Und es ist doch ein Vorteil gehörlos zu sein!

 

Unter Wasser haben Taucher Probleme, sich verständlich zu machen. Es sei denn, sie sind gehörlos.

 

Von Christian Vogler

Ich gebärde Sharon in ASL zu: "Ist alles in Ordnung?" Sie antwortet prompt: "Ja, es klappt schon viel besser als beim letzten Mal." "Prima", sage ich, "dann kannst Du diesmal alles sehen, was Du beim letzten Mal verpaßt hast." Plötzlich tippt mir wer auf die Schulter. Ich drehe mich um und sehe Shawn über mir, der mit Nachdruck mit beiden Zeigefingern hintereinander aufgereiht nach vorne zeigt. Dort sitzt Jackie, die schon ganz ungeduldig mit den Armen wedelt.

Der Ort befindet sich nicht etwa in einer Gehörlosenschule, sondern in einem See, 10 Meter tief unter der Wasseroberfläche. Shawns Ermahnung mit beiden Zeigefingern bedeutet unter Tauchern nichts anderes als "Folge mir" oder "in dieser Richtung." Frei übersetzt, "Paß gefälligst auf, was Jackie tut!" Jackie ist unsere Tauchlehrerin und demonstriert gerade unserer Gruppe, wie man eine Tauchermaske von eingedrungenem Wasser befreit. Unsere Gruppe besteht aus vier Hörenden und zwei Gehörlosen. Um sicher zu gehen, daß alle begriffen haben, was von ihnen verlangt wird, kritzelt Jackie ein paar Worte auf eine Plastiktafel.

Unter Wasser funktionieren die menschlichen Stimmbänder nicht, und Technik, die dieses Problem umgeht, ist für Normalverbraucher unerschwinglich. In anderen Worten, Hörende werden plötzlich in die Rolle eines Stummen zurückgeworfen. Taucher bedienen sich für die wirklich lebensnotwendigen Konzepte international standardisierter Handzeichen (zum Beispiel "Mir geht die Luft aus", "Alles klar", "Bereit zum Abtauchen?", usw.), aber über diese Konzepte hinaus bleibt ihnen nur der umständliche Griff zur Kritzeltafel.

Wieviel einfacher ist es da doch für Gehörlose, die sich der Gebärdensprache bedienen! Der gesamte Gedankenaustausch zwischen Sharon und mir, bevor wir von Shawn ertappt wurden, hat weniger Zeit in Anspruch genommen als Jackie für das Schreiben von nur drei Wörtern auf die Kritzeltafel benötigt hat! Und das trotz der Tauchermaske und Atemregler, die es einem unmöglich machen, Mimik und Mundbild zu sehen, und trotz der dicken Neoprenhandschuhe, die wir alle als Schutz gegen das kalte Wasser tragen.

Für eine Übung zum freien Schwimmen unter Wasser inklusive Höhenwechsel bekomme ich diesmal einen Hörenden als Partner (oder "Buddy" im Taucherlatein) zugewiesen. Wir sollen nebeneinander eine Strecke von 20 Metern von einem tiefergelegenen Punkt im Wasser zu einer höhergelegenen Plattform schwimmen, die im Wasser verankert ist. Es geht auch alles gut, bis ganz zum Ende der Schwimmstrecke, als sich plötzlich meine rechte Flosse verhakt. Vielleicht hätte ich doch ein klein wenig mehr Abstand zu den Seilen halten sollen, die die Plattform im Wasser verankern … Nicht, daß es sich jetzt jedoch um ein großes Problem handelt. Während mein "Buddy" sich auf der Plattform niederkniet, halte ich das Seil mit einer Hand fest und fummele die Flosse mit der anderen Hand heraus. Während ich dann ausatme, um mich vom Seil ebenfalls auf die Plattform abzusenken, schaut mein "Buddy" mich ganz verwundert an. Offensichtlich hat er nicht gesehen, was passiert ist.

Wohl wissend, daß er hörend ist, zeige ich erst auf meine Flosse, dann auf das Seil, und mache dann eine Hakenbewegung mit meinem Händen. Nichts. Er schaut mich nur groß an. Hm, das war wohl nichts. Ich probiere es nochmal, mit abgeänderten Handbewegungen. Nichts, außer daß seine Augen mittlerweile so groß wie Suppenteller sind. Herr, spende der Welt Hirn … Ich lasse mich auf die Plattform nieder, zeige erneut auf die Flosse und male mit meinem Zeigefinger groß auf die Holzplanken: "S N A G G E D" (was so viel wie "verhakt" bedeutet). Nichts. Können Augen tatsächlich so groß wie fliegende Untertassen werden? Ich gebe es auf.

