Karin Kestner zum Artikel vom 05.09.2000

Brief an Prof. Gottfried Diller

 

Sehr geehrter Herr Prof. Diller,

mit Erstaunen über soviel Ignoranz gegenüber der Sprache und Kultur der Gehörlosen kann ich nur den Kopf schütteln!

Sie äußern sich wörtlich in dem Artikel: 

"Von unseren implantierten Kindern werden 10 bis 12 im Jahr in die Regelschule aufgenommen, das meldet überhaupt niemand mehr."

Es entspricht nicht den Tatsachen, dass niemand mehr über die gehörlosen, implantierten Kinder redet. Täglich finde ich etwas in der Presse, Meldungen über gelungene Implantationen, täglich über die strahlenden Eltern, wenn sie merken, dass ihr Kind hört, was auch immer sie hören mögen. Und oft, sehr oft auch über die Paradebeispiele der Implantierkunst, die zur Regelschule gehen. Z.B. Stern TV!

Tatsächlich ist es aber so, dass niemand über die psychischen Probleme dieser Kinder spricht, dieser Kinder, die in Wirklichkeit nicht integriert, sondern isoliert sind. Sie leben unter hörenden Kindern, die nichts über die Gehörlosigkeit, Gebärdensprache etc. wissen! Oft - immer -  sicher von Fall zu Fall verschieden, müssen die Kinder von den Lippen ihrer Mitschüler ablesen, wie das natürlich auch bei der Gebärdensprache nötig ist, nur dass es keine entspannte Kommunikation ist, sondern eine angestrengte!

Sie werden zitiert: 

Er weiß um die Diskriminierung von gebärdenden Gehörlosen in der Gesellschaft, um die Schwierigkeiten sich gebärdend eine Ausbildung, einen Beruf, ein normales Leben zu erobern. Für Diller besteht der einzige Weg aus der Isolation im Implantat.

Entschuldigung, wenn ich frage, - wie alt sind Sie? Sehen Sie nicht die Entwicklung? Sehen Sie nicht die vielen Hörenden, die fasziniert von der Gebärdensprache in die Kurse rennen, um sich endlich auch so ausdrücken zu können wie gehörlose Menschen. Menschen, die mich bei Übersetzungen im Theater sehen, kommen auf mich zu und sagen, sie fühlen die Sprache körperlich, sind gefangen von ihrer Schönheit und Eleganz, freuen sich auf ein nächstes Mal, wenn Sprache ihnen dargeboten wird, die alles auf der Bühne noch verstärkt! Gehörlose werden nicht mehr angestarrt, weil es befremdlich wirkt, sie werden neidvoll angeschaut, weil es eine schöne, ausdrucksstarke Sprache ist! Nur Kleingeister, die es sicher auch noch gibt, immer geben wird, schauen neugierig oder diskriminierend!

Die Schwierigkeiten der Gehörlosen in Ausbildung und Beruf kommen nicht von ungefähr, und diese Probleme sehe ich auch. Der Grund aber ist ein anderer als die angeblich nur bruchstückhafte Sprache und deren "abartiges Aussehen", denn man kann alles mit ihr ausdrücken und wie oben beschrieben ist sie eine wunderschöne Sprache! Der Grund ist die jahrzehntelange Verleumdung einer Sprache! Der jahrzehntelange Streit, der in der Öffentlichkeit zum Nachteil der Gehörlosen ausgetragen wurde zwischen Pädagogen und Gebärdensprachbefürwortern.

Sie sagen:

"Es bestehet ein Grundrecht darauf zu hören und den Kindern soviel Hören zu ermöglichen, wie es eben nur geht.

Sehr geehrter Herr Diller, es besteht ein Grundrecht auf Sprache! Für die Gehörlosen ein Grundrecht auf Gebärdensprache!

Sie sagen:

Und wenn ich jetzt erlebe, dass ich mit ehemaligen Schülern telefonieren kann, dann ist das für mich die größte Bestätigung.

Es mag sicher auch diese Fälle geben, aber es gibt sicher auch genug Fälle, in denen dieses Telefonieren nicht möglich ist! Machen Sie Eltern doch bitte keine zu großen Hoffnungen, die nur zu Enttäuschungen führen können. Das Annehmen einer Behinderung, das Annehmen eines Kindes mit einem Sinn weniger, muss bei den Eltern gefördert werden - Erst dann kann man darüber sprechen, ob Hörhilfen in dieser Form nötig sind!

Sie werden zitiert:

Einen parallelen Unterricht in Gebärden -und Lautsprache lehnt er ab: Sie können nicht gleichzeitig Klavier spielen und Skifahren lernen.

Nun Herr Diller, ich weiß, dass man vormittags Klavier spielen lernen  kann, und nachmittags kann man Skilaufen lernen! Ich weiß, dass diese Kinder vormittags Wissen über die Zusammenhänge des Lebens lernen, dass ihnen Wissen vermittelt wird, wie hörenden Kindern auch. Diese Kinder lernen nicht mehr nur die Gebärdensprache oder Artikulation! Diese Kinder können ihre Sprache schon, wie auch hörende Kinder ihre Sprache beherrschen. Diesen Kindern werden die gleichen Unterrichtsstoffe beigebracht wie allen anderen, und darauf haben sie ein Grund-Recht!

Diese Kinder brauchen sich später in der Gesellschaft nicht zu verstecken- und schon gar nicht unauffällig benehmen. Wo sind wir, wo leben wir, wenn sich Behinderte wieder zu Hause verstecken müssen, um nicht unangenehm aufzufallen und das Feingefühl der ach so "Normalen" nicht stören dürfen?

Wenn sie über Körperbehinderte in dieser Weise sprechen würden, vielleicht in diesem Bereich arbeiten würden, dann bekämen Sie, wie es anderen Professoren in Deutschland passiert, auf den Podien der Universitäten Sprechverbot!

Ich weiß, ich werde Ihre Meinung mit meinem Schreiben nicht ändern, aber vielleicht könnten Sie sich in Zukunft überlegen, ob Sie sich in der Öffentlichkeit über das Engagement von Menschen, die wissen was sie tun,  so derart herablassend äußern!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Mit freundlichen Grüßen
Karin Kestner

 

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