Sehr geehrte Frau Prof. Szagun,
nachdem ich das Interview mit Ihnen über Ihre Studie und Ihr Buch "Wie Sprache entsteht" auf meiner Internetseite veröffentlicht habe, (hier das erste Interview) wurde Kritik an der Studie laut. Könnten Sie mir dazu noch ein paar Fragen beantworten? Ich möchte Ihnen Gelegenheit geben sich zu den Kritikpunkten zu äußern.
An Ihrer Studie kritisieren manche, dass die Stichprobe zu klein war, um eine allgemeine Aussage über die Sprachentwicklung machen zu können. Was sagen Sie dazu?
Für Untersuchungen im Spracherwerb ist eine Stichprobe von 2 mal 22 Kindern sehr viel. Wer das kritisiert, weiß wohl kaum etwas davon, wie arbeitsintensiv das Transkribieren (von der Tonaufnahme Aufschreiben) und Analysieren von spontanen Sprechdaten ist. Wir haben zwischen 10 und 22 mal zweistündige Stichproben spontanen Sprechens pro Kind. Für eine Stunde Transkribieren benötigt man zwischen 6 und 20 Stunden zum Transkribieren. Vorteil ist, dass man sehr vielfältige Daten in einer natürlichen Spielsituation hat und alle grammatischen Strukturen analysieren kann. Was das statistische Problem angeht, so kann man von 22 Personen sehr wohl verallgemeinern. Statistische Tests sind so angelegt, dass das Verallgemeinern von einer kleineren Stichprobe möglich ist. . Deswegen benutzen wir ja statistische Tests in der psychologischen Forschung. Den Anspruch auf Repräsentativität erhebe ich nicht. Das ist mit einer solchen Untersuchung nicht zu leisten. Allerdings habe wir mit unserer Zufallsstichprobe wohl Glück gehabt. Es ist nämlich kaum möglich, größere Unterschiede zwischen einzelnen Kindern im Spracherwerb zu finden als wir es bei diesen 22 Kinder gefunden haben.
Bedeuten denn Ihre Ergebnisse, dass das CI bei über 50% der Kinder nichts nützt?
Das bedeuten sie überhaupt nicht. Und das sage ich auch an keiner Stelle des Buches. Diese Kinder können ja - wenn auch eingeschränkt - hören und haben somit eine Sinneserfahrung, die sie sonst nicht hätten. Jedoch ist ja erklärtes Ziel der CI-Versorgung, dass die Kinder in die Lautsprache kommen. Wenn sie das nach drei Jahren Spracherwerb nur in geringem Maße tun, gibt es das Problem, dass die erhöhte Sensibilität für das Erlernen einer Muttersprache, die im Gehirn für eine gewisse Zeitspanne angenommen wird, nachlässt. Dann wird Sprache nicht mehr "natürlich" erworben. Wenn man aber in der Zeit eine Gebärdensprache anbietet, wird eine Grammatik erworben. Es schadet nichts, wenn ein Kind zweisprachig aufwächst, d.h. in diesem Fall mit gesprochener und mit Gebärdensprache. Dazu gibt es genug Erfahrungen in anderen Ländern, die weniger ideologisch an das Problem herangehen. Es ist aber Schaden für die intellektuelle und soziale Entwicklung möglich, wenn ein kleines Kind zu lange ohne ein voll funktionierendes Symbolsystem verbringt. Man kann mit der Zweisprachigkeit nicht verlieren.
Woran es liegt, dass manche Kinder nicht so gut in die Sprache kommen, wissen wir schlichtweg nicht. Ich habe einige Faktoren untersucht, und das ist dem Buch nachzulesen. Es gibt einen gewissen Einfluss des prä-operativen Hörens, sowie des Alters bei der Implantation (selbst bei diesen jungen Kindern), und auch der Sprache der Eltern. Aber diese Faktoren erklären die Unterschiede nur zu einem geringen Anteil. Ob die noch frühere Implantation das Problem löst in dem Sinne, dass Kinder, wenn sie als Babys ein CI bekommen, so sprechen lernen wie normal hörende Kinder, ist eine empirische Frage. Das muss man abwarten und dann allerdings mit angemessenen Methoden messen. Ich arbeite zusammen mit Kollegen in Belgien, wo dieser Frage mit angemessenen psycholinguistischen Methoden nachgegangen wird.