Eine halbe Stunde später, nach dem Auftauchen an die Wasseroberfläche schwimme ich zu ihm hinüber und erkläre ihm, was los war. Er lacht und sagt, daß er wirklich nicht kapiert hat, was ich ihm unter Wasser eigentlich sagen wollte. Brauchen wir für die Unterwasserwelt ein umgekehrtes Antidiskriminierungsgesetz, das ein Benachteiligungsverbot für die der Gebärdensprache unkundigen Leute festlegt?

Der Vorteil der Gebärdensprache für Taucher ist letzlich auch der Grund, warum ich verückt genug war, einen Kurs mitzumachen: Unsere Lehrerin Jackie hatte sehr schnell erkannt, daß gehörlose Taucher ihren hörenden Kollegen gegenüber einen großen Vorteil haben, und daraufhin einen Gebärdenkurs belegt. Sowie sie damit fertig war, bot sie einen Kurs an, der speziell an Gehörlose gerichtet war. Praktischerweise sollte der Kurs ganz in der Nähe von dem Ort stattfinden, wo ich wohne, und damit war mein Schicksal besiegelt. Es war ein Angebot, das ich nicht ablehnen konnte.

Der theoretische Teil des Kurses und die Sitzungen im Schwimmbad fanden mit Gehörlosen unter sich statt, von Jackie und zwei Dolmetscherinnen einmal abgesehen (nach nur einem Kurs fühlte Jackie sich noch nicht sattelfest genug, um alles in ASL selbst zu erklären). Für die Trainingseinheiten in freien Gewässern waren Gehörlose und Hörende hingegen gemischt, da nicht alle Gehörlose am betreffenden Termin Zeit hatten. So blieben von den Gehörlosen nur Sharon und ich übrig und dazu noch Andrea, eine der beiden Dolmetscherinnen vom theoretischen Teil, die sich nach getaner Arbeit ebenfalls entschloß, einen Kurs mitzumachen …

Wir drei – Sharon, Andrea und ich – waren tatsächlich dann auch die einzigen Teilnehmer des Kurses, die stets genau wußten, was los war. Anders als den anderen Teilnehmern konnte Jackie uns immer gleich schnell und unproblematisch unter Wasser erklären, was als nächstes zu tun war. Sagte nicht da jemand, daß Gehörlose behindert seien? Ha. Unter Wasser ist es genau umgekehrt. Um so unverständlicher ist es, daß Gehörlose sehr viel mehr Papierkram als Hörende zu bewältigen haben, um überhaupt die Erlaubnis zum Tauchen zu bekommen.

Der Papierkram sollte allerdings niemanden davon abhalten, sich am Tauchen zu versuchen. Sporttauchen hat sich längst von einem exotischen Zeitvertreib zu einer Sportart für jedermann bei einigermaßen guter Gesundheit gemausert. Der Kostenaufwand ist in etwa mit dem Aufwand für Skifahren vergleichbar. Es gibt jedoch einen wesentlichen Unterschied: Mit einer entsprechenden Ausbildung und entsprechendem Verhalten ist Tauchen wesentlich ungefährlicher als das Skifahren. Selbst, wenn einem die Luft unter Wasser ausgeht, gibt es nicht weniger als fünf Möglichkeiten, mit der Situation fertig zu werden. Allen Darstellungen der Medien und der erforderlichen ärztlichen Erlaubnis zum Trotz: Mit einer Unfallrate von 0,003% bewegt sich das Tauchen in etwa in der gleichen Kategorie wie das Golfspielen.

Oder wie ein Aufkleber auf Jackies Auto sagt: "Erinnerst Du Dich noch an die guten alten Zeiten damals, als Sex sicher war und das Tauchen gefährlich war?"

Für die, die sich weiter über Tauchen und die damit verbundenen faszinierenden Möglichkeiten informieren möchten, sind folgende Links gute Anlaufpunkte:

Haben Sie Anmerkungen? Kritik? Schreiben Sie an den Autor: cvogler@gradient.cis.upenn.edu