Kind gehörlos?

Joana Latein berichtet weiter: Teil 2

Wie wir zur Entscheidung für die Gebärdensprache und gegen ein CI kamen
 

Wie bereits “angekündigt”, hier nun die Fortsetzung meines 1. Elternberichtes.

“Alles hängt noch in der Schwebe” waren meine letzten Worte.
Ich meinte damals, dass mein Mann und ich uns nicht sicher waren – CI, ja oder nein.
Damit meine ich, er wusste auf einmal wieder nicht, ob ein CI nicht doch die bessere Lösung wäre. Für mich war nach wie vor klar, dass ich meine Tochter genau so und nicht anders haben wollte.
Gehörlos!
Meine Gedanken gingen in eine ganz an der Richtung als die Gedanken meines Mannes.. Er wollte, dass sie hört, mir war es nicht wichtig. Das “Hören” nahm noch einen immensen Platz in seinem Leben ein. Es gab Tage, an denen ich wusste, dass ich gegen ihn entscheiden würde, falls sich seine Meinung nicht ändern sollte. Eines Abends, fing ich an zu weinen, weil ich meine Tochter einfach so behalten wollte, wie sie ist. Nicht ein “umoperiertes” Kind, mit irgendwelchen künstlichen Teilen im Kopf. Nie zweifelte ich daran, dass mein Mann Stella  liebt, und trotzdem sah ich, wie sehr er sich noch dagegen sträubte, die Taubheit anzunehmen. Wir sollten doch ein Kind mit Implantat kennen lernen, sagte er mir und fand auch eine Familie, die wir besuchten. Dieses Mädchen konnte mit dem CI Sprache verstehen und auch sprechen. Aber die Mutter wollte uns weder zu-, noch abraten. In dieser Familie kam das Kind zum großen Teil über Gebärden zur Lautsprache. Aber ich wollte es nicht! Mein Mann war trotz des “positiven”  Beispieles auch nicht mehr so ganz überzeugt. Die Operation, die von den Ärzten “Routineoperation” genannt wird, war in unseren Augen keine solche. Eine OP am Kopf, obwohl das Kind absolut gesund ist. Weshalb um Gottes Willen, sollte man ihr das antun? Vor allen Dingen kann Stella nicht selber entscheiden  und wir haben dieses Recht nicht, denn es geht hier nicht um “lebenserhaltende Maßnahmen”. 

Mein Mann verstand
Wir können Stella doch auch lieben wie sie ist. Und man sollte sich freimachen von all den Vorstellungen und Idealen an denen man hängt, es aus einer anderen Perspektive sehen. Für das Kind ist es nicht, "ach so grauenvoll", nichts zu hören. Nur für Eltern ist es schlimm und für die hörende Umwelt. Wenn Eltern ihr Menschenbild ändern und die Gehörlosigkeit annehmen und verstehen lernen, wird dem Kind die ganze Welt offen stehen. Wenn wir nicht zu unserem Kind stehen, wie sollen es die Mitmenschen können? All das und Vieles mehr, ging mir durch den Kopf und zum Glück verstand es mein Mann dann auch  - und meine Jungs waren sowieso gegen ein CI! Sie wollten Stella nicht mit so einem „Ding“ am Kopf, sondern so wie sie war.  Kinder entscheiden da ganz einfach aus dem Bauch heraus, ohne das "für und wieder" abzuwägen wie wir Erwachsenen. Das größtmögliche Risiko der OP gegen den kleinstmöglichen Erfolg abzuwägen war unsere Aufgabe. Durch ein CI besteht ja nie die Möglichkeit zwischen “nicht hören” und “gut hören” zu entscheiden, im besten Fall hat man ein schwerhöriges Kind, wenn überhaupt.

Viele Mails und ein fremder Planet
Ich hatte das große Glück, sehr viele positive Antworten auf meinen ersten Bericht zu erhalten und da durch auch einige sehr liebe Menschen kennen zu lernen. Literatur über Gehörlosigkeit und ihre Geschichte gehörten dazu und auch unendlich viele Mails, und Telefonate. Aber was am aller wichtigsten war, gehörlose Menschen kennen zu  lernen. Wir besuchten das Gehörlosenzentrum München. Das erste Mal war ganz schön anstrengend  (ich brauchte 3 Kopfschmerztabletten) und danach fühlten wir uns, als ob wir gerade von einem anderem Planeten gekommen wären. Wir mussten uns enorm anstrengen, um auch nur ansatzweise manche Gebärden zu verstehen. Erst dann konnte ich nachempfinden, wie sich ein gehörloser Mensch unter Hörenden fühlen muss. Oft nicht verstehen was gesagt wird, sich ständig konzentrieren zu müssen, um vielleicht auch nur ein bisschen mit zu kommen. Wir wurden aber liebevoll empfangen und das linderte unsere Aufregung. Als wir gingen, waren wir fix und fertig. Es war alles so neu für uns, dass wir einige Zeit brauchten, um alles zu verarbeiten.

