Von Birger Kollmeier
Konventionelle Hörgeräte sind in den letzten Jahren in ihrer Leistungsfähigkeit zwar deutlich verbessert worden. Dennoch bedeuten sie auch heute noch in wesentlichen, für den Hörgeschädigten problematischen Situationen keine echte Verbesserung: Sie sind in ihrer Funktion der unseres natürlichen Ohres zu wenig angepaßt. In einem von der Europäischen Union (EU) geförderten Verbundprojekt arbeiten Forscher und Industrie aus Deutschland, England und den Niederlanden an der Entwicklung intelligenter Hörgeräte nach neuesten audiologischen Erkenntnissen, dem Signalverarbeitungs-Hörgerät.
"Warum werden Hörgeräte immer teurer und Walkmen immer billiger?" Diese Frage von EU-Kommissar Martin Bangemann zeigt, wie wenig über die Probleme bei der Behandlung von Hörstörungen bekannt ist. Die Brille ist als Mode-Accessoire längst gesellschaftlich akzeptiert. Dem Hörgerät hingegen haftet immer noch das Image der Prothese an, die man am liebsten verstecken möchte oder erst gar nicht trägt. Dabei sind die Auswirkungen von Hörstörungen, wie man bei Kleinkindern besonders kraß feststellen kann, viel gravierender als bei Sehstörungen: Im Gegensatz zu blind geborenen Kindern können taub geborene Kinder nämlich nur sehr mühsam mit ihrer Umwelt kommunizieren. Daraus entstehen bleibende Entwicklungsdefekte, wenn die Hörstörung nicht rechtzeitig (am besten innerhalb des ersten Lebensjahres) behandelt wird. Deshalb gilt: Wer blind ist, verliert den Bezug zu den Dingen, wer jedoch taub ist, den Bezug zu den Menschen.
Auch ältere Personen mit Hörproblemen neigen dazu, sich aus ihrem sozialen Umfeld zurückzuziehen und werden dadurch schnell isoliert. Die Ursache dafür ist insbesondere der sogenannte gestörte Cocktail-Party-Effekt, das heißt die verloren gegangene Fähigkeit, sich in einer Situation mit vielen Störgeräuschen auf einen Sprecher zu konzentrieren und alle anderen Schallsignale zu unterdrücken. Dieses Problem ist weit verbreitet: Etwa 15 Prozent unserer Bevölkerung weist schon heute einen solchen behandlungsbedürftigen Hörverlust auf. Und dieser Anteil wird weiter ansteigen - aufgrund der hohen Lärmbelastung Jugendlicher etwa in Diskotheken oder durch tragbare Kassettenrecorder mit Kopfhörern und durch das zunehmende Durchschnittsalter der Bevölkerung.
Herkömmliche Hörgeräte können an dem Problem des gestörten Cocktail-Party-Effektes nur sehr wenig ändern, weil sie den zugrundeliegenden Defekt, zum Beispiel eine Innenohr-Schwerhörigkeit, nicht beheben. Mit ihnen kann zwar eine Schalleitungs-Schwerhörigkeit als Folge von Erkrankungen des Außen- oder Mittelohrs, aufgrund derer der Luftschall nur abgeschwächt in das Innenohr gelangt, gut behandelt werden. Eine Therapie der erheblich häufigeren Schallempfindungs-Schwerhörigkeit, die meist auf Schädigungen des Innenohrs beruht, ist dagegen sehr viel schwieriger. Bei dieser Erkrankung tritt nämlich zusätzlich zu der reinen Abschwächung des Schalls eine Verzerrung der wahrgenommenen Schallanteile auf. Diese macht sich neben den schon erwähnten Störungen des Sprachverstehens bei Störgeräuschen zudem durch das Phänomen des sogenannten Recruitment bemerkbar: Davon betroffene innenohrschwerhörige Patienten klagen häufig darüber, daß sie bei niedriger Lautstärke noch nichts hören. Wird die Sprachlautstärke jedoch nur leicht angehoben, erreicht sie für die Betroffenen ganz plötzlich die Schmerzgrenze (nach zu leise kommt gleich zu laut).