Können Sie mir die "angemessenen" Methoden näher erklären, und wo liegt der Unterschied zu den Methoden, die in Deutschland benutzt werden?
Angemessene Methoden sind die, die wirklich den Spracherwerb erfassen. Der Kern der Menschensprache ist die Grammatik. Kinder erwerben sie mühelos innerhalb von ca. drei Jahren - jedenfalls das meiste davon. Das macht den "natürlichen" Spracherwerb aus. Wenn man nur Wörter kann, ohne sie grammatisch verbinden zu können, kann man Sprache nur unvollständig und wird auch nicht verstanden. Wir brauchen Grammatik, damit wir unsere Sätze verstehen. Angemessene Methoden sind solche, die die Fähigkeit des Kindes messen, grammatische Äußerungen zu produzieren (mit oder ohne Fehler). Man kann dazu Spontansprache erheben oder, falls es Tests gibt, Tests durchführen. Für das Deutsche gibt es für kleine Kinder keine derartigen Tests. Nicht angemessen ist, wenn man Kinder Wörter oder auch Sätze nachsprechen lässt oder sie Wörter nach Bildern identifizieren lässt, und dann schlussfolgert, dass diese Kinder Sprache erwerben. Das Nachahmen von Wörtern und das Benennen von Bildern hat wenig mit Spracherwerb im Sinne von Grammatikerwerb, der essentiellen sprachlichen Fähigkeit, zu tun.
Sie erwähnen Studien, in die Sie involviert sind. Können Sie darüber mehr sagen?
Es gibt eine Studie, die ich zusammen mit israelischen Kollegen von der Hebräischen Universität Jerusalem durchführe. Dabei geht es um den Einfluss von häuslicher und Kindgartenumwelt auf die Rehabilitation von Kindern mit Hörgeräten, mit Cochlea-Implantat und mit normalem Hören. In Israel werden auch Unterschiede zwischen den Kindern, die nur Lautsprache erwerben und denen, die auch Gebärdensprache erwerben oder total communication erfahren, geprüft. Das geht in Deutschland nicht, da wir nur den Lautspracheweg haben.
Wie viele Kinder werden dort beobachtet?
Es werden 24 Kinder in jeder der drei Gruppen in jedem Land beobachtet. Es gibt dann noch zwei weitere Kooperationen. Die eine ist mit Kollegen in den USA. Es sind Mediziner, Ingenieure und Psychologen. In dieser Studie geht der Teil, an dem ich beteiligt bin, darum, genau herauszufinden, welche grammatischen Strukturen in den zwei unterschiedlichen Sprachen den cochlea-implantierten Kinder schwer fallen. Das ist wichtig, weil man dann weiß, wo man ihnen besonders helfen muss. Die andere Kooperation ist eine europäische mit Medizinern, Linguisten, Sprachtherapeuten, Hörgeschädigtenpädagogen und Psychologen. Hierüber möchte ich zur Zeit noch nichts sagen.
Könnten Sie sich vorstellen, in einer Studie mit 3 Gruppen Kindern zu arbeiten? Nämlich mit Kindern mit CI und hörenden Kindern und Kindern, die bilingual in DGS und Lautsprache, aufwachsen?
Ich allein sollte nicht mit Kindern arbeiten, die auch mit DGS aufwachsen, da ich diese Sprache nicht kann. In Kooperation kann ich mir das aber vorstellen.
Verehrte Frau Prof. Szagun, ich danke Ihnen sehr für die Erläuterungen. Ich wünsche Ihnen für die neuen Studien alles Gute. Ich hoffe doch sehr, dass wir die Ergebnisse der Studien, nach Abschluss, auch hier in Deutschland zu lesen bekommen. Vielleicht wird sich ja dann in Deutschland in Bezug auf die Benutzung der Deutschen Gebärdensprache für alle Kinder mit Hörbehinderung etwas ändern.
Das Interview wurde geführt von Karin Kestner
Stellungnahme von Prof. Lenarz (MHH Hannover) zu diesem Interview
Gegenstellungnahme von Prof. Szagun