Gehörlosigkeit begreifen
Stellas Gehörlosigkeit war bis dahin etwas gewesen, dass noch keine so festen Formen angenommen hatte. Eigentlich hatten wir überhaupt kein wirkliches Bild von gehörlosen Menschen. Gut, ich hatte einiges gelesen, viele, viele Mails geschrieben, aber ich hatte noch nie persönliche Kontakte. Bis eben an diesem Tag. Kurz danach fuhren wir ohne die Kinder in den Urlaub, um Abstand zu gewinnen und unsere Kraftdepots aufzufüllen. Ich nahm mir reichlich Bücher mit, entschloss mich aber nur zwei davon zu lesen.

Harlan Lanes “Mit der Seele hören”  und  “Auf Pfaden gehen”.

Ich  regte mich unendlich auf, als ich anfing zu lesen. All die Ungerechtigkeiten, Grausamkeiten, die gehörlosen Kindern und auch Erwachsenen angetan wurden, brachten mich fast um den Verstand, denn ich sah ständig Stella dabei vor Augen. Wir hatten vor, nach unserem Urlaub eine letzte Untersuchung vornehmen zu lassen. Eine Kernspin und noch eine BERA, allerdings in einem anderen Krankenhaus. Mein Mann konnte es vor unserem Urlaub nicht lassen, doch noch einen anderen Arzt zu befragen. Ich konnte nie verstehen weshalb, aber wir gingen zusammen in das Krankenhaus “Rechts der Isar”. Diese Ärztin war sehr nett, aber wir erfuhren auch nur das, was wir sowieso schon wussten. Wir vereinbarten einen weiteren Termin für September.  Wir nahmen ihn aber nicht wahr.

Jetzt müssen wir lernen
Nach unserem Urlaub nahm ich meine „Arbeit” wieder auf. Ich meldete uns zum Gebärdensprachkurs an, der bald  beginnt und lernte noch einige liebe Menschen kennen, die mir mit Rat und Tat  zur Seite standen. Stella aber war seit einiger Zeit verändert. Sie war zwar immer noch ein sehr braves und pflegeleichtes Baby, aber sie vermisste etwas.  Sie schlug oft ohne erkenntlichen Grund mit dem Kopf auf den Boden. Ich merkte, dass sie komplett unterfordert war, sie wollte sich mitteilen und konnte es nicht oder wir verstanden sie nicht. Es war offensichtlich, dass sie “Sprache” brauchte, Gebärdensprache! Da ich mit Mails, Telefonaten und Informationsbeschaffung so ausgefüllt war, versäumte ich es mehr Gebärden zu lernen. Ich stand ständig unter dem Druck, nicht genügend für sie zu tun, ihr zu wenig anzubieten. Nicht zu vergessen, dass meine Söhne auch  sehr viel Aufmerksamkeit brauchen und auch lernen müssen mit ihrer Schwester zu kommunizieren. Das Krankenhaus in dem wir die erste BERA hatten durchführen lassen, drängte mich in dieser Zeit, einen Teil meines Berichtes zu ändern (es ging um das Implantationsalter bei Säuglingen) und ferner, den Namen der Professorin zu streichen, die uns die erste Diagnose mitteilte. Sie meinten, es sei Rufschädigung und man teilte mir mit, dass, sie den Fall schon der Rechtsabteilung übergeben hätten. Es wurde zusätzlich ein Brief an die Frühförderstelle geschickt, in dem außer der Diagnose noch folgender Absatz stand:

“Die verleumderischen Äußerungen über Fr. Prof. Schorn, die Frau L. im Internet geäußert hat, wurden mit der Rechtsabteilung der Universität besprochen”.

Also sollte offensichtlich die Frühförderstelle negativ beeinflusst werden und ich eine schlechte Position, von Anfang an haben. Anders kann ich mir diesen Absatz nicht erklären. Das war aber noch nicht alles. So etwa zehn Tage später, erhielt ich wieder einen Brief. Diesmal schrieb mir der Leitende Oberarzt der HNO Abteilung, besagter Klinik. Er versuchte mir zu erklären, dass ein CI doch die Möglichkeit schlechthin sei und ich mir gut überlegen sollte, wie ich mich entscheide. Er erklärte mir, wie gut doch die Klinik im Team arbeitet, und dass die Klinik nicht nur aus einer Person bestünde und wie viel bessere Möglichkeiten meine Tochter mit CI hätte.
Es ist für Ärzte wohl schwer zu  verstehen, dass manche Eltern tatsächlich nicht den von der Medizin vorgesehenen Weg gehen möchten.
 

