William Hurt und Marlee Matlin in dem Hollywood‑Epos „Gottes vergessene Kinder". Niemand hat ihr verliebt beim Wischen zugesehen und sich dann werbend um sie bemüht‑ ganz im Gegenteil.

Wenn sich Susan van de Leent an ihre Schulzeit erinnert, sagt sie nur einen Satz: „Ich bin durch die Hölle gegangen." Punkt. Ihre Hände formen in knappen, schnellen Bewegungen die Worte. Damals, in Bad Oeynhausen, wo die heute 22‑Jährige aufgewachsen ist, beherrschten selbst die Lehrer die Gebärdensprache nicht.

Heute, sagt sie, heute sei die Ausbildung zum Gebärdensprachenlehrer viel besser. Aber immer noch viel zu teuer. „Das gehört abgeschafft." Wieder so ein knapper Satz. Susan van de Leent weiß genau, was sie will und was nicht. Unverstanden von Eltern und Freunden, links liegen gelassen in Schule und Ausbildung, hat ihr Wille im Stillen die Schlagkraft eines Turbos erreicht.

Tagsüber kocht sie, die Nächte verbringt sie surfend am Computer

Mit dem Tag, an dem sie sich einen eigenen Computer kaufte ‑ und in dem Tempo, in dem das Internet die Welt eroberte, hat sich Susan van de Leent das Leben erobert. Webdesignerin wollte sie werden. Doch das Arbeitsamt sagt Nein. Mit den Noten und noch dazu gehörlos?

Also ging sie erstmal nach Osnabrück und machte eine Lehre als Köchin. In einem Betrieb, in dem niemand die Gebärdensprache sprach, musste sich die junge Frau wieder allein durchkämpfen. „Meine Stärke", sagt sie und ihre Hände machen eine deutliche Bewegung zu sich und ballt eine Hand zur Faust, „meine Stärke ist meine Kampfmoral." Tags–über kochte sie, die Nächte ver–brachte sie am Computer. „Da waren so viele Möglichkeiten zu kommunizieren und so viele In–formationen, die mir weitergeholfen haben." Alle technischen Details wie das Installieren und einrichten einer Cam‑Kamera bringt sie sich selbst bei. „Das Netz bietet doch alles. Es macht dich unabhängig von der Hilfe anderer. Das war wichtig für mich." Susan, die Autodidaktin.

In nächtlichen Sitzungen bastelt sich die Gehörlose ihre Auftritte im Internet. Eine Homepage allein ist ihr nicht genug. Sie stellt sich selbst ins Netz. Tag und Nacht läuft heute ihre WebCam. Sie zeigt ihre Wohnung, schweift übers Sofa und den Flur, streift den schwarzen Stafford-Terrier Joker, ihren vierbeinigen Lebensbegleiter. „Ich bin ein Cybergirl. Die Welt soll sehen, wie normal Gehörlose leben, und dass sie die gleichen Bedürfnisse haben wie andere Menschen auch."

Mikkel Valentino Kerkhoff, ein Freund, übersetzt Susans Gebärden beim Interview. „Sie hat in so kurzer Zeit so viel erreicht", sagt er zwischendurch, „sie hat jetzt ihre eigene Firma gegründet und ich bin sicher, dass sie bald ihre ersten Angestellten haben wird." Sofort funkt Susan mit den Händen dazwischen. Sie mag es nicht, wenn sich die Menschen ohne sie unterhalten. Obwohl sie einem alles von den Lippen ablesen könnte, wenn man etwas langsamer spricht.

Susans Internet‑Auftritt unter www.camgirl.de ist mehr als nur reine Selbstdarstellung. Sie will erreichen, dass die hörende Welt die Gehörlosen wahrnimmt. Von wegen Gottes vergessene Kinder. Susan vergisst niemanden. 600 Mails bekommt sie täglich ‑ „und ich antworte allen", sagt sie. Gehörlose, Verbände, Fans sind darunter, „aber auch Heiratsanträge und Perverse."

Die Vielfalt des Lebens, auf der Datenautobahn gebündelt. Und Susan ist endlich mittendrin. Name der Fanpage: www.cybergirl.de

Dass sie 500.000 Unterschriften im Internet sammeln will, um sie dann persönlich Bundeskanzler Gerhard Schröder in Berlin zu überreichen, damit endlich alle Filme im deutschen Fernsehen Untertitel kriegen, das hat die Medien der Nation bereits auf sie aufmerksam werden lassen. Ihr Ziel: 70 Prozent aller Beiträge und Filme müssen untertitelt sein. „Dafür gehe ich bis vor den Europäischen Gerichtshof." Stern, Hörzu, Amica, der SWR und Joy ‑ die Power und die Raffinesse, mit der sich die gehörlose Susan übers Internet in die Öffentlichkeit beamt, beeindruckt. „Spätestens im Oktober bin ich in Berlin", sagt sie selbstbewusst. Die Internet‑Seite für die Initiative Pro Untertitel hat sie natürlich auch selbst entworfen: www.ipu-online.de. Die erste Seite dazu gibts nächste Woche unter www.susiafly.com.

Ein kesses Insekt springt einem entgegen, wenn man dagegen auf ihr Online‑Magazin www.planetdeaf.de klickt. Hier bietet sie Gehörlosen ein Informations‑Forum, hier gibts Updates und Reportagen aus der Welt der Gehörlosen, hier soll bald mit Prominenten und Abgeordneten um die Wette gechattet werden. Planetdeaf 2000 heißt ihr neues Projekt ‑ eine Plattform für Gehörlose, europaweit. „Das wird die größte Community für Gehörlose", ist sich Susan sicher. Planetdeaf hatte bis Ende November täglich bis zu 3000 Besucher. Die Aktualisierung läuft.

Aber es sind auch die alltäglichen Dinge, an denen ein Gehörloser schier verzweifeln kann - „obwohl es so viele technische Möglichkeiten gibt", klagt Susan van de Leent an. Stationsansagen in Bussen und Bahnen, Aufrufe an Flughäfen, Infos von Banken ‑ Status‑Anzeigen mit Leucht-Schriften würden jedem Gehörlosen das Leben erleichtern.

Dass man die Ausbildung zum Gebärden‑Dolmetscher nur für teures Geld an deutschen Universitäten machen kann, ist der Pepsi‑Cola‑Liebhaberin auch ein Dorn im Auge. Die Gebärden-Sprach‑Ausbildung dürfe nicht nur für Studenten möglich sein - eine einfache Schulung für jedermann würde schon reichen, um Gehörlose bei Behörden und Ärzten zu übersetzen. Sagt die Taekwondo‑Schwarze‑Gurt‑Trägerin und handelt: Noch in diesem Jahr dreht sie ein Hand‑Talk‑Video. „Dann kann jeder unsere Sprache zu Hause lernen."

Mehr zumThema im Internet:

www.cyber‑girl.de

www.camgirl.de

www.planetdeaf.de

www.susiafly.com

www.ipu‑online.de

www.taubenschlag.de