Verglichen mit der optischen Wahrnehmung entspricht die Schalleitungs-Schwerhörigkeit dem Betrachten der Umwelt durch eine Sonnenbrille. Ein Hörgerät wirkt da wie ein zusätzlicher Scheinwerfer, der diesen Defekt wieder ausgleicht. Eine Schallempfindungs-Schwerhörigkeit hingegen gleicht dem Sehen durch eine abgedunkelte Milchglasscheibe, deren größter Teil zudem so stark geschwärzt ist, daß nur noch ein kleiner Blickwinkel bleibt. Daß ein Scheinwerfer in dieser Situation keine signifikante Verbesserung bringt, liegt auf der Hand.
Die Hörgeräte-Industrie hat in den letzten Jahren zwar erhebliche Anstrengungen unternommen, um die Leistungsfähigkeit ihrer Produkte durch die Einführung der Digitaltechnik zu verbessern und ihre kosmetische Akzeptanz durch die Miniaturisierung der einzelnen Komponenten zu erhöhen. So weist die neueste Generation volldigitaler Hörgeräte etwa die Rechenkapazität eines Pentium-Prozessors moderner Laptops auf - mit einer Betriebsspannung von einem Volt und gespeist von einer winzigen Batterie für Laufzeiten von mehren Tagen. Dennoch können auch diese modernen Geräte das Hören bei Störgeräuschen lediglich in akustisch einfachen Situationen verbessern, wenn sich nämlich der Störschall und das gewünschte Sprachsignal stark unterscheiden. Dies ist zum Beispiel bei einer Unterhaltung der Fall, bei der aus einiger Entfernung tieffrequenter, zeitlich unveränderlicher Straßenverkehrslärm dringt. Zusätzlich kann ein zuschaltbares Richtmikrophon bei hohen Frequenzen beispielsweise von vorne einfallenden Schall, der verständlich sein soll (Nutzschall), gegenüber dem von verschiedenen Richtungen einfallenden Störschall etwas hervorheben.
Das Problem des Recruitment versuchen die Hersteller zumeist durch Aufspalten des Schalls in nur wenige Frequenzbereiche zu lösen. Innerhalb derer wird der Schall jeweils so verstärkt, daß er für einen mittelschwer Hörgeschädigten die richtige Lautstärke erreicht. Das bedeutet für den Betroffenen zwar eine Linderung seines Hörproblems, die vollmundigen Werbeversprechen mancher Hersteller von einer vollständigen Kompensation der Hörstörung und einem "Hören wie früher" erfüllen sich damit jedoch nicht. So ist beispielsweise noch keine Verbesserung des Sprachverstehens in akustisch schwierigen Situationen möglich, bei denen ein Normalhörender wesentlich weniger Probleme hat (zum Beispiel bei Störungen des Nutzschalls durch mehrere zusätzliche Sprecher in der typischen Cocktail-Party-Situation). Auch das Problem der Lautstärkeempfindung beim Recruitment-Phänomen kann nur ansatzweise kompensiert werden, weil eine Aufspaltung in eine große Zahl von Kanälen, wie sie der Auflösung unseres Ohres entspricht, fehlt. Andere Hörprobleme, wie etwa Störungen des räumlichen (binauralen) Hörens, das durch das Zusammenwirken beider Ohren im Gehirn charakterisiert ist, oder die Anpassung (Adaptation) des Hörvorgangs an die jeweilige akustische Umgebungs-Situation, werden zudem völlig ausgeblendet.
Wesentliche Fortschritte in der Hörgeräteentwicklung, die so verschiedene Disziplinen wie Hals-Nasen-Ohren-Medizin, Audiologie, Psychologie, Ingenieurswissenschaften und medizinische Physik zusammenführt, kann nur ein besseres Verständnis der Funktionsweise des geschädigten Hörsystems in Verbindung mit der Erforschung der Interaktion zwischen (im Labor entwickelten) intelligenten Hörgeräte-Prototypen mit dem gestörten Hörvermögen freiwilliger Patienten bringen.