Die Kulturtage der Gehörlosen
Dann waren da noch die Kulturtage. Eine Flut an Eindrücken brach auf mich ein. Was ich dort zu sehen bekam, bestärkte mich  mehr und mehr, dass unsere  Entscheidung die richtige war! Eigentlich wollte ich auf so viele Vorträge gehen, aber ich war so gebannt von den Menschen um mich herum, dass ich es dann doch nur zu einem einzigen Vortrag schaffte. So viele gehörlose Menschen auf einmal, ich konnte es nicht glauben. Hunderte von Händen, die herumwirbelten, Menschen in Kommunikation. Ich konnte gar nicht genug davon bekommen, zu beobachten und zu staunen. Das sollten also die “armen” Gehörlosen sein, die ein ach so trauriges Leben führen, weil sie nicht hören können? Davor also hatten mich so viele Ärzte gewarnt? Das war dann also die Isolation?

Das schönste Erlebnis war der “Aufstand”. Es sollte ein Film gezeigt werden, der Raum aber war viel zu klein für die Menschenmenge und so machte sich die ganze Traube auf den Weg, um zu protestieren.  Man versammelte sich vor dem Stand des Deutschen Gehörlosen Bundes und dann ging es schon los. Eigentlich standen überall Menschen. Auf der Treppe, auf den Geländern, überall. Jeder gebärdete mit jedem, überall flogen die Hände und meine Augen kamen kaum noch mit. Ich grinste die ganze Zeit, verstand nur Bahnhof, aber genoss diesen außergewöhnlichen Moment. Stella durfte dann am Samstag auch mitkommen. Eigentlich ist sie zur Zeit mit dem Laufen lernen so beschäftigt, dass sie nichts anderes machen möchte, außer an der Hand ziellos umher zu rennen. Aber kaum waren wir auf den Kulturtagen, nahm ich sie auf den Arm und sie war ganz still und ruhig. Ihre Augen wanderten umher und sie konnte sich ganz offensichtlich nicht genug von all den Gebärden bekommen. Ich sah sofort, hier gehört sie hin, hier spricht man ihre Sprache. Und sie empfand das genauso! Endlich etwas, was sie begreifen konnte. Auch wenn sie den Sinn der Gebärden (sie ist ja erst 13 Monate alt ) nicht verstand, so sah ich ihr doch an, dass sie die visuelle Sprache aufsaugte wie ein Schwamm. Endlich nicht nur sich bewegende Münder, sondern Hände und Mimik, die sprachen. Es war eine zutiefst bewegende Erfahrung. Am gleichen Abend machte sie ihre ersten Schritte!
 

Der richtige Weg
Stella versteht schon einige Gebärden, die kleinen Händchen wollen aber noch nicht so ganz wie sie möchte. Sie versucht zwar auch schon etwas in die Luft zu gebärden, aber man erkennt nicht was es sein soll. Noch nicht!
Es gibt eine Krabbelgruppe, gehörlose Kinder, gehörlose und hörende Mütter. Stella, und jedes gehörlose Kind, (so fern es nicht in einer gl Familie aufwächst) sollte Kontakte zu andern gl  Kindern und Erwachsenen bekommen und das so bald wie möglich. Unser Gebärdensprachkurs beginnt nächste Woche, ich kann es kaum erwarten anzufangen, denn auch mich plagen zwischenzeitlich Gewissensbisse. Gewissensbisse, dass ich nicht genug für meine Tochter tue, ich ihr nicht so viele Gebärden anbieten kann wie sie es bräuchte. Angst zu haben, sie in Ihrer Entwicklung nicht genug zu fördern usw. Aber das sind zum Glück nur kurze Phasen, und wenn ich mir meine kleine Tochter so an sehe, wie sie mich anlacht und sich ihres Lebens freut, dann verfliegen diese Gedanken meist so schnell, wie sie gekommen sind.

Ich weiß genau, für Stella und unsere ganze Familie ist dies der richtige Weg.
 
Fortsetzung folgt.

Joana Latein

verantwortlich i.S.d.P: Joana und Jonas Latein

Emails an Frau Latein sind ausdrücklich erwünscht!

 


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