Genau hier setzt ein von der EU gefördertes Verbundprojekt an: Mit universitären Partnern aus Holland (Universitäten Amsterdam und Rotterdam), England (Universität Cambridge) und Deutschland (Universitäten Oldenburg und Gießen, Fachhochule Nürnberg) sowie den Industriepartnern Siemens Audiologische Technik (Erlangen) und Philips Hearing Instruments (Eindhoven) werden Verarbeitungsverfahren (Algorithmen) für intelligente Hörgeräte entwickelt und anhand von tragbaren Taschengeräten im Labor und im Feld erprobt.
Dafür entwarf die Universität Oldenburg, basierend auf psychoakustischen beziehungsweise audiologischen Grundlagenuntersuchungen, die Hörgeräte-Algorithmen. Die Fachhochschule Nürnberg realisierte diese Verfahren in einem von ihr entwickelten digitalen Prototyp, dem Signalverarbeitungs-Hörgerät, und an der Universität Gießen wurden Labor- und Feldtests mit Nutzern dieser Geräte (normalhörende und schwerhörende Probanden) durchgeführt. Für diese Arbeiten war das vom Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF) geförderte Verbundprojekt zur Hörgeräte-Entwicklung eine wesentliche Voraussetzung. So konnten wir unser Wissen über die audiologischen Grundlagen von Hörschäden soweit erweitern, daß auf der Basis weitere vielversprechende Algorithmen entwickelt und in der Praxis getestet werden konnten.
Besonders hervorzuheben ist die konsequente binaurale (zweiohrige) Auslegung der Signalverarbeitung: Dabei wird das Schallsignal, genau wie in unserem normalen Hörsystem, mit einem Miniatur-Mikrophon sowohl vom linken als auch vom rechten Ohr aufgenommen und nicht etwa auf jeder Seite getrennt oder nur einseitig (monaural) verarbeitet, wie dies in allen konventionellen Hörgeräten noch der Fall ist. Statt dessen wird in einem gemeinsamen, zentralen Prozessor der Schall so aufgearbeitet, daß er beiden Ohren wieder akustisch dargeboten werden kann und zugleich eine Unterstützung des räumlichen Hörens und der räumlichen Trennung von unterschiedlichen Schallquellen bewirkt. Dazu wird das Signal von Mikrophonen an beiden Ohren aufgenommen und mit je einem Analog-Digital-Wandler in digitale Signale umgewandelt, die der Computer verarbeiten kann. Als nächster Schritt der digitalen Signalverarbeitung folgt eine Frequenzanalyse (Kurzzeit-Fourier-Transformation), die in etwa der des menschlichen Gehörs entspricht. Anschließend werden in jedem Frequenzband die interaurale (zwischen beiden Ohren anliegende) Pegeldifferenz, Phasendifferenz und Kohärenz ermittelt. Sie dienen als Maß dafür, ob der Schall in dem jeweiligen Frequenzband von vorne oder von der Seite einfällt oder ob ein diffuses Nachhall-Signal vorliegt.
Mit diesen Kenngrößen kann das von vorne einfallende Signal verstärkt, die seitlich einfallenden Schallsignale und der Nachhall abgeschwächt werden. Damit wird ein scharfes Richtungsfilter erreicht, das nur Schall aus der Blickrichtung des Patienten (Geradeaus-Richtung) passieren läßt und sämtliche unerwünschten Schallanteile unterdrückt. Diese Signalverarbeitungstechniken ermöglichen eine deutliche Verbesserung der Sprachverständlichkeit bei Störgeräuschen und Nachhalleinfluß für die meisten der bisher getesteten Schwerhörenden. Je nach Stör- und Nutzschall-Situation beträgt der Gewinn im Signal-Rausch-Verhältnis zwischen zwei und zehn Dezibel, was zu einer Verbesserung der Verständlichkeit bei fließender Sprache von 20 bis 80 Prozent führen kann.
Um auch das Recruitment-Phänomen zu kompensieren, wird das störgeräusch-unterdrückte Signal in einer Vielzahl von Frequenzbändern bearbeitet, die in etwa der Frequenzauflösung des menschlichen Ohres entsprechen. Ziel der Verstärkung in jedem dieser Frequenzbänder ist, den Lautstärkeeindruck, den ein Normalhörender in derselben Situation hat, für den Schwerhörenden wiederherzustellen. Dieser auf dem Konzept der Lautheit basierenden Verstärkung liegen grundlegende Funktionen des Gehörs aus der Psychoakustik zugrunde, so daß die entsprechende Berechnung zeit- und frequenzabhängiger Verstärkungswerte optimal erfolgen kann. Laborexperimente zeigten, daß eine Kopplung von effizienten Störgeräusch-Unterdrückungs-Algorithmen mit einer derartigen Multikanal-Dynamikkompression für eine Reihe von alltäglichen, aber akustisch schwierigen Situationen vorteilhaft ist.
Gleichzeitig muß jedoch auch sichergestellt werden, daß die Algorithmen nicht zuviel des Guten tun: So ist der binaurale Richtungsfilter-Algorithmus nur dann zu gebrauchen, wenn auch wirklich ein Störgeräusch aus einer anderen Richtung vorliegt und nicht allzuviel Nachhall die akustische Situation weiter kompliziert.
Deshalb wird derzeit an einer intelligenten Klassifizierung akustischer Situationen gearbeitet, anhand derer die jeweils optimal an die Situation angepaßten Algorithmen aktiviert beziehungsweise optimal gesteuert werden können. Dadurch wird auch vermieden, daß der Patient sich (durch eine scharfe Richtungswirkung der binauralen Signalverarbeitung) "akustisch eingesperrt" fühlt, obwohl er in Wirklichkeit für alle Schalleinfalls-Richtungen offen sein will. Die bisherigen Entwicklungen, die in diese Richtung zielen, sind sehr erfolgversprechend.
Noch scheint der Schritt von den im Rahmen des europäischen Verbundprojektes behandelten Algorithmen und Hörgeräten in Walkman-Format hin zu Sub-Miniatur-Hörgeräten, die im äußeren Gehörgang Platz finden, beträchtlich. Doch die Entwicklung in der Mikroelektronik und auf dem Computersektor zeigt, daß die Miniaturisierung und Leistungssteigerung der Hardware aufgrund des allgemeinen technologischen Fortschrittes nicht das entscheidende Problem für die Zukunft ist. Die Software und das ihr zugrundeliegende Systemwissen stellen vielmehr den Schlüssel für den zukünftigen Markterfolg dar. Insofern wird die Hörgeräte-Industrie in der Zukunft ihre Anstrengungen noch stärker auf die Software-Systementwicklung ausrichten, um zu audiologischen, dem Menschen angepaßten Lösungen zu gelangen.
Als hilfreich und effizient hat sich hierbei die Forschungsförderung des BMBF erwiesen, die teilweise die anwendungsorientierte Grundlagenforschung nach neuen technischen Lösungswegen effizient fördert. Im Gegensatz dazu steht die starke Produktorientierung der EU-Förderpraxis, die in Kombination mit dem wesentlich höheren bürokratischen Aufwand und dem zum Teil ineffizienten und undurchsichtigen Vergabeverfahren der Mittel nur einen begrenzten Fortschritt pro Zeit- und Geldeinheit bewirkt. Dennoch ist das Ziel, die europäische Spitzenstellung auf dem Markt innovativer Hörgeräte-Systeme zu halten und auszubauen, definitiv diese Anstrengungen wert, zumal dies dem Wohl eines immer größeren Teils unserer Bevölkerung dient.
Prof. Dr. Dr. Birger Kollmeier studierte Physik und Medizin in Göttingen und promovierte über Psychoakustik beziehungsweise Sprachverarbeitung. Seit 1993 ist er Professor für Angewandte Physik und Experimentalphysik an der Universität Oldenburg und Leiter der Arbeitsgruppe Medizinische Physik. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sprachperzeption, Psychoakustik, digitale Signalverarbeitung und medizinisch-physikalische Diagnostik.
Quelle: Spektrum der Wissenschaft 2/99, A